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OWi I: Rotlichtverstoß auf der Rechtsabbiegespur, oder: Augenblicksversagen des Taxifahrers

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Heute dann wieder Entscheidungen aus dem Bußgeldverfahren.

Zunächst hier zwei Entscheidungen zum Rotlichverstoß (§ 37 StVO), und zwar:

1. Ein Fahrzeugführer, der auf einer Rechtsabbiegerspur bei Rotlicht (schwarzer Pfeil nach rechts) in den Kreuzungs- bzw. Einmündungsbereich einfährt, begeht auch dann einen Rotlichtverstoß, wenn er nicht nach rechts abbiegen will, sondern die Rechtsabbiegerspur nur zum Überholen eines auf der Geradeausspur, für die der Verkehr freigegeben ist, fahrenden Fahrzeugs benutzt und anschließend geradeaus weiterfährt. Dies gilt aber nur dann, wenn er sich im Zeitpunkt des Einfahrens in den durch die Lichtzeichenanlage gesicherten Kreuzungs- bzw. Einmündungsbereich zumindest noch teilweise auf der Rechtsabbiegerspur befindet.

2. Der Einmündungsbereich wird im Falle einer bogenförmig verlaufenden Einmündung durch den Punkt bestimmt, an dem die Geradeausspur und der Beginn der Kurvenkrümmung zusammentreffen.

3. Bei Fahrstreifenmarkierungen mit Pfeilen (Zeichen 297 der Anlage 2 zur StVO) zwischen Leitlinien (Zeichen 340 der Anlage 3 zur StVO) ist es gemäß lfd. Nr. 70 der Anlage 2 zur StVO gestattet, in Abweichung von § 5 Abs. 1 StVO rechts zu überholen.

1. Von der Anordnung eines Fahrverbots beim Rotlichtverstoß kann abgesehen werden, wenn ein atypischer Fall vorliegt, bei dem der Erfolgsunwert verringert ist, insbesondere wenn jede konkrete Gefährdung ausgeschlossen gewesen ist oder eine Verkehrssituation vorliegt, welche die Unaufmerksamkeit des Betroffenen und seine Sorgfaltswidrigkeit im Sinne eines so genannten Augenblicksversagens in einem signifikant milderen Licht erscheinen lassen könnten.

2. Ein Augenblicksversagen kann bei einem „Frühstart“ oder „Mitzieheffekt“ vorliegen. Kein Augenblicksversagen ist anzunehmen, wenn ein ortskundiger Taxifahrer bei Dunkelheit mit unverminderter Geschwindigkeit eine bereits seit Längerem Rotlicht zeigende Lichtzeichenanlage überfährt, weil er diese überhaupt nicht wahrgenommen hat.

 

 

 

 

Zustellung II: Fristbeginn bei Doppelzustellung, oder: Zweite Zustellung nach erstem Fristablauf

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Bei der zweiten Entscheidung, die ich vorstelle, handelt es sich um den BayObLG, Beschl. v. 06.04.2022 – 202 ObOWi 366/22 – zum Fristbeginn für die Rechtsbeschwerdeeinlegung bei Doppelzustellung eines Abwesenheitsurteils an den Betroffenen und seinen Verteidiger.

Das AG hat am 07.12.2021 gemäß § 74 Abs. 2 OWiG den Einspruch des Betroffenen gegen den Bußgeldbescheid verworfen. Das AG ordnete – entgegen § 145a Abs. 3 StPO i.V.m. § 71 Abs. 1 OWiG – die Zustellung des Urteils sowohl an den Betroffenen als auch an seinen Wahlverteidiger an. Ausweislich der Postzustellungsurkunde erfolgte die Zustellung an den Betroffenen am 09.12.2021. Das Empfangsbekenntnis, das den Zusatz enthielt, dass er zur Entgegennahme legitimiert sei, unterzeichnete der Verteidiger am 28.12.2021. Mit Schriftsatz vom 28.12.2021 beantragte der Verteidiger die Bewilligung von Wiedereinsetzung wegen Versäumung der Hauptverhandlung und legte vorsorglich Rechtsbeschwerde ein, deren Zulassung beantragt wurde. Über das Wiedereinsetzungsgesuch wurde mittlerweile rechtskräftig entschieden. Die Generalstaatsanwaltschaft hat mit Zuleitungsschrift vom 09.03.2022 beantragt, den Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde als unzulässig zu verwerfen, weil er nicht fristgerecht eingereicht worden sei.

Das BayObLG hat den Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde als unzulässig verworfen:

„…weil er entgegen § 80 Abs. 3 Satz 3 OWiG i.V.m. § 341 Abs. 1 und 2 StPO nicht innerhalb der Wochenfrist beim Amtsgericht eingereicht wurde.

a) Die Wochenfrist des § 341 Abs. 1 StPO i.V.m. §§ 80 Abs. 3 Satz 1, 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG begann, nachdem die Verkündung des Urteils in Abwesenheit des Betroffenen erfolgt war, gemäß § 341 Abs. 2 StPO i.V.m. §§ 80 Abs. 3 Satz 1, 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG mit der Zustellung des Urteils an den Betroffenen am 09.12.2021 und lief daher am 16.12.2021 ab mit der Folge, dass der erst am 28.12.2021 eingegangene Zulassungsantrag verspätet ist.

b) Auf die Zustellung des Urteils an den Verteidiger, die ausweislich des Empfangsbekenntnisses erst am 28.12.2021 bewirkt wurde, kommt es für die Fristberechnung nicht an.

aa) Allerdings folgt dies – entgegen der Annahme der Generalstaatsanwaltschaft – nicht bereits daraus, dass der Verteidiger keine Vollmacht zu den Akten gereicht hatte.

(1) Zwar setzt die gesetzliche Zustellungsvollmacht nach der insoweit einschlägigen Bestimmung des § 145a Abs. 1 StPO i.V.m. § 71 Abs. 1 OWiG voraus, dass sich eine schriftliche Vollmacht des Verteidigers bei den Akten befindet, was hier nicht der Fall war.

(2) Da aber auf dem Empfangsbekenntnis, das der Urteilszustellung an den Verteidiger beigefügt war, die Bestätigung des Verteidigers aufgedruckt war, dass er „zur Empfangnahme legitimiert“ ist, und der Verteidiger dies unterzeichnet hat, ist von einer rechtsgeschäftlichen Zustellungsvollmacht auszugehen (vgl. BayObLG, Beschl. v. 14.01.2004 – 2St RR 188/2003 = BayObLGSt 2004, 1 = NJW 2004, 1263 = wistra 2004, 198 = VRS 106, 292 (2004) = ZfSch 2004, 282 = NZV 2004, 315 = DAR 2004, 405).

bb) Gleichwohl kommt es – trotz der Bestimmung des § 37 Abs. 2 StPO, wonach sich die Fristberechnung bei Zustellungen an mehrere Empfangsberechtigte nach der zuletzt bewirken Zustellung richtet (vgl. hierzu nur BGH, Beschl. v. 02.03.2021 – 2 StR 267/20 bei juris; 01.06.2015 – 4 StR 21/15 = NStZ 2015, 540 = wistra 2015, 356) – für den Fristbeginn nach § 341 Abs. 2 StPO dann auf die erste Zustellung an, wenn die zweite Zustellung erst bewirkt wird, wenn die durch die erste Zustellung in Lauf gesetzte Frist bereits abgelaufen war, weil durch die Zustellung an einen weiteren Empfangsberechtigten nicht eine neue Frist eröffnet wird (vgl. nur BGH, Beschl. v. 12.09.2017 – 4 StR 233/17 = NStZ 2018, 153; 27.06.2017 – 2 StR 129/17 = NStZ-RR 2017, 285 = BGHR StPO § 44 Anwendungsbereich 4; 01.06.2015 – 4 StR 21/15 = NStZ 2015, 540 = wistra 2015, 356). Dies gilt selbst dann, wenn die weitere Zustellung noch vor Fristablauf angeordnet worden war (BGH, Beschl. v. 30.07.1968 – 1 StR 77/68 = BGHSt 22, 221; Meyer-Goßner/Schmitt StPO 64. Aufl. § 37 Rn. 29 m.w.N.). So lag die Verfahrenssituation aber hier: Die mit der Zustellung an den Betroffenen am 09.12.2021 in Lauf gesetzte Frist des § 341 StPO endete am 16.12.2021, sodass die erst am 28.12.2021 erfolgte Zustellung an den Verteidiger keine neue Frist mehr in Lauf setzen konnte.

Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand von Amts wegen nach § 45 Abs. 2 Satz 3 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG scheidet bereits deshalb aus, weil nach dem bisherigen Vortrag ein Verschulden des Betroffenen an der Versäumung der Frist nicht ausgeschlossen werden kann. Erforderlich für ein fehlendes Verschulden wäre es, dass der Betroffene seinen Verteidiger rechtzeitig, d.h. vor Ablauf der Rechtsmittelfrist, die am 16.12.2021 endete, mit der Einlegung des Rechtsmittels beauftragt hätte (st.Rspr.; vgl. nur BGH, Beschl. v. 20.12.2021 – 4 StR 439/21; 11.07.2019 – 1 StR 233/19; 02.07.2019 – 2 StR 570/18; 12.12.2018 – 3 StR 519/18; 12.07.2017 – 1 StR 240/17, bei juris; 14.01.2015 – 1 StR 573/14 = NStZ-RR 2015, 145; 23.09.2015 – 4 StR 364/15 = NStZ 2017, 172 = AnwBl 2016, 73; OLG Bamberg, Beschl. v. 23.03.2017 – 3 Ss OWi 330/17 bei juris und 24.10.2017 – 3 Ss OWi 1254/17 = OLGSt StPO § 45 Nr 20, jeweils m.w.N.). Der Verteidiger hat zwar mit dem Zulassungsantrag vom 28.12.2021 erklärt, dass dieser „namens und im Auftrag“ des Betroffenen gestellt werde. Dabei bleibt aber offen, wann der Auftrag erteilt wurde, sodass der Senat nicht prüfen kann, ob dies rechtzeitig vor Ablauf der Frist zur Anbringung des Zulassungsantrags geschah.“

Zustellung I: (Un)Wirksame Ersatzzustellung?, oder: Wenn der Betroffene angegeben hat, wo er wohnt

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In meinem Ordner hängen einige Entscheidungen zu Zustellungsfragen. Die stelle ich heute vor.

Zunächst kommt hier der schon etwas ältere BayObLG, Beschl. v. 13.12.2021 – 201 ObOWi 1475/21. Das BayObLG nimmt inb ihm noch einmal Stellung zur Frage der Zulässigkeit der Berufung auf die unwirksame Ersatzzustellung des Bußgeldbescheides.

Der Betroffene hatte im Verfahren Verjährung geltend gemacht. Dem lag folgender Verfahrensablauf zugrunde:

„Der Verkehrsverstoß war mit einem bei der Autovermietung A angemieteten Fahrzeug begangen worden. Die Firma A teilte unter dem 15.05.2020 mit, dass Mieterin die Betroffene war und kein eingetragener zweiter Mieter vorhanden sei. Als Anschrift der Betroffenen teilte die Firma A die F.-Straße 4 in M. mit. Die Zustellung des Bußgeldbescheides erfolgte ausweislich der Postzustellungsurkunde am 19.08.2020 durch Einlegung in den zum Geschäftsraum F—Straße 4 in M. gehörenden Briefkasten. Der Verteidiger hat unter dem 24.08.2020 „namens und im Auftrag der Mandantschaft“ Einspruch eingelegt. Mit Schriftsatz vom 22.09.2020 beantragte der Verteidiger die Einstellung des Verfahrens wegen Eintritts der Verfolgungsverjährung und machte geltend, dass die Betroffene weder unter dieser Anschrift in M. wohne noch dort über Geschäftsräume verfüge. An dieser Adresse befände sich lediglich eine Firma X. GmbH, die trotz desselben Namens nichts mit der Betroffenen zu tun habe; die Betroffene sei weder Geschäftsführerin noch Gesellschafterin. Bedauerlicherweise werde diese Adresse häufiger genutzt, um der Betroffenen etwas zuzustellen. Deshalb wisse diese Firma, wer der Verteidiger der Betroffenen ist, und habe deshalb dem Verteidiger den Bußgeldbescheid in Kopie weitergeleitet. Tatsächlich war die Betroffenen nur bis zum 12.12.2011 unter dieser Anschrift in M. gemeldet. Auf Anfrage die Tatrichterin vom 04.11.2020 nach der zutreffenden aktuellen Anschrift der Betroffenen teilte der Verteidiger mit Schriftsatz vom 01.12.2020 mit, dass die Betroffene bereits seit Jahren in Großbritannien wohnhaft sei. Aus dem Fahreignungsregister sei eine Entscheidung des Amtsgerichts M. aus dem Jahr 2018 erkennbar, in welcher auch die aktuelle Anschrift der Betroffenen aufgenommen worden ist. Die Tatrichterin ließ daraufhin mit Verfügung vom 02.12.2020 durch die PI M. die ladungsfähige Anschrift der Betroffenen ermitteln. Die Polizeiinspektion teilte unter dem 28.12.2020 mit, dass die Betroffene seit Jahren dem polizeilichen Sachbearbeiter aus Aufenthalts- und Ermittlungsverfahren bekannt sei. Es sei keine Adresse in Deutschland vorhanden. An der Anschrift in M. befänden sich die Büroräume der Firma X. Immobilien GmbH. Die Betroffene komme aber in unregelmäßigen Abständen vorbei. Im Gebäude wohne ihre Mutter, bei der sie hin und wieder übernachte. Bei einer telefonischen Rückfrage am 28.12.2020 gab sie gegenüber dem polizeilichen Sachbearbeiter an, dass sie derzeit beruflich in H. sei und verwies erneut auf ihre dem polizeilichen Sachbearbeiter bereits bekannte Anschrift in M. In M. seien die Angestellten angewiesen, keine behördliche Post für die Betroffene anzunehmen. Nach den Urteilsfeststellungen wurde die Betroffene am 11.06.2020 wegen eines Handyverstoßes kontrolliert und gab bei der Anhaltung an, dass sie in der F.-Straße 4 in M wohne.

Mit Verfügung vom 04.01.2021 ordnete die Tatrichterin die Zustellung der Ladung an die Betroffene an die von ihr angegebene Adresse in Großbritannien an, zusätzlich die Ladung mit einfachem Brief auch an die Adresse F.-Straße 4 in M. Der Zustellversuch in Großbritannien mit Einschreiben und Rückschein blieb (bis heute) erfolglos. Nach zwischenzeitlicher Einstellung des Verfahrens gemäß § 205 StPO und der angeordneten Aufenthaltsermittlung gab die Betroffene bei einer polizeilichen Verkehrskontrolle am 14.04.2021 an, sie sei unter der Anschrift F.-Straße 4 in M erreichbar.“

Das BayObLG sagt dazu:

„bb) Die Betroffene muss sich so behandeln lassen, als sei die Zustellung des Bußgeldbescheides am 19.08.2020 wirksam.

(1) Eine wirksame Zustellung an die Betroffene ist unter der Anschrift in M. nicht erfolgt. Nach § 51 Abs. 1 OWiG, Art. 3 Abs. 2 Satz 1 BayVwZVG gelten für die Zustellung eines Bußgeldbescheides durch die Post mittels Zustellungsurkunde die Vorschriften der §§ 177 bis 182 ZPO entsprechend. Nach §§ 178 Abs. 1, 180 Satz 1 ZPO erfordert eine Ersatzzustellung durch Niederlegung in den zur Wohnung bzw. zum Geschäftsraum (vgl. zur Gleichwertigkeit beider OLG Brandenburg, Urt. v. 22.07.2009 – 3 U 105/08 bei juris) gehörenden Briefkasten, dass der Betroffene dort tatsächlich wohnhaft ist bzw. einen Geschäftsraum unterhält (vgl. BGH, Urt. v. 16.6.2011 – III ZR 342/09 = BeckRS 2011, 18958 Rn. 13 = BGHZ 190, 99 = NJW 2011, 2440; MüKo/Häublein/Müller 6. Aufl. 2020 ZPO § 180 Rn. 2). Dies ist hier durch die getroffenen Feststellungen nicht belegt. Trotz der Namensgleichheit steht nicht fest, dass die Betroffene mit der Firma X., die unter der Anschrift F.-Straße 4 in M. einen Geschäftssitz unterhält, in geschäftlicher Verbindung steht. Es lässt sich auch nicht sicher feststellen, dass die Betroffene, die dort bis zum Jahr 2011 amtlich gemeldet war, (noch) einen Wohnsitz in M. innehat. Es genügt grundsätzlich auch nicht, dass die Betroffene den Rechtsschein gesetzt hatte, unter der genannten Anschrift über einen Wohn- bzw. Geschäftssitz zu verfügen (vgl. BGH a.a.O. Rn. 13, 14).

(2) Es stellt allerdings vorliegend eine unzulässige Rechtsausübung dar, wenn sich die Betroffene auf die Unwirksamkeit der Ersatzzustellung beruft. Die Betroffene hat nämlich den Irrtum über ihren tatsächlichen Lebensmittelpunkt bewusst und zielgerichtet herbeigeführt, sodass es ihr nach dem Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) versagt ist, sich auf die Unwirksamkeit einer Zustellung zu berufen (vgl. BGH a.a.O. Rn. 15; Beschl. v. 14.05.2019 – X ZR 94/18 = BeckRS 2019, 19203 = NJW 2019, 2942; OLG Dresden, Beschl. v. 26.10.2020 – 4 U 1563/20 = BeckRS 2020, 37503), was auch auf keine durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken stößt (vgl. BVerfG NJW-RR 2010, 421). Diese Grundsätze gelten für die Zustellung eines Bußgeldbescheides in gleicher Weise (vgl. BayObLGSt 2004, 33 = DAR 2004, 281) und sind insbesondere für die Fälle anerkannt, dass sich der Adressat dolos als an dem entsprechenden Wohn- bzw. Geschäftsort aufenthältlich geriert, seinen Schriftwechsel unter dieser Anschrift führt und seine Post dort abholt (vgl. OLG Hamm NStZ 2015, 525; OLG Jena NStZ-RR 2006, 238).

Demnach muss sich die Betroffene vorliegend so behandeln lassen, als habe sie unter der Anschrift F.-Straße 4 in M. einen Wohn- oder Geschäftssitz. Die Betroffene hatte gegenüber der Autovermietung die genannte Adresse als Wohnanschrift genannt, sodass sie zurechenbar den Rechtsschein gegenüber den Bußgeldbehörden gesetzt hatte, sie sei unter dieser Anschrift im Zusammenhang mit eventuellen Verkehrsverstößen postalisch erreichbar. Es kommt hinzu, dass die Betroffene am 11.06.2020 und damit vor Zustellung des hier verfahrensgegenständlichen Bußgeldbescheides wegen eines Verstoßes gegen § 23 Abs. 1a StVO kontrolliert wurde und bei der Kontrolle angab, dass sie unter der genannten Anschrift in M. wohne. Gleiches gab sie – wenn auch nach dem verfahrensgegenständlichen Vorfall – bei einer Verkehrskontrolle am 14.04.2021 an. Damit setzt die Betroffene fortlaufend zurechenbar den Rechtsschein, dort postalisch erreichbar zu sein.

Entgegen diesem von ihr gesetzten Rechtsschein gibt sie in einem Telefonat vom 28.12.2020 gegenüber dem mit der Aufenthaltsermittlung beauftragten Polizeibeamten an, dass die Angestellten der Firma X. angewiesen seien, keine Zustellungen für sie entgegenzunehmen. Auch aus dem Schriftsatz des Verteidigers vom 22.09.2020 ergibt sich, dass „bedauernswerterweise häufiger diese Adresse genutzt wird, um der Betroffenen etwas zuzustellen“, was angesichts der vorgenannten Umstände naheliegend darauf zurückzuführen ist, dass die Betroffene die Anschrift in M. als ladungsfähige Adresse benennt. Vorliegend erfolgte die Niederlegung in den Briefkasten der Firma X. am 19.08.2020 und bereits mit Schriftsatz vom 24.08.2020 hat der Verteidiger Einspruch eingelegt. In der Gesamtschau lässt dies nur den Schluss zu, dass die Betroffene zurechenbar den Anschein gesetzt hat, in M. wohnhaft bzw. zumindest postalisch erreichbar zu sein, sodass es ihr nach den Grundsätzen von Treu und Glauben verwehrt ist, sich auf einen Zustellungsmangel zu berufen.“

BtM II: Nur geringe Überschreitung des Grenzwertes, oder: Minder schwerer Fall?

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Als zweite BtM-Entscheidung stelle ich dann den BayObLG, Beschl. v. 14.09.2021 – 207 StRR 371/21 – vor. Problematik: Die Annahme eines minder schweren Falles bei § 29a BtMG. Das BayObLG meint das: Eine nur geringe Grenzwertüberschreitung ist ein Kriterium für die Annahme eines minder schweren Falles, während eine ganz erhebliche Überschreitung gegen die Annahme eines solchen spricht:

„b) Die Nachprüfung des Strafausspruches hat Erörterungsmängel des Amtsgerichts ergeben, die sich als sachlich-rechtliche Fehler des Urteils erweisen und verhindern, dass das Urteil sich insoweit auf tragfähige Grundlagen stützt.

aa) Die Rechtsfolgenbemessung ist zwar ureigene Aufgabe des Tatrichters und unterliegt einer nur eingeschränkten Nachprüfung durch das Revisionsgericht. Die tatrichterlichen Erwägungen hat das Revisionsgericht bis zur Grenze des Vertretbaren hinzunehmen, solange und soweit der Rechtsfolgenausspruch einen angemessenen Schuldausgleich darstellt. Indessen prüft das Revisionsgericht nach, ob die tatrichterliche Rechtsfolgenentscheidung auf tragfähige Grundlagen gestützt ist und sich von rechtlich anerkannten Strafzumessungserwägungen hat leiten lassen (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., § 337 Rdn. 34f.).

bb) Wie die Revision zutreffend ausführt, ist die Verneinung eines minder schweren Falles nach § 29a Abs. 2 BtMG durch den Tatrichter von Rechtsirrtum beeinflusst.

Denn das Amtsgericht hat hierfür nur angeführt, „dass die Grenze zur nicht geringen Menge um ca. 40 % überschritten war (UA S. 5). Nach ständiger neuerer Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes ist jedoch eine nur geringe Grenzwertüberschreitung ein Kriterium für die Annahme eines minder schweren Falles, während eine ganz erhebliche Überschreitung gegen die Annahme eines solchen spricht (vgl. BGH, Beschluss vom 11.09.2019, 2 StR 68/19, zitiert nach juris, dort Rdn. 5, sowie Urteil vom 20.08.2019, 1 StR 209/19, zitiert nach juris, dort Rdn. 14). Eine geringe Grenzwertüberschreitung ist hier anzunehmen (vgl. BGH vom 11.09.2019 aaO Rdn. 6: 2,5fache Überschreitung des Grenzwertes). Nicht tragfähig sind demgegenüber die Überlegungen der Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Antragsschrift vom 24. August 2021 (dort S. 3, 2. Absatz): die bloß abstrakte Möglichkeit der Weitergabe der Drogen an Dritte darf gerade nicht strafschärfend herangezogen (vgl. Körner(Patzak/Volkmer, BtMG, 9. Aufl., § 29a Rdn. 130 m. w. N.) und somit auch nicht zur Verneinung eines minder schweren Falles verwertet werden.

Da das angefochtene Urteil keine weiteren Gründe zur Ablehnung der Voraussetzungen des § 29a Abs. 2 BtMG anführt und auch die weitere Strafzumessung (UA S. 5) im wesentlichen Umstände zugunsten des Angeklagten anführt, fehlt es insoweit an einer schlüssigen Begründung.

cc) Darüber hinaus leidet auch die Anordnung des Fahrverbotes von einem Monat an einem Begründungsmangel. Das Amtsgericht hat insoweit lediglich auf §§ 24a, 25 StVG verwiesen (UA S. 5). Da ein Schuldspruch hinsichtlich einer Ordnungswidrigkeit nach § 24a StVG nicht erfolgt ist und dies auch nicht nachgeholt werden kann (s. o.), konnte ein Fahrverbot nicht auf § 25 StVG gestützt werden. Mit den Voraussetzungen des § 44 StGB, nach dem ein Fahrverbot nach dem Ermessen des Tatrichters angeordnet werden kann und in dessen Rahmen auch das festgestellte Führen eines Kraftfahrzeuges unter Drogeneinfluss (UA S. 3) hätte gewürdigt werden können, hat sich der Erstrichter (aus seiner Sicht folgerichtig) nicht befasst….“

Beweiswürdigung III: Lückenlose Gesamtwürdigung, oder: Erfahrungssatz ohne Erfahrung

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Und zum Tagesschluss dann noch der BayObLG, Beschl. v. 03.02.2022 – 202 StRR 11/22 – zu einer rechtsfehlerhaften Beweiswürdigung bei Bejahung des Tatentschlusses für den Versuch der gefährlichen Körperverletzung. Das AG hate den Angeklagten wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte verurteilt. Das LG hat die dagegen gerichtete Berufung verworfen. Dagegen dann die Revision, die beim BayObLG Erfolg hatte. Das BayObLG beanstandet die Beweiswürdigung:

„2. Allerdings kann die Verurteilung aufgrund der Sachrüge keinen Bestand haben, weil das angefochtene Urteil sachlich-rechtliche Fehler aufweist.

a) Soweit für die Entscheidung des Senats relevant, hat die Berufungskammer folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

Am Abend des 24.01.2019 kam es im Anschluss an eine tätliche Auseinandersetzung des Angeklagten mit seiner Ehefrau in deren gemeinsamer Wohnung im zweiten Stock eines Mietshauses zu einem Polizeieinsatz, nachdem die Ehefrau vor dem randalierenden Angeklagten zu ihrem im ersten Stock des Anwesens wohnenden Nachbarn geflüchtet war. Die zunächst aus einer Polizeibeamtin und einem Polizeibeamten bestehende Streife vor Ort entschloss sich, Verstärkung anzufordern und nach deren Eintreffen zur Aufklärung des Sachverhalts und zur Erteilung eines etwaigen Platzverweises den weiter lautstark randalierenden Angeklagten in dessen Wohnung aufzusuchen. Nach Eintreffen eines dritten Beamten begaben sich die beiden erstgenannten Beamten wieder in den 1. Stock, während sich der dritte Beamte noch im Treppenhaus auf dem Weg in den 1. Stock befand. In diesem Moment kam der Angeklagte aufgebracht und schreiend aus dem 2. Stock die Treppe hinunter, wobei er in der linken Hand einen ca. 0,95 Meter langen Birkenstock hielt und in der rechten Hand eine Axt mit einer Gesamtlänge von ca. 38 cm und geschärfter Klinge mit einer Klingenlänge von ca. 10 cm. Er hielt dabei den Birkenstock mit angewinkeltem Arm halbhoch vor seinen Körper und die Axt zunächst etwa auf Schulterhöhe. Dabei schrie der Angeklagte Unverständliches. Auf die Aufforderung „Waffe weg“ der beiden bereits im 1. Stock befindlichen Polizeibeamten reagierte der Angeklagte nicht, obgleich beide Beamte ihren Einsatzstock zogen. Während diese daraufhin im Flur zurückwichen, ging der Angeklagte mit dem Holzstock und der erhobenen Axt weiter auf die [beiden] Beamten zu. Die Polizeibeamtin warf ihren Einsatzstock weg und ergriff ihre Dienstwaffe. Der Angeklagte bewegte sich dabei immer noch auf die [beiden] Beamten […] zu, wobei er die Axt so hielt, dass die scharfe, geschliffene Seite der Axt in deren Richtung zeigte. Trotz eines erneuten Rufs der Beamten „Waffe weg“, bewegte sich der Angeklagte jedoch weiterhin auf die [beiden] Polizeibeamtem zu und machte mit der Axt eine Ausholbewegung nach oben über seinen Kopf, um auf die Beamten einzuschlagen und diese durch Einsatz von Axt und Stock zu verletzen. Der Angeklagte handelte dabei in der Absicht, sich den polizeilichen Anordnungen zu widersetzen. Insbesondere weigerte er sich, Axt und Stock wegzulegen. Als sich der Angeklagte noch etwa 2 Meter von den beiden Beamten entfernt befand, gab der zur Verstärkung hinzugezogene, sich zu diesem Zeitpunkt noch auf der Treppe zum 1. Stock befindliche dritte Polizeibeamte aus dem Treppenhaus heraus insgesamt 5 Schüsse aus seiner Dienstpistole ab, die den Angeklagten jedoch verfehlten. Der Angeklagte wich jetzt zunächst ins Treppenhaus zum 2. Stock zurück, ehe er unmittelbar darauf von den Beamten nach Einsatz von Pfefferspray überwältigt werden konnte. Bei dem Versuch der drei Beamten, den Angeklagten am Boden zu fixieren und zu fesseln, leistete dieser weiterhin Widerstand, indem er die Arme unter dem Körper sperrte und diese trotz Aufforderung nicht freigab. Nur unter Einsatz von Kraftaufwand gelang es den drei Beamten, die Hände des Angeklagten auf den Rücken zu ziehen und diesen letztlich zu fesseln.

b) Die Beweiswürdigung ist zum festgestellten Tatentschluss, der auf die Verwirklichung einer versuchten gefährlichen Körperverletzung gemäß §§ 224 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2, 22 StGB gerichtet ist, rechtsfehlerhaft. Dies erfasst zugleich den Schuldspruch wegen tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte gemäß § 114 Abs. 1 StGB, weil dieser eine unmittelbar auf den Körper des Beamten zielende Einwirkung, die nicht zum Erfolg geführt haben muss, voraussetzt (vgl. zuletzt BayObLG, Beschl. v. 01.06.2021 – 202 StRR 54/21 bei juris), was durch die Beweiswürdigung ebenfalls nicht belegt wird.

…..

bb) Diesen Anforderungen wird die Beweiswürdigung der Berufungskammer nicht gerecht.

(1) Das Landgericht schließt aus dem objektiven Geschehen, nämlich das Erheben der Axt in eine „Ausholbewