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StPO III: Schoko-Marienkäfer für den Staatsanwalt, oder: Glück gehabt, nicht befangen

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Und als dritte Entscheidung dann der LG Oldenburg, Beschl. v. 24.04.2023 – 12 Ns 380 Js 80809/21 (299/22). Es geht um die Besorgnis der Befangenheit bei einer Schöffin, die vor der Hauptverhandlung Süßigkeiten verteilt hat, und zwar nur an den Staatsanwalt, der sie allerdings nicht angenommen hat.

Ja, das hatten wir schon mal. Na ja, nicht ganz. In der Fällen, die mir bekannt sind, ging es immer um Schokoladen-Nikoläuse, hier waren es aber Marienkäfer aus Schokolade. Nichts desto trotz: Es passt „Alle Jahre wieder“. 🙂

Hier hatte die „Großzügigkeit“ der Schöffin allerdings nicht deren Ausschluss wegen besorgnis der Befangenheit (§ 24 StPO) zur Folge. Sie hat – wohl so gerade noch – die Kurve bekommen und in ihrer dienstlichen Äußerung den Faux pas „repariert“. Das LG hat es damit dann gut sein lassen. Ich wage die Behauptung, dass der Angeklagte das sicherlich mit der Revision überprüfen lassen wird.

Das LG hat ausgeführt:

„Der zulässige Antrag hat in der Sache keinen Erfolg.

Die Besorgnis der Befangenheit besteht, wenn aus Sicht eines vernünftigen Ablehnungsberechtigten Zweifel an der Unvoreingenommenheit und Unabhängigkeit des Richters bestehen (MüKoStPO/Conen/Tsambikakis, 1. Aufl., StPO § 24 Rn. 15 m.w.N.). Misstrauen in die Unparteilichkeit des Richters ist demnach gerechtfertigt, wenn der Ablehnende bei verständiger Würdigung des ihm bekannten Sachverhalts Grund zu der Annahme hat, dass der abgelehnte Richter ihm gegenüber eine innere Haltung einnimmt, die seine Unparteilichkeit und Unvoreingenommenheit störend beeinflussen kann (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., § 24 Rn. 8 m.w.N.). Bei der Ablehnung von Schöffen gilt das Gleiche; die Befangenheitsgründe gehen nicht weiter als bei den Berufsrichtern (Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O. § 31 Rn. 2).

Die beanstandete Verteilung von Schokoladen-Marienkäfern durch die Schöffin pp. vor Beginn der Hauptverhandlung am 03.04.2023 begründet jedenfalls in der konkreten Situation und unter Berücksichtigung der dienstlichen Äußerung der Schöffin aus Sicht eines vernünftigen Angeklagten keine Zweifel an ihrer Unvoreingenommenheit. Zwar erscheint die Verteilung von Süßigkeiten in einem Strafverfahren grundsätzlich unangemessen (vgl. LG Flensburg, Beschl. vom 20.01.2021 — V KLs 2/19, juris). Doch lässt dies in der konkreten Situation gerade nicht den Schluss zu, dass die Schöffin dem Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft eher gewogen ist als dem Angeklagten oder seinem Verteidiger.

Unabhängig davon, dass der Angeklagte sich zum Zeitpunkt der Verteilung der Süßigkeiten nicht im Saal befand, hat der Erste Staatsanwalt pp. in der Hauptverhandlung erklärt, er habe den Vorgang bereits als unangemessen empfunden, der Schöffin dies mitgeteilt und das Schokoladenpräsent auch nicht angenommen. Die Schöffin hat im Rahmen ihrer dienstlichen Äußerung erklärt, dass sie durchaus vorgehabt habe, dem Verteidiger auch ein Schokoladenpräsent zu übergeben, dies aber angesichts der Zurückweisung durch den Staatsanwalt nicht mehr getan habe. Die Äußerung lässt darauf schließen, dass der Schöffin die Unangemessenheit ihres Verhaltens erst anschließend klargeworden ist.

Es bestehen keine Gründe, die Glaubhaftigkeit der dienstlichen Äußerung der Schöffin in Zweifel zu ziehen. Die Stellungnahme des Verteidigers vom 06.04.2023 begründet solche Zweifel ebenfalls nicht — im Gegenteil: Seine Ausführungen zeigen vielmehr, dass die Schöffin ihm gegenüber ausgesprochen freundlich und zugewandt gefragt habe, ob der Sitzungssaal bereits offen sei, oder ob sie ihm die Saaltür öffnen solle. Dass sie bei dieser Gelegenheit oder anschließend, als sie offenbar der Protokollführerin ebenfalls ein Stück Schokolade auf den Tisch gelegt hat, nicht daran gedacht hat, dies bereits diesem Zeitpunkt auch dem Verteidiger anzubieten, stellt daher keinen Befangenheitsgrund dar. Denn die Schöffin hat durch ihr Gesamtverhalten und — spätestens durch die Klarstellung im Rahmen ihrer dienstlichen Äußerung — nachvollziehbar kein Verhalten zum Ausdruck gebracht, dass darauf schließen lässt, dass sie der Seite des Angeklagten, insbesondere dem Verteidiger, weniger gewogen ist, als der Staatsanwaltschaft.

Die Besorgnis der Befangenheit der Schöffin pp. ist nach alledem nicht gerechtfertigt.“

Als Vorsitzender steht man wahrscheinlich in solchen Fällen kurz vor einem Infarkt 🙂 .

Befangenheit III: Reicht Arzt-Patienten-Verhältnis?, oder: Reicht auch in „Nichtarzthaftungssachen“

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Die dritte Entscheidung stammt dann auch aus dem Zivilrecht, und zwar aus einem familiengerichtlichen Verfahren.

