Die erste (volle) Urlaubswoche 🙂 eröffne ich dann zunächst mal mit zwei „Haftsachen“. Zunächst weise ich hin auf den schon etwas älteren BVerfG, Beschl. v. 23.01.2019 – 2 BvR 2429/18. Ergangen ist er in einem beim LG Frankenthal anhängigen Verfahren, in dem im Haftebschwerdeverfahren dann das OLG Zweibrücken tätig geworden ist.
Folgender Sachverhalt: Der Angeklagte befindet sich seit Mai 2016 in Untersuchungshaft. Im August 2016 erhob die Staatsanwaltschaft Anklage wegen Mordes, gefährlicher Körperverletzung und Geiselnahme in Tateinheit mit versuchtem Mord und gefährlicher Körperverletzung. Im Oktober 2016 ließ die zuständige Strafkammer des LG die Anklage zur Hauptverhandlung zu und ordnete Haftfortdauer an. Die Hauptverhandlung begann zunächst im November 2016. Bis September 2017 waren 25 Verhandlungstage terminiert. Nach 23 Verhandlungstagen erkrankte die Vorsitzende im August 2017 dauerhaft dienstunfähig. Die Kammer setzte daraufhin die Hauptverhandlung aus. Die Hauptverhandlung begann nach Übernahme der Kammer durch einen neuen Vorsitzenden erneut im Dezember 2017. Bis August 2018 wurde an 25 Tagen, bis November 2018 wurde an vier weiteren Tagen verhandelt. Bis zum 31. Januar 2019 sind/waren weitere 15 Termine bestimmt.
Die Strafkammer hatte mehrmals ihre Überlastung angezeigt. Inzwischen hat das das Präsidium des LG der Strafkammer eine weitere Beisitzerin mit einem Arbeitskraftanteil von 0,2 zugewiesen, und es wurden Haftsachen, in denen eine Hauptverhandlung noch nicht begonnen hatte, anderen Strafkammern zugewiesen. Allerdings verhandelte die Strafkammer zeitgleich in zwei weiteren umfangreichen Haftsachen. Im August 2018 legte der Pflichtverteidiger des Beschwerdeführers Haftbeschwerde ein, mit der er einen Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot rügte. Das OLG hat die Beschwerde als unbegründet verworfen.
Das BVerfG „referiert“ seine Rechtsprechung, die wir alle – hoffentlich – kennen und führt dann zum Fall aus:
2. Diesen Vorgaben genügt der angegriffene Beschluss des Pfälzischen Oberlandesgerichts Zweibrücken nicht. Er zeigt keine besonderen Umstände auf, die die Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft verfassungsrechtlich hinnehmbar erscheinen lassen könnten, und wird damit den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Begründung von Haftfortdauerentscheidungen nicht gerecht.
a) Das Oberlandesgericht selbst weist zunächst zutreffend darauf hin, dass die Terminierung der 1. Großen Strafkammer des Landgerichts Frankenthal (Pfalz) den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Verhandlungsdichte nicht genügt.
aa) Die Strafkammer hat in jedem Betrachtungszeitraum – sowohl in der ersten als auch in der nach der Erkrankung der bisherigen Vorsitzenden erforderlich gewordenen zweiten Hauptverhandlung – weit seltener als an durchschnittlich einem Hauptverhandlungstag pro Woche verhandelt, zuletzt an nur 0,65 Tagen pro Woche. Die Verhandlungsdichte sinkt noch weiter unter diesen Wert, wenn man die Sitzungstage nicht einbezieht, an denen nur kurze Zeit verhandelt und das Verfahren dadurch nicht entscheidend gefördert wurde (vgl. BVerfGK 7, 21 <46 f.>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 17. Januar 2013 – 2 BvR 2098/12 -, juris, Rn. 52).
Selbst wenn bei der Berechnung der Verhandlungsfrequenz die Urlaubszeiträume des Verteidigers und der Kammermitglieder vollständig unberücksichtigt blieben (vgl. hierzu BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 23. Januar 2008 – 2 BvR 2652/07 -, juris, Rn. 53; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 17. Januar 2013 – 2 BvR 2098/12 -, juris, Rn. 51), würde die von Verfassungs wegen gebotene Verhandlungsdichte nicht eingehalten. Auf die Frage, ob die Kammer nicht nur einen Ergänzungsrichter und einen Ergänzungsschöffen, sondern auch einen anderen oder einen weiteren Pflichtverteidiger hätte bestellen müssen, um die Unterbrechungszeiträume zu verkürzen und so eine Beschleunigung des Verfahrens zu erreichen (vgl. hierzu BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 17. Juli 2006 – 2 BvR 1190/06 -, juris, Rn. 9; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 23. Januar 2008 – 2 BvR 2652/07 -, juris, Rn. 49 ff.), kommt es daher nicht an.
bb) Die vom Präsidium des Landgerichts als Reaktion auf die Überlastungsanzeigen getroffenen Maßnahmen haben nicht dazu geführt, dass die vorliegende Haftsache nunmehr innerhalb des durch das Beschleunigungsgebot gezogenen Rahmens bearbeitet und die bereits eingetretene Verfahrensverzögerung wirksam kompensiert worden wäre (vgl. hierzu BVerfGK 12, 166 <168>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 13. Oktober 2016 – 2 BvR 1275/16 -, juris, Rn. 57; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 20. Dezember 2017 – 2 BvR 2552/17 -, juris, Rn. 21; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 11. Juni 2018 – 2 BvR 819/18 -, juris, Rn. 36). Die verfassungsrechtlich gebotene Hauptverhandlungsdichte wurde weiterhin nicht erreicht. Selbst in den Monaten Januar und März 2018, für die das Oberlandesgericht eine „höhere Terminsdichte“ annimmt, haben lediglich vier beziehungsweise zwei Termine stattgefunden. Eine Verhandlungsdichte, die ihrerseits den aus dem Beschleunigungsgrundsatz folgenden Mindestanforderungen nicht entspricht, ist erst recht nicht geeignet, eine bereits eingetretene Verfahrensverzögerung zu kompensieren.
cc) Der Beschwerdeführer kann auch nicht darauf verwiesen und die Verzögerung seines Verfahrens kann nicht dadurch kompensiert werden, dass nunmehr die Voraussetzungen dafür geschaffen wurden, dass andere, zukünftige Verfahren hinreichend beschleunigt verhandelt werden können. Erst recht nach der Erkrankung der bisherigen Vorsitzenden und dem hierdurch bedingten Neubeginn der Hauptverhandlung zu einem Zeitpunkt, als die Untersuchungshaft bereits über eineinhalb Jahre andauerte, hätte es einer Verhandlungsdichte bedurft, die – mindestens – einen Verhandlungstag pro Woche erreicht.
b) Der Beschluss des Pfälzischen Oberlandesgerichts Zweibrücken enthält keine tragfähige Begründung, die ausnahmsweise – trotz der ungenügenden Verhandlungsdichte – die weitere Fortdauer der Untersuchungshaft rechtfertigen könnte.
aa) Das Oberlandesgericht hat nicht nachvollziehbar dargelegt, dass die erschwerte Terminfindung ihre Ursache allein in dem konkreten Strafverfahren hatte und nicht vielmehr darauf zurückzuführen ist, dass die Strafkammer neben dem gegenständlichen Verfahren mehrere weitere, teilweise umfangreiche Haftsachen zu bewältigen hatte. In diesem Zusammenhang hätte sich das Oberlandesgericht insbesondere damit auseinandersetzen müssen, dass bereits die damalige Vorsitzende in ihrer Überlastungsanzeige vom 10. April 2017 mitgeteilt hatte, dass die Strafkammer „in den nächsten Monaten über keinerlei Terminkapazitäten mehr verfügt“, und dass auch nach den Überlastungsanzeigen vom 12. September 2017 und vom 12. Dezember 2017 keine Terminskapazitäten mehr bestanden beziehungsweise die Kammer mit Sitzungstagen maximal belastet war. Vor diesem Hintergrund drängt sich auf, dass die geringe Verhandlungsdichte nicht etwa auf die – vom Oberlandesgericht jeweils ausführlich dargelegte – Verhinderung einzelner Verfahrensbeteiligter, insbesondere des Pflichtverteidigers wegen seiner häufigen, teils mehrwöchigen Urlaubsabwesenheit, sondern vor allem darauf zurückzuführen ist, dass die Strafkammer aufgrund ihrer Belastung mit weiteren Verfahren ohnehin keine freien Verhandlungskapazitäten mehr zur Verfügung hatte.
Soweit das Oberlandesgericht ausführt, zu Beginn der zweiten Hauptverhandlung sei die Strafkammer zwar stark ausgelastet gewesen, eine Überlastung mit Haftsachen sei aber noch nicht feststellbar, steht dies nicht nur im Widerspruch zur Einschätzung der mit der Sache befassten Strafkammer in ihren wiederholten Überlastungsanzeigen, sondern auch mit dem vom Oberlandesgericht zugleich angeführten Umstand, dass die Kammer auch in zwei weiteren, zeitgleich anhängigen Haftsachen an 32 beziehungsweise 39 Sitzungstagen verhandelt.
