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Klassischer Fehler IX: Einen Angeklagten kann man nicht von der Hauptverhandlung „freistellen“

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Ich habe länger überlegt. Ist es nun ein „klassischer Fehler“ oder nicht, was zur Aufhebung eines Urteils des LG Hamburg durch den BGH, Beschl. v. 06.05.2014 – 5 StR 160/14 geführt hat. Ich habe mich dann für die Antwort „Jein“ entschieden. Ein „klassischer Fehler“ ist sicherlich die dort vom BGH monierte und dann zur Grundlage der Aufhebung gemachte Verhandlung ohne die Angeklagte. Nicht ganz so klassisch ist m.E. die Begründung der Strafkammer, die dazu geführt hatte, dass die Angeklagte in der Hauptverhandlung nicht anwesend war. Sie hatte die Angeklagte nämlich von der Hauptverhandlung „frei gestellt“. Das habe ich bisher so noch nicht gelesen. Der BGH wohl auch nicht, jedenfalls hat er kurz und zackig aufgehoben, und zwar mit folgenden Ausführungen:

„Die Revision hat mit der Verfahrensrüge Er-folg (§ 349 Abs. 4 StPO), wesentliche Teile der am 30. Juli 2013 begonnenen Hauptverhandlung seien zu Unrecht in Abwesenheit der Angeklagten durchgeführt worden (§ 230 Abs. 1, § 231 Abs. 2, § 338 Nr. 5 StPO).

Insofern hat der Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift vom 1. April 2014 dargelegt:

Die Verfahrensrüge … dringt im Hinblick auf das Geschehen am 21. Ok-tober2013 durch. Das Landgericht hat seine Entscheidung über die Verhandlung ohne die Angeklagte ersichtlich auf § 231 Abs. 2 StPO gestützt. Nach dieser Vorschrift hätte aber nur ohne die Angeklagte verhandelt werden dürfen, wenn sie der Fortsetzung der Hauptverhandlung eigenmächtig ferngeblieben wäre. Eine solche Eigenmächtigkeit hat die Strafkammer nicht dargelegt … Vielmehr hatte das Gericht der Angeklagten die weitere Teilnahme an der Hauptverhandlung ‚freigestellt‘. Die Voraussetzungen des § 231c StPO liegen nicht vor. Die Angeklagte war auch bei einem wesentlichen Teil der Hauptverhandlung – dem Schlussvortrag ihres Verteidigers (vgl. OLG Hamburg StV 1984, 111) – abwesend. Letztlich kann die Beanstandung nicht als ‚verwirkt‘ angesehen werden, da die Verteidigung das in Rede stehende Geschehen nicht provoziert hatte.“

Diesen zutreffenden Ausführungen schließt sich der Senat mit der Bemerkung an, dass der genannte Teil der Hauptverhandlung in deren weiterem Verlauf auch nicht im Beisein der Angeklagten wiederholt worden ist. Der Verfahrensverstoß macht die Aufhebung des Urteils notwendig (§ 338 Nr. 5 StPO).“

Und noch ein „Klassiker“Fehler: Die Beurlaubung des Angeklagten von der Hauptverhandlung (§ 231c-Verfahren)

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Manchmal ist es schon eigenartig, dass in zeitlich nahem Zusammenhang der BGH Fälle zu entscheiden hat, bei denen es sich (m.E.) um einen „Klassiker“ handelt. Nach „Nicht nur Verteidiger machen Fehler – Hier ein “Klassiker”Fehler eines LG: Die Abwesenheit des Angeklagten…..“ der BGH, Beschl. v. 10.04.2013 – 2 StR 19/13, also auch noch vom gleichen Tag wie 1 StR 11/13. Dieses Mal aber nicht die Abwesenheit des Angeklagten, sondern die des notwendigen Verteidigers – aufgrund einer Beurlaubung des Angeklagten durch das Gericht (§ 231c StPO).

Was ist passiert? Anhängig ist ein Verfahren wegen zahlreicher Diebstahlsvorwürfe. In der Hauptverhandlung am 2. 8. 2012

hat die Strafkammer während der Vernehmung des Zeugen KHK N. auf Antrag des Angeklagten D. beschlossen:

„Für die weitere Befragung des Zeugen durch Rechtsanwalt R. wird dem Angeklagten D. gestattet, insoweit nicht an der Hauptverhandlung teilzunehmen, weil ausschließlich Fragen erörtert werden, die den Ange-klagten Do. betreffen.“

Daraufhin verließen der Angeklagte D. und sein alleiniger Verteidiger, Rechtsanwalt Dr. D. , um 14.30 Uhr den Sitzungssaal. Der Zeuge N. erklärte sich weiter zur Sache. Auch der Mitangeklagte Do. machte Angaben zur Sache. Um 14.35 Uhr wurde die Sitzung unterbrochen und um 14.50 Uhr in Anwesenheit des Angeklagten D. und seines Verteidigers mit der weiteren Vernehmung des Zeugen N. fortgesetzt.“

Und das war es dann. Die Verfahrensrüge hat Erfolg. Auch hier der BGH kurz und zackig:

„3. Die Rüge ist auch begründet, da ein wesentlicher Teil der Hauptverhandlung vor dem Landgericht in Abwesenheit des notwendigen Verteidigers stattgefunden hat (§ 338 Nr. 5 StPO, § 140 Abs. 1 Nr. 1, § 145 StPO).

Wie aus dem Sitzungsprotokoll hervorgeht, war der Angeklagte D. , obgleich es sich um einen Fall notwendiger Verteidigung handelte (§ 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO), während eines Teils der Hauptverhandlung nicht verteidigt. Der Verteidiger des Angeklagten war während seiner Abwesenheit nicht gemäß § 231c StPO beurlaubt. Eine Beurlaubung des Verteidigers war weder beantragt noch von dem Beschluss des Landgerichts, mit dem es die Abwesenheit des Angeklagten während der Befragung des Zeugen N. durch Rechtsanwalt R. genehmigt hat, umfasst.

Während der Abwesenheit des Verteidigers hat der Zeuge N. ausgesagt und sich der Angeklagte Do. zur Sache eingelassen. Die Vernehmung von Zeugen stellt ebenso wie die Einlassung eines Mitangeklagten zur Sache einen wesentlichen Teil der Hauptverhandlung dar (BGH, Urteil vom 29. Juni 1956 – 2 StR 252/56, BGHSt 9, 243, 244; Urteil vom 9. Oktober 1985 – 3 StR 473/84, StV 1986, 287, 288; Meyer-Goßner StPO 55. Aufl. § 338 Rn. 37). Die Rüge scheitert auch nicht daran, dass es denkgesetzlich ausgeschlossen ist, dass das Urteil gegen den Angeklagten auf der Abwesenheit seines Verteidigers während dieses Verhandlungsteils beruht (vgl. BGH, Be-schluss vom 13. April 2010 – 3 StR 24/10, StV 2011, 650; Urteil vom 28. Juli 2010 – 1 StR 643/09, NStZ 2011, 233, 234). Dies wäre nur dann der Fall, wenn der in Abwesenheit erörterte Verfahrensstoff auch nicht nur mittelbar die gegen den Angeklagten erhobenen Vorwürfe berührte und damit keinen auch nur potentiellen Einfluss auf den Schuld- oder Rechtsfolgenausspruch gegen den Angeklagten haben könnte (vgl. auch BGH, Beschluss vom 16. Februar 2012 – 3 StR 462/11, NStZ 2012, 463). Da vorliegend der Zeuge KHK N. zum Nachtatverhalten des Angeklagten D. bei der Durchsuchung des Bankschließfachs Angaben gemacht hat, die das Landgericht ausweislich der Urteilsgründe zu Lasten des Angeklagten D. gewertet hat (UA S. 54), lässt sich schon deshalb nicht ausschließen, dass der Angeklagte von dem in Abwe-senheit des Verteidigers stattgefundenen Verhandlungsteil betroffen war.“

Auch zum „231c-Verfahren“ gilt: Auch das Verfahren birgt für die Tatgerichte revisionsrechtliche Fallen. Da ist einmal die, dass – wie hier – übersehen wird, dass nur der Angeklagte beurlaubt war und nicht auch der Verteidiger. Der den Angeklagten betreffende Beurlaubungsbeschluss umfasst nicht den Verteidiger. Aber auch sonst muss das Tatgericht immer darauf achten, dass während der Abwesenheit von Angeklagtem und/oder Verteidiger nicht für den abwesenden Angeklagten wesentliche Dinge erörtert werden. Wegen dieser Gefahren hat die Strafkammer, der ich (vor langer Zeit) angehört habe, lieber die Finger vom „231c-Verfahren“ gelassen.

Urlaub des Angeklagten – Chancen für die Revision

Wenn ich Fortbildung bei Richtern machen würde, würde ich davor warnen, den Angeklagten unter Anwendung des § 231c StPO von der Anwesenheit in der Hauptverhandlung zu beurlauben. Denn mit der Vorschrift sind viele Risiken verbunden, die zu einem Erfolg der Revision führen können. Das macht der BGH, Beschl. v. 16.02.2012 – 3 StR 462/11 – anschaulich. Da hat es schon an der Grundvoraussetzung, nämlich der Anordnung/Beurlaubung durch einen ordnungsgermäßen Beschluss gefehlt.

a) Das Gericht kann, wenn die Hauptverhandlung gegen mehrere Angeklagte stattfindet, einem Angeklagten sowie seinem notwendigen Verteidiger auf Antrag gestatten, sich während einzelner Verhandlungsteile zu entfernen, wenn er von diesen nicht betroffen ist. In dem Beschluss sind die Verhand-lungsteile zu bezeichnen, für die die Erlaubnis gilt (§ 231c Satz 1 und 2 StPO).

b) Danach ist bereits dann rechtsfehlerhaft in Abwesenheit des Angeklagten verhandelt worden (§ 338 Nr. 5 StPO), wenn die in dem Beschluss über die Befreiung festgelegte inhaltliche Begrenzung des Verhandlungsgegenstandes nicht eingehalten worden ist. So liegt es hier bezüglich der Sitzung vom 30. Mai 2011, in der über den im Beschluss bezeichneten Umfang hinaus zwei Verwertungswidersprüche entgegengenommen und beschieden worden sind.

c) Zudem war der Angeklagte von diesem Verhandlungsteil, der in seiner Abwesenheit stattgefunden hat, betroffen. Anders wäre es nur gewesen, wenn ausgeschlossen werden könnte, dass die während seiner Abwesenheit behandelten Verfahrensfragen auch nur mittelbar die gegen ihn erhobenen Vorwürfe berührten und damit auch nur potentiellen Einfluss auf Schuld- oder Rechtsfolgenausspruch gegen den Angeklagten hatten (BGH, Beschluss vom 5. Februar 2009 – 4 StR 609/08, NStZ 2009, 400). Dies ist nicht möglich. Die Anträge dienten dem Ziel, die Ergebnisse der Telekommunikationsüberwachung nicht in die Hauptverhandlung einzuführen. Diese waren aber erkennbar nicht nur geeignet, die die Tatvorwürfe des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln bestreiten-den Mitangeklagten zu belasten. Die Art und das Ergebnis von deren Verteidigungsbemühungen konnten vielmehr durchaus Bedeutung auch für den Angeklagten gewinnen, obwohl sich dieser zum Anklagevorwurf geständig eingelassen und die Mitangeklagten belastet hatte. Der Inhalt der Telekommunikation konnte dazu dienen, seine Darstellung des Tatgeschehens zu bestätigen, was für die Glaubhaftigkeit seiner Einlassung und für die gerichtliche Entscheidung darüber von Bedeutung hätte sein können, ob er damit Aufklärungshilfe im Sinne von § 31 BtMG geleistet hatte.