Gestritten wird im Unterhalt für ein aus einer außerehelichen Beziehung hervorgegangenes Kind. Der Antragsgegner ist Zahnarzt. Der Richter teilte am 11.11.2022 den Beteiligten mit, dass er selbst Patient beim Antragsgegner ist und forderte die Beteiligten zur Stellungnahme auf. Mit Schriftsatz vom 18.11.2022 erklärte die Antragstellervertreterin, dass sie beantrage, dass der Richter für befangen erklärt werde und die Zuständigkeit wechsle. Mit Vermerk vom 09.01.2023 leitete der Abteilungsrichter die Akte weiter zur Prüfung des Antrags „im Hinblick auf die bedenkliche Gemengelage im Hinblick auf das vertrauliche Arzt-Patient-Verhältnis“.

Das AG hat im AG Schwetzingen, Beschl. v. 23.01.2023 – 1 F 228/22 – die Besorgnis der Befangenheit bejaht:

„Auch inhaltlich ist die Ablehnung gerechtfertigt. Es liegt ein Grund vor, der im Sinne von § 113 Abs. 1 S. 1 FamFG iVm § 42 Abs. 2 ZPO geeignet ist, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit des Richters zu rechtfertigen.

Dabei muss es sich um einen objektiven Grund handeln, der vom Standpunkt des Ablehnenden aus die Befürchtung erwecken kann, der Richter stehe der Sache nicht unvoreingenommen und damit nicht unparteiisch gegenüber. Dabei ist nicht entscheidend, ob der Richter tatsächlich befangen ist oder sich selbst befangen fühlt. Entscheidend ist, ob ein Prozessbeteiligter bei vernünftiger Würdigung aller Umstände Anlass hat, an der Unvoreingenommenheit eines Richters zu zweifeln (BGH, Beschluss vom 14. März 2003 – IXa ZB 27/03 –, Rn. 6, juris).

Das Arzt-Patient-Verhältnis zwischen dem Richter und dem Antragsgegner ist als eine persönliche und rechtliche Beziehung zu qualifizieren, welche im Ergebnis ausreichend ist, für einen objektiven Beobachter Anlass zu Zweifeln zu geben.

Die Rechtsprechung sieht die Besorgnis der Befangenheit beispielsweise in Arzthaftungsprozessen in der Regel als berechtigt, wenn der Richter selbst Patient des Arztes war oder ist (Hanseatisches Oberlandesgericht in Bremen, Beschluss vom 12. Januar 2012 – 5 W 36/11; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 27. Juni 2019 – 13 W 22/19; OLG Koblenz, Beschluss vom 15. Februar 2012 – 5 U 1011/11). Der Grund hierfür wird darin gesehen, dass zwischen dem Arzt und seinem Patienten immer ein besonderes Vertrauensverhältnis besteht, nicht nur in Einzelfällen (Hanseatisches Oberlandesgericht in Bremen, Beschluss vom 12. Januar 2012 – 5 W 36/11 –, Rn. 6, juris). Dies sei nur bei einmaligen, lange zurückliegenden oder weniger bedeutenden Maßnahmen nicht der Fall (OLG Karlsruhe, Beschluss vom 27. Juni 2019 – 13 W 22/19, Rn. 15, juris). Außerdem sei es nicht abwegig, wenn ein Beteiligter befürchte, der Richter könne Angst haben, ein negativer Ausgang des Prozesses für den Arzt könnte seine zukünftige Behandlung beeinflussen (OLG Koblenz, Beschluss vom 15. Februar 2012 – 5 U 1011/11 –, Rn. 3, juris).

All diese Überlegungen sind nicht nur im Arzthaftungsprozess von Bedeutung, sondern auch in sonstigen Rechtsstreitigkeiten, zumindest solchen mit erheblicher wirtschaftlicher Bedeutung. Für die Frage, ob zwischen dem Arzt und dem Richter ein besonderes Verhältnis besteht, ist es allenfalls am Rande erheblich, ob Gegenstand des Verfahrens die ärztliche Tätigkeit ist oder nicht. Die Tatsache, dass der Patient seine gesundheitlichen Belange dem Arzt anvertraut und sich mit diesen in die Hände des Arztes begibt, ist in jedem Fall gegeben. Ebenso ist die Befürchtung, der Richter könne Folgen für seine eigene Behandlung besorgen, im Unterhaltsverfahren nicht weniger berechtigt.

Daher kann auch außerhalb des Arzthaftungsprozesses davon ausgegangen werden, dass ein Arzt-Patienten-Verhältnis zwischen einem Verfahrensbeteiligten und dem Richter eine Besorgnis der Befangenheit regelmäßig begründet.

Aus den Umständen des Einzelfalles ergibt sich nichts anderes. Der Richter hat angegeben, dass er seit etlichen Jahren regelmäßig zu Untersuchungen und Zahnreinigung in die Praxis des Antragsgegners geht. Auch wurde über vertrauliche gesundheitliche Belange gesprochen. Es besteht also eindeutig ein Vertrauensverhältnis. Auch hat der Rechtstreit für den Antragsgegner erhebliche wirtschaftliche Bedeutung. Die Unterhaltspflicht für ein Kind belastet ihn in erheblichem Umfang von langer Dauer.“

Befangenheit I: Vorbefassung im Cum-Ex-Strafprozess, oder: Das Recht auf den gesetzlichen Richter

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Heute dann ein „Befangenheitstag“, und zwar mit drei Entscheidungen zur Besorgnis der Befangenheit. Die vorgestellten Entscheidungen stammen zwar nicht alle aus einem Strafverfahren, aber die in den Entscheidungen angestellten Überlegungen können auch da von Bedeutung sein.