bb) Die vom Oberlandesgericht im Übrigen angeführten Gesichtspunkte – namentlich die Komplexität des Verfahrens, die äußerst schwerwiegenden Tatvorwürfe und die Verfahrensverzögerungen wegen des Verhaltens des Verteidigers – mögen zwar die Untersuchungshaft als solche und die Anzahl der benötigten Hauptverhandlungstage und deren Dauer rechtfertigen, nicht jedoch das Unterlassen einer dichteren Terminierung (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 23. Januar 2008 – 2 BvR 2652/07 -, juris, Rn. 56). Auch die Erkrankung der bisherigen Vorsitzenden kann als unvorhersehbares, schicksalhaftes Ereignis zwar ausnahmsweise die Fortdauer der Untersuchungshaft auch während der erforderlich werdenden neuen Hauptverhandlung rechtfertigen, nicht aber eine durchgehend zu geringe Termindichte.
c) Demgegenüber hat sich das Oberlandesgericht nicht hinreichend mit den Gesichtspunkten auseinandergesetzt, die grundsätzlich geeignet sein können, die Fortdauer der Untersuchungshaft trotz ungenügender Verhandlungsdichte verfassungsrechtlich zu rechtfertigen.
aa) So verhält sich der Beschluss nicht dazu, ob die Belastungssituation der Strafkammer – wie der Präsident des Landgerichts Frankenthal (Pfalz) in seiner Stellungnahme vom 3. Dezember 2018 schreibt – erst zu Beginn des Jahres 2017 eingetreten ist und nachweislich – etwa durch eine im Vergleich außergewöhnlich hohe Zahl von Verfahrenseingängen, insbesondere besonders umfangreicher Haftsachen – unvorhersehbar und somit unvermeidbar war, oder ob die Strafkammer bereits vorher dauerhaft, nicht nur vorübergehend überlastet war und damit letztlich eine unzureichende Personalausstattung oder -verwaltung die wesentliche Ursache für die lange Verfahrensdauer ist. Maßgeblich ist dabei nicht der theoretische Deckungsgrad der Strafabteilung des Landgerichts nach dem Personalbedarfsberechnungssystem („PEBB§Y“) der Justizverwaltung, sondern allein die tatsächliche Belastungssituation des zuständigen Spruchkörpers, wie sie sich hier insbesondere aus den zahlreichen Überlastungsanzeigen ergibt. Dabei ist zu beachten, dass es nicht Aufgabe eines Gerichts sein kann, eine strukturell zu geringe Personalausstattung oder eine dauerhafte Überlastung mit Haftsachen durch einen langfristig überobligatorischen Arbeitseinsatz oder eine langfristige Beschränkung ihrer Verhandlungskapazitäten ausschließlich auf Haftsachen zu kompensieren.
bb) Auch setzt sich der angegriffene Beschluss nicht mit den von der Justizverwaltung aus Anlass der Überlastungsanzeigen jeweils getroffenen Abhilfemaßnahmen auseinander, die in der Stellungnahme des Ministeriums der Justiz Rheinland-Pfalz und der dort wiedergegebenen Stellungnahme des Präsidenten des Landgerichts Frankenthal (Pfalz) dargestellt sind. Das Oberlandesgericht wäre insoweit gehalten gewesen, ausgehend von der tatsächlichen Belastungssituation der Strafkammer darzulegen, inwieweit die jeweils von der Justizverwaltung getroffenen Maßnahmen nach Art, Zielrichtung und Umfang rechtzeitig, geeignet und hinreichend wirksam waren, um die Voraussetzungen für eine dem Beschleunigungsgebot genügende Verfahrensgestaltung (wieder)herzustellen, oder ob die Justizverwaltung die gebotenen Maßnahmen erst zu einem Zeitpunkt getroffen hat, zu dem eine den rechtsstaatlichen Anforderungen genügende Verfahrensführung nicht mehr zu gewährleisten war (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 20. Dezember 2017 – 2 BvR 2552/17 -, juris, Rn. 21; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 11. Juni 2018 – 2 BvR 819/18 -, juris, Rn. 35).
cc) Für den Fall, dass sowohl eine außergewöhnliche, unvorhersehbare Belastungssituation der Strafkammer anzunehmen ist als auch die Reaktionen der Justizverwaltung hierauf jeweils als ausreichend zu erachten sind, wäre schließlich darzulegen gewesen, ob die – nach Erkrankung der bisherigen Vorsitzenden neu besetzte – Strafkammer im Rahmen der neu begonnenen Hauptverhandlung das vorliegende Verfahren unter den gegebenen Voraussetzungen tatsächlich hinreichend beschleunigt betrieben hat und etwaige Verfahrensverzögerungen ihre Ursache ausschließlich in dem konkreten Strafverfahren haben.“