Zunächst verweise ich auf die „Cum-Ex-Entscheidung“ des BVerfG. Das hat im BVerfG, Beschl. v. 27.01.2023 – 2 BvR 1122/22 – über die Verfassungsbeschwerde eines ehemaligen Cum-Ex-Mitarbeiters entschieden, der gegen ein Urteil des LG Bonn und die Revisionsentscheidung des BGH Verfassungsbeschwerde eingelegt und den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt hatte. Der Verurteilte hatte mit seiner Verfassungsbeschwerde gerügt, dass in seinem Verfahren zwei Richter zuvor an einem anderen Cum-Ex-Urteil gegen zwei Börsenhändler beteiligt waren, und sich die Urteilsgründe in dem Verfahren auch zu seiner Rolle als Haupttäter verhielten. Im dem war u.a. ausgefüht, der Beschwerdeführer der Verfassungsbeschwerde habe gemeinschaftlich mit weiteren Personen vorsätzlich rechtswidrige Steuerstraftaten begangen, zu denen einer der beiden Börsenhändler Hilfe geleistet habe. An dme Urteil waren der Vorsitzende und der Berichterstatter beteiligt gewesen. Der Angeklagte hatte sie deshalb wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehtn. Das LG hatte das Ablehnungsgesuch zurückgewiesen und den Angeklagten verurteilt. Der BGH hatte die Revision verworfen.

Dagegen dann die Verfassungsbeschwerde, die keinen Erfolg hatte. Das BVerfG sieht das Recht auf den gesetzlichen Recht nicht verletzt. Es referiert u.a. die Rechtsprechung des EGMR zur sog. Vorbefassung und führt dann aus:

„2. Gemessen an diesen Maßstäben wurde dem Beschwerdeführer der gesetzliche Richter nicht im Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG entzogen. Die angegriffenen Entscheidungen entsprechen der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Befangenheit wegen Vorbefassung (a), die weder verfassungsrechtlichen (b) noch konventionsrechtlichen (c) Bedenken begegnet. Soweit der Bundesgerichtshof – der Argumentation des Generalbundesanwalts folgend (vgl. BVerfGK 5, 269 <285 f.>) – im konkreten Fall die Verwerfung des Befangenheitsgesuchs gegen den Vorsitzenden der Strafkammer revisionsrechtlich nicht beanstandet hat, scheidet ein den Beschwerdeführer in seinem Recht aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzender Entzug des gesetzlichen Richters aus (d).

a) Eine Vortätigkeit des erkennenden Richters, die den Verfahrensgegenstand betrifft, zieht nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs weder automatisch die Ausschließung des Richters von der Ausübung des Richteramts im weiteren Verfahren nach sich (aa) noch begründet sie zwangsläufig die Besorgnis der Befangenheit (bb).

aa) Nach der Konzeption des Strafverfahrensrechts ist der erkennende Richter wegen einer Vortätigkeit, die den Verfahrensgegenstand betrifft, nicht automatisch, sondern nur ausnahmsweise von der Mitwirkung im weiteren Verfahren ausgeschlossen. Dass einer der gesetzlichen Ausschlussgründe greift, macht der Beschwerdeführer hier weder geltend, noch ist eine solche Konstellation aus sich heraus ersichtlich. Soweit der Beschwerdeführer im Revisionsverfahren auf den Ausschlussgrund des § 22 Nr. 5 StPO abgestellt hat, verfolgt er diese Verfahrensbeanstandung mit der Verfassungsbeschwerde ausdrücklich nicht mehr weiter.

bb) Da die Ausschlussgründe in der Strafprozessordnung die Frage der Vorbefassung abschließend regeln, ist die Vorbefassung eines Richters in anderen Verfahrenskonstellationen nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs regelmäßig nicht geeignet, die Besorgnis der Befangenheit im Sinne des § 24 Abs. 2 StPO zu begründen; es müssen besondere Umstände hinzukommen, die diese Besorgnis rechtfertigen (stRspr; vgl. BGH, Beschluss des 5. Strafsenats vom 10. August 2005 – 5 StR 180/05 -, BGHSt 50, 216 <221 f.>; Urteil des 2. Strafsenats vom 30. Juni 2010 – 2 StR 455/09 -, NStZ 2011, S. 44 <46 Rn. 23>; Beschluss des 3. Strafsenats vom 10. Januar 2012 – 3 StR 400/11 -, NStZ 2012, S. 519 <520 Rn. 19>; Urteil des 1. Strafsenats vom 15. Mai 2018 – 1 StR 159/17 -, Rn. 56; Beschluss des 3. Strafsenats vom 18. Mai 2022 – 3 StR 181/21 -, Rn. 48; Beschluss des 5. Strafsenats vom 7. Juni 2022 – 5 StR 460/21 -, NStZ-RR 2022, 288 <289>). Das gilt nicht nur bei Vorbefassung mit Zwischenentscheidungen im selben Verfahren, etwa bei der Mitwirkung am Eröffnungsbeschluss oder an Haftentscheidungen, sondern auch bei der Mitwirkung eines erkennenden Richters in Verfahren gegen andere Beteiligte desselben Lebenssachverhalts (vgl. BGH, Beschluss des 3. Strafsenats vom 18. Mai 2022 – 3 StR 181/21 -, Rn. 48).

b) Diese Rechtsprechung ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Das deutsche Verfahrensrecht ist von der Auffassung beherrscht, ein Richter könne auch dann unvoreingenommen an die Beurteilung einer Sache herantreten, wenn er sich schon früher über denselben Sachverhalt ein Urteil gebildet habe (vgl. BVerfGE 30, 149 <153 f.>). Es bedarf deshalb besonderer Umstände, um aus der Vorbefassung eines Richters auf dessen fehlende Neutralität zu schließen. Nur wenn ein diese Umstände aufgreifendes Befangenheitsgesuch willkürlich zu Unrecht abgelehnt wird, ist dem Angeklagten der gesetzliche Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG entzogen (vgl. BVerfGK 9, 282 <286>).

c) Diese Maßstäbe stehen im Einklang mit der Europäischen Menschenrechtskonvention, die als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite der Grundrechte heranzuziehen ist (vgl. BVerfGE 111, 307 <317 f.>; 128, 326 <366 ff.>; 148, 296 <351 Rn. 128>; 149, 293 <328 Rn. 86>; 158, 1 <36 Rn. 70>), wenngleich eine schematische Parallelisierung der Aussagen des Grundgesetzes mit denen der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht verlangt ist (vgl. BVerfGE 128, 326 <366, 392 f.>; 156, 354 <397 Rn. 122>). Bei der Heranziehung der Europäischen Menschenrechtskonvention sind die Leitentscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu berücksichtigen, auch wenn sie nicht denselben Streitgegenstand betreffen, denn der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte kommt eine faktische Orientierungs- und Leitfunktion für die Auslegung der Europäischen Menschenrechtskonvention über den konkret entschiedenen Einzelfall hinaus zu (vgl. BVerfGE 111, 307 <320>; 128, 326 <368>; 148, 296 <351 f. Rn. 129>). Die Heranziehung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte als Auslegungshilfe gemäß Art. 1 Abs. 2 GG über den Einzelfall hinaus dient dazu, den Garantien der Europäischen Menschenrechtskonvention in der Bundesrepublik Deutschland möglichst umfassend Geltung zu verschaffen, und kann darüber hinaus helfen, Verurteilungen der Bundesrepublik Deutschland durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu vermeiden (vgl. BVerfGE 128, 326 <369>; 148, 296 <352 f. Rn. 130>).

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verortet die Unparteilichkeit des zur Entscheidung berufenen Richters im Recht auf ein faires Verfahren aus Art. 6 Abs. 1 EMRK und sieht sie als dessen unverzichtbarer Bestandteil an (stRspr; vgl. EGMR, Schwarzenberger v. Germany, Urteil vom 10. August 2006, Nr. 75737/01, § 38; Bezek v. Germany, Entscheidung vom 21. April 2015, Nr. 4211/12 und 5850/12, § 31; Meng v. Germany, Urteil vom 16. Februar 2021, Nr. 1128/17, §§ 42 ff., NJW 2021, S. 2947 <2948 ff.>). Er prüft nicht nur anhand subjektiver Kriterien ausgehend von der persönlichen Überzeugung und dem Verhalten eines bestimmten Richters in einer bestimmten Rechtssache, ob Unparteilichkeit im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK gegeben ist. Er stellt auch auf objektive Kriterien ab und prüft, ob der Richter hinreichend Gewähr dafür geboten hat, dass alle berechtigten Zweifel insoweit auszuschließen sind (stRspr; vgl. EGMR, Schwarzenberger v. Germany, Urteil vom 10. August 2006, Nr. 75737/01, § 38; Kriegisch v. Germany, Entscheidung vom 23. November 2010, Nr. 21698/06, NJW 2011, S. 3633 <3634>; Meng v. Germany, Urteil vom 16. Februar 2021, Nr. 1128/17, § 44, NJW 2021, S. 2947 <2948>).

Auch nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte genügt allein die Tatsache, dass ein Richter bereits über ähnliche, aber selbständige Tatvorwürfe entschieden oder in einem gesonderten Strafverfahren gegen einen Mitangeklagten verhandelt hat, nicht, um Zweifel an der Unparteilichkeit dieses Richters in einem nachfolgenden Fall zu begründen (stRspr; vgl. EGMR, Schwarzenberger v. Germany, Urteil vom 10. August 2006, Nr. 75737/01, § 42; Kriegisch v. Germany, Entscheidung vom 23. November 2010, Nr. 21698/06, NJW 2011, S. 3633 <3634>; Bezek v. Germany, Entscheidung vom 21. April 2015, Nr. 4211/12 und 5850/12, § 32 f.; Meng v. Germany, Urteil vom 16. Februar 2021, Nr. 1128/17, § 47, NJW 2021, S. 2947 <2948>; Mucha v. Slovakia, Urteil vom 25. November 2021, Nr. 63703/19, § 49). Hat allerdings ein Gericht in einem früheren Urteil ohne rechtliche Notwendigkeit die Rolle des später Angeklagten derart detailliert beurteilt, dass das frühere Urteil so zu verstehen ist, das Gericht habe hinsichtlich des später Angeklagten alle für die Erfüllung eines Straftatbestands erforderlichen Kriterien als erfüllt angesehen, können nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte objektive Zweifel an der Unvoreingenommenheit des Gerichts bestehen (stRspr; vgl. EGMR, Kriegisch v. Germany, Entscheidung vom 23. November 2010, Nr. 21698/06, NJW 2011, S. 3633 <3634>; Meng v. Germany, Urteil vom 16. Februar 2021, Nr. 1128/17, § 48, NJW 2021, S. 2947 <2949>). Er hält solche Zweifel insbesondere dann für möglich, wenn ein innerstaatliches Gericht nicht nur die Tatsachen beschrieben hat, die einen später angeklagten Täter betreffen, sondern darüber hinaus dessen Verhalten, ohne dass dazu eine Notwendigkeit bestanden hätte, rechtlich bewertet hat (vgl. EGMR, Meng v. Germany, Urteil vom 16. Februar 2021, Nr. 1128/17, § 48, NJW 2021, S. 2947 <2949>).

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte erkennt ferner an, dass es in komplexen Strafverfahren mit mehreren Beteiligten, die nicht in einem Verfahren gleichzeitig abgeurteilt werden können, für die Beurteilung der Schuld der abzuurteilenden Personen unerlässlich sein kann, dass das Strafgericht auf die Beteiligung Dritter Bezug nimmt, gegen die später womöglich ein gesondertes Verfahren geführt wird (vgl. EGMR, Meng v. Germany, Urteil vom 16. Februar 2021, Nr. 1128/17, § 47, NJW 2021, S. 2947 <2948>; Mucha v. Slovakia, Urteil vom 25. November 2021, Nr. 63703/19, § 58; vgl. mit Blick auf Art. 6 Abs. 2 EMRK auch EGMR, Karaman v. Germany, Urteil vom 27. Februar 2014, Nr. 17103/10, § 64). Ausdrücklich hat er betont, dass Strafgerichte auch in solchen Konstellationen den für die Bewertung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit der Angeklagten maßgeblichen Sachverhalt so genau und präzise wie möglich feststellen müssen und entscheidende Tatsachen – einschließlich solcher mit Bezug auf die Beteiligung Dritter – nicht als reine Behauptungen oder Vermutungen darstellen dürfen (vgl. EGMR, Mucha v. Slovakia, Urteil vom 25. November 2021, Nr. 63703/19, § 58; Karaman v. Germany, Urteil vom 27. Februar 2014, Nr. 17103/10, § 64). Er bezieht in seine Prüfung auch ein, ob und inwieweit in dem ersten Verfahren die Schuld des Beschwerdeführers bewertet wurde (vgl. EGMR, Meng v. Germany, Urteil vom 16. Februar 2021, Nr. 1128/17, § 49, NJW 2021, S. 2947 <2949>). Die Besorgnis, der Richter sei nicht unvoreingenommen gewesen, hält er für unbegründet, wenn das später entscheidende Gericht aufgezeigt hat, dass es in dem zweiten Verfahren eine neue Beweiswürdigung vorgenommen hat, insbesondere, wenn sich aus dem Urteil in der späteren Rechtssache ergibt, dass die abschließende Bewertung auf Grundlage der in neuen Verfahren vorgelegten Beweismittel und gehörten Argumente vorgenommen wurde (vgl. EGMR, Kriegisch v. Germany, Entscheidung vom 23. November 2010, Nr. 21698/06, NJW 2011, S. 3633 <3634>; Meng v. Germany, Urteil vom 16. Februar 2021, Nr. 1128/17, § 50, NJW 2021, S. 2947 <2949>).

d) Es ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass der Bundesgerichtshof die Revision des Beschwerdeführers verworfen hat. Auch unter Berücksichtigung der Gewährleistungsgehalte des Art. 6 Abs. 1 und 2 EMRK scheidet ein den Beschwerdeführer in seinem Rechts aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzender Entzug des gesetzlichen Richters aus.

aa) Aus verfassungsrechtlicher Sicht ist nichts dagegen zu erinnern, dass die zuständige Kammer der Auffassung war, in dem vorliegenden komplexen Strafverfahren die Beteiligten nicht in einem Verfahren gleichzeitig aburteilen zu können. Schon die vom Beschwerdeführer vorgelegten Urteile zeigen auf, dass an Geschäften aus dem Cum-Ex-Komplex eine Vielzahl von Beschäftigten unterschiedlicher Banken in unterschiedlicher Zusammensetzung und in unterschiedlichen Fallkonstellationen beteiligt waren. Ein einziger Prozess, der sich gegen alle diese Personen richtete, hätte insbesondere Beteiligte mit untergeordneten Tatbeiträgen über Gebühr mit einem langen Strafverfahren belastet und wäre mit dem Beschleunigungsgebot nicht zu vereinbaren gewesen. Der Einwand des Beschwerdeführers, das Gericht hätte für den ersten Prozess gegen Personen, deren Tatbeiträge als Beihilfe im Sinne des § 27 Abs. 1 StGB eingeordnet worden sind, prüfen müssen, ob abzuwarten sei, bis auch die Verfahren gegen die beteiligungsrechtlich als (Haupt-)Täter einzuordnenden Personen zur Anklage gelangt waren, greift daher schon deshalb nicht durch.

bb) Die Argumentation des Generalbundesanwalts, dessen begründetem Verwerfungsantrag das Revisionsgericht gefolgt ist (vgl. BVerfGK 5, 269 <285 f.>), es sei unerlässlich gewesen, die Tatbeiträge des Beschwerdeführers im früheren ersten Cum-Ex-Prozess festzustellen und rechtlich zu würdigen, begegnet vor dem Hintergrund der Gewährleistungen der Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, Art. 6 Abs. 1 und 2 EMRK ebenfalls keinen verfassungsrechtlichen oder konventionsrechtlichen Bedenken.

(1) Mit dem Landgericht ist zum Ausgangspunkt zu nehmen, dass die Angeklagten des früheren Verfahrens unter anderem wegen Beihilfe zur Steuerhinterziehung angeklagt und verurteilt wurden. In diesem Verfahren gegen die Börsenhändler konnte auf Feststellungen zum Vorliegen einer vorsätzlichen rechtswidrigen Haupttat und damit zum Tatbeitrag des Beschwerdeführers nicht verzichtet werden. Vielmehr musste das Tatgericht seiner Pflicht nachkommen, den für die Bewertung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit der damals Angeklagten maßgeblichen Sachverhalt so genau und präzise wie möglich festzustellen und entscheidende Tatsachen – auch solche mit Bezug auf die Beteiligung Dritter – nicht als reine Behauptungen oder Vermutungen darzustellen (vgl. EGMR, Mucha v. Slovakia, Urteil vom 25. November 2021, Nr. 63703/19, § 58; Karaman v. Germany, Urteil vom 27. Februar 2014, Nr. 17103/10, § 64).

(2) Bei der Feststellung, dass einer der früheren Angeklagten dem Beschwerdeführer zu dessen vorsätzlicher und rechtswidriger Steuerhinterziehung Hilfe geleistet hat, hat sich das Landgericht – konventionsrechtliche Anforderungen beachtend (vgl. EGMR, Meng v. Germany, Urteil vom 16. Februar 2021, Nr. 1128/17, § 49, NJW 2021, S. 2947 <2949>) – der Aussage enthalten, ob der Beschwerdeführer schuldhaft gehandelt hat. Es hat berücksichtigt, dass schuldhaftes Handeln des (Haupt-)Täters – anders als ein tatbestandsmäßiges und rechtswidriges Handeln – gemäß dem in § 27 Abs. 1 StGB verankerten Grundsatz der limitierten Akzessorietät der Teilnahme keine Voraussetzung für eine Strafbarkeit des Gehilfen ist.

(3) Der Hinweis des Beschwerdeführers darauf, wie häufig sein Name in dem vorangegangenen Strafurteil aus dem Cum-Ex-Komplex genannt worden ist, ist bereits angesichts der Länge des betreffenden Urteils nicht aussagekräftig. Soweit der Beschwerdeführer auf Stellen verweist, in denen das Gericht nach seiner Auffassung im früheren Urteil zu seiner Schuld ausgeführt hat, ist dies den aufgelisteten Passagen nicht zu entnehmen, da sich das Gericht dort zwar mit der – im Verfahren gegen die Gehilfen zwingend festzustellenden – inneren Tatseite des Beschwerdeführers auseinandergesetzt hat, nicht aber mit dessen Schuld.

(4) Entgegen den Ausführungen des Beschwerdeführers hätte auf die Aufklärung seiner Rolle im Cum-Ex-Komplex in dem vorangegangenen Strafverfahren auch nicht deshalb verzichtet werden können, weil außer ihm ein weiterer Tatbeteiligter die entsprechenden Steuererklärungen unterzeichnet und daher ebenfalls eine vorsätzliche rechtswidrige Haupttat begangen hat. Dem steht bereits entgegen, dass auf diese Weise jeder Haupttäter die Darstellung seiner Tatbeiträge mit Verweis auf weitere Täter für verzichtbar erklären könnte, so dass das Gericht im Ergebnis überhaupt kein Täterhandeln mehr beschreiben dürfte. Dies geriete mit dem Umstand in Konflikt, dass für das Gehilfenhandeln festzustellen ist, welche vorsätzliche und rechtswidrige Tat eines Haupttäters gefördert worden ist.

(5) Eine verfassungsrechtlich zu beanstandende Vorbefassung der erkennenden Richter lässt sich ferner nicht daraus ableiten, dass das Landgericht im Urteil gegen die Börsenhändler die vorsätzliche rechtswidrige Haupttat nicht allgemeiner umschrieben und die Person des Haupttäters offengelassen hat. Zwar erkennt der Beschwerdeführer im Ansatz zutreffend, dass die Verurteilung eines Gehilfen grundsätzlich auch dann möglich ist, wenn die Identität des Haupttäters unbekannt bleibt. Bei dem hier zu beurteilenden Verfahren war aber gerade die Identität der Haupttäter, insbesondere deren berufliche Stellung und ihre Kenntnisse im Steuerrecht, maßgeblich für die – im Verfahren gegen die Gehilfen zwingend vorzunehmende – Bewertung der inneren Tatseite der Haupttäter.

(6) Auch die aus Sicht des Beschwerdeführers zurückhaltende Bewertung der Rolle eines möglichen weiteren Haupttäters in den Gründen des ihn betreffenden Urteils lässt nicht darauf schließen, dass die Ausführungen des Gerichts zum Handeln des Beschwerdeführers im Urteil gegen die als Teilnehmer verurteilten Börsenhändler über das erforderliche Maß hinausgegangen sind. Nach den Feststellungen des Landgerichts verwirklichte der Beschwerdeführer alle Merkmale der Steuerhinterziehung eigenhändig als Täter, indem er die entsprechenden Steuererklärungen unterzeichnete. Auf die Handlungen möglicher Mittäter kam es daher in diesem Zusammenhang nicht entscheidend an.

cc) Der mit der Verfassungsbeschwerde erhobenen Rüge, der Hinweis des Vorsitzenden auf seine Erinnerung an die Vernehmung eines Zeugen im früheren Verfahren begründe besondere Umstände, die die Besorgnis der Befangenheit wegen Vorbefassung rechtfertigten, ist ebenfalls der Erfolg zu versagen. Der Beschwerdeführer verkennt den anzuwendenden Prüfungsmaßstab, wenn er im Ergebnis eine Neubewertung der für und gegen eine Befangenheit sprechenden Umstände erreichen möchte. Prüfungsgegenstand des Bundesverfassungsgerichts ist nicht die Befangenheit eines Richters als solche, sondern – unter Anlegung des Willkürmaßstabs (vgl. oben Rn. 25) – die Frage, ob die angegriffenen Entscheidungen über einen Befangenheitsantrag des Beschwerdeführers und die Überprüfung dieser Entscheidung durch das Revisionsgericht im Einklang mit den Gewährleistungen der Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, Art. 6 Abs. 1 EMRK stehen.“

Ich denke, wir werden dazu noch etwas vom EGMR hören.

Ablehnung III: Wenn der Sachverständige befangen ist, oder: Gutachten für Nebenkläger im Vorverfahren

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Und als dritte Entscheidung stelle ich dann noch einen AG-Beschluss vor, und zwar zur Frage der Besorgnis der Befangenheit eines Sachverständigen (vgl. dazu neulich auch das AG Schmallenberg, Urt. v. 12.10.2022 – 5 Ds 47/22 und dazu AG III: Wenn der Sachverständige befangen ist, oder: “Diener zweier Herren” geht nicht ).

Im AG Freiberg, Beschl. v. 23.11.2022 – 1 Ds 210 Ja 1296/20 – haben wir eine etwas andere Konstellation, aber es geht in dieselbe Richtung. Ergangen ist der Beschluss in einem Verfahren mit dem Vorwurf einer fahrlässigen Tötung, aufgrund von Behandlungsfehlern des behandelnden Arztes. Der Sachverständige, der nun als gerichtlicher Sachverständiger tätig werden sollte, hatte für die Eltern des Verstorbenen bereits im Ermittlungsverfahren Gutachten erstattet. Das geht so nicht, meint das AG:

„Der Sachverständige Dr. pp. hat für die Eltern des Verstorbenen zunächst das Gutachten vom 23.03,2019 und dann eine Stellungnahme vom 28.6.2019 erstellt. Auftraggeber war jeweils Herr Dr. pp. Dieser hat die Eltern des Verstorbenen im staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren vertreten und sowohl durch seinen Sachvortrag als auch durch die Vorlage des vorgenannten Gutachtens erreicht, dass die staatanwaltschaftlichen Ermittlungen wieder aufgenommen wurden. Die Eltern haben zwischenzeitlich ihre Zulassung als Nebenkläger beantragt, inzwischen jedoch wieder zurückgezogen. Nichts destotrotz ergibt sich aus der Stellung von Dr. pp. im Ermittlungsverfahren die Besorgnis, dass dieser bei der Erstattung seines Gutachtens im Hauptverfahren nicht unbefangen sein wird. Denn mit dem schriftlichen Gutachten wollten die Eltern ersichtlich Behandlungsfehler der behandelnden Ärzte nachweisen. In dem privat erstatteten Gutachten hat Dr. pp.     bereite Behandlungsfehler erkannt und sich insoweit festgelegt.

Auf Antrag der Verteidiger der beiden Angeklagten ist Dr. pp. daher wegen Besorgnis der Befangenheit abzulehnen.

Zur morgigen Hauptverhandlung ist er abzuladen.“

Ablehnung II: Anstellung des Partners bei einer Partei, oder: Die pflichtwidrig unterlassene Selbstanzeige

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Die zweite Entscheidung kommt mit dem OLG Stuttgart, Beschl. v. 29.09.2002 – 2 W 47/22 – aus dem Zivilrecht. Ergangen ist er in einem Verfahren, in dem die Parteien um Schadensersatzansprüche wegen der Beteiligung der Beklagten am sog. Lkw-Kartell streiten. Beim LG Stuttgart fallen solche Streitigkeiten u. a. in die Zuständigkeit der 53. Zivilkammer.

Die Klägerin hat den lehnt den Vorsitzenden der 53. Zivilkammer, Vorsitzenden Richter am Landgericht X, u.a. mit der Begründung abgelehtn, dass dessen Ehefrau von Mai 2011 bis Oktober 2021 bei der Beklagten als Manager, später als Senior Manager angestellt und zum Oktober 2021 zur D. in eine Führungsposition im Bereich Compliance gewechselt sei. Die D. sei gegenüber der Beklagten im Innenverhältnis zur Freistellung von den streitgegenständlichen Schadensersatzansprüchen verpflichtet. Der abgelehnte Richter habe zudem gegen seine Pflicht zur rechtzeitigen Offenbarung dieser Umstände verstoßen. In seiner dienstlichen Äußerung hat der abgelehnte Richter die berufliche Tätigkeit seiner Ehefrau bestätigt.

Das Befangenheitsgesuch gegen den Vorsitzenden Richter veranlasste den Richter am Landgericht Y, der ebenfalls der 53. Zivilkammer angehört, zu dem Hinweis, dass seine Partnerin bis 30.11.2021 im Personalbereich der Beklagten tätig war und im Anschluss daran im Personalbereich der D. Die Klägerin sieht hierin einen Grund zur Besorgnis der Befangenheit und lehnt auch den Richter am Landgericht Y ab.

Das Landgericht hat die Ablehnungsgesuche zurückgewiesen. Dagegen die sofortige Beschwerde der Klägerin, die Erfolg hatte. Wegen der Einzelheiten der Begründung verweise ich auf den verlinkten Volltext. Das OLG hat seiner Entscheidung folgende Leitsätze gegeben:

    1. Die Besorgnis der Befangenheit ist begründet, wenn die Ehegattin oder feste Partnerin des abgelehnten Richters bei einer Partei des Rechtsstreits beschäftigt ist und bei vernünftiger Betrachtungsweise aus Sicht des ablehnenden Klägers die Befürchtung besteht, dass sie sich aufgrund ihrer gehobenen beruflichen Tätigkeit in besonderem Maße mit den Interessen und Zielen des Unternehmens identifiziert, deshalb bei Rechtsstreitigkeiten von herausragender Bedeutung für das Unternehmen dessen Position einnimmt oder sich mit diesem solidarisiert, dies auch ihrem Ehegatten – dem abgelehnten Richter – vermittelt und aufgrund der besonderen Nähebeziehung des Paares dessen Meinungsbildung zugunsten der Partei bewusst oder unbewusst beeinflusst, sodass die Unparteilichkeit und Unvoreingenommenheit des Richters nicht mehr gewährleistet ist.
    2. Ist oder war die Ehefrau bzw. feste Partnerin eines Richters bei einer Partei beschäftigt, hat der Richter dies den Parteien des Rechtsstreits vor oder spätestens bei der ersten richterlichen Handlung anzuzeigen.

Interessant und darauf will ich hier dann doch konkret hinweise ist m.E. dann das, was das OLG zur Selbstanzeige ausführt, nämlich:

„dd) Darüber hinaus kann die Klägerin als ablehnende Partei aber auch deshalb berechtigten Anlass für Zweifel an der Unparteilichkeit und Unvoreingenommenheit des abgelehnten Richters haben, weil dieser die Verfahrensbeteiligten zunächst nicht auf das Beschäftigungsverhältnis seiner Ehefrau bei der Beklagten bzw. der D. hingewiesen hat.

(1) Gemäß § 48 ZPO hat das für die Erledigung eines Ablehnungsgesuchs zuständige Gericht auch dann zu entscheiden, wenn ein Richter von einem Verhältnis Anzeige macht, das seine Ablehnung rechtfertigen könnte. Aus dem Sinn und Zweck dieser Bestimmung bzw. ihrer Funktion im Zusammenhang mit den Verfahrensgrundrechten aus Artikel 101 Absatz 1 Satz 2 GG und Artikel 103 Absatz 1 GG folgt eine Verpflichtung des Richters zur Anzeige solcher Verhältnisse (vgl. BVerfG, Beschluss vom 8. Juni 1993 – 1 BvR 878/90, juris Rn. 28 ff.). Die in § 48 ZPO vorgesehene Anzeige bestimmter Gründe durch den Richter dient der Gewährleistung des Verfassungsrechts der Parteien, nicht vor einen Richter gestellt zu werden, dem es an der gebotenen Neutralität fehlt (BGH, Urteil vom 15. Dezember 1994 – I ZR 121/92, juris Rn. 32).

Mit Blick auf einen möglichen Ablehnungsgrund ist eine Pflicht zur Anzeige gegeben, wenn ein Ablehnungsgesuch nach den Maßstäben des § 42 ZPO begründet sein könnte. Offen zu legen sind alle Umstände, die Zweifel an der Unparteilichkeit oder Unabhängigkeit des Richters wecken können (OLG München, Urteil vom 26. März 2014 – 15 U 4783/12, juris Rn. 15; OLG Düsseldorf, Urteil vom 11. Oktober 2017 – VI-U (Kart) 9/17, juris Rn. 81). Die Anzeige hat vor oder spätestens bei der ersten richterlichen Handlung zu erfolgen (Vollkommer in: Zöller, Kommentar zur Zivilprozessordnung, 34. Auflage 2022, § 48 ZPO Rn. 3). Ob und gegebenenfalls wann ein materieller Grund für die Annahme der Befangenheit eines Richters gegeben ist und ob eine Befangenheit tatsächlich besteht, ist für die Verpflichtung eines Richters, objektive Umstände anzuzeigen, welche die Besorgnis der Befangenheit aus Sicht der Parteien nahelegen können, grundsätzlich ohne Belang (BGH, Urteil vom 7. Mai 2009 – RiZ (R) 1/08, juris Rn. 38).

Allerdings hat der Richter nicht auf „alles Mögliche“, sondern nur auf Umstände hinzuweisen, von denen er annehmen muss, sie könnten bei vernünftiger Betrachtung Zweifel an seiner Unbefangenheit und Unparteilichkeit erwecken (Kammergericht, Beschluss vom 7. Juli 2010 – 20 SchH 2/10, juris Rn. 20; OLG Hamm, Beschluss vom 5. Oktober 2011 – I-8 SchH 1/11, juris Rn. 22). Wie bei der Beurteilung nach § 42 ZPO ist unbeachtlich, ob der Richter sich tatsächlich befangen fühlt, da es darum geht, bereits den bösen Schein einer möglicherweise fehlenden Unvoreingenommenheit und Objektivität zu vermeiden (OLG München, Urteil vom 26. März 2014 – 15 U 4783/12, juris Rn. 15). Die Anzeigepflicht gewährleistet, dass die Parteien von etwaigen, ihnen unbekannten Ablehnungsgründen Kenntnis erlangen und sich zu ihnen äußern können (BGH, Urteil vom 15. Dezember 1994 – I ZR 121/92, juris Rn. 33). Zudem stärkt die Hinweispflicht das Vertrauen der Rechtsuchenden in die Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und Unvoreingenommenheit des Gerichts.

Die pflichtwidrig unterlassene Selbstanzeige kann für sich allein oder in der Zusammenschau mit weiteren Umständen die Besorgnis der Befangenheit begründen (Vossler in: Beck’scher Onlinekommentar zur ZPO, 45. Ed. 01. Juli 2022, § 48 ZPO Rn. 7). Dies gilt allerdings nicht für Umstände, die eindeutig und klar ungeeignet sind, die Besorgnis der Befangenheit des Richters zu begründen (Kammergericht, Beschluss vom 7. Juli 2010 – 20 SchH 2/10, juris Rn. 20). Da die Abgrenzung zu Gründen, die eine Befangenheit nahelegen, nicht immer klar ist, wird eine einfache Fehleinschätzung im Einzelfall nicht dazu führen, dass aus der Sicht einer Partei durch den unterbliebenen Hinweis Anlass gegeben ist, an der Unvoreingenommenheit und objektiven Einstellung des Richters zu zweifeln (BGH, Urteil vom 4. März 1999 – III ZR 72/98, juris Rn. 14). Anders liegt es hingegen, wenn sich dem Richter eine Offenlegungspflicht in der konkreten Situation aufdrängen musste (vgl. BGH, Beschluss vom 31. Januar 2019 – I ZB 46/18, juris Rn. 23).

(2) Nach diesen Maßstäben hat der abgelehnte Richter durch den nicht rechtzeitig (vor oder spätestens bei der ersten richterlichen Handlung) erteilten Hinweis der ablehnenden Partei Anlass gegeben, an seiner Unparteilichkeit und Unvoreingenommenheit zu zweifeln.

Der Umstand, dass die Ehefrau langjährig bei der Beklagten beschäftigt war und weiterhin bei der durch die Konzernaufspaltung hervorgegangenen D. beschäftigt ist, löste die Verpflichtung des abgelehnten Richters zur Anzeige dieser Umstände aus. Aus der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ergibt sich, dass die berufliche Tätigkeit eines Ehegatten die Besorgnis der Befangenheit im Einzelfall begründen kann (BGH, Beschluss vom 19. November 2020 – V ZB 59/20, juris Rn. 10). Soweit der abgelehnte Richter selbst die relevanten Umstände in seiner dienstlichen Äußerung als „völlig unerheblich“ bezeichnet hat, ist diese Einschätzung nicht nachvollziehbar. Da bei einer Beschäftigung der Ehefrau bei einer Partei die Besorgnis der Befangenheit von einer Gesamtwürdigung der Umstände des Einzelfalls abhängt, musste sich dem abgelehnten Richter die ernsthafte Möglichkeit aufdrängen, dass das für die Entscheidung über die Ablehnung zuständige Gericht auf eine entsprechende Anzeige gemäß § 48 ZPO die Besorgnis der Befangenheit für begründet erklären könnte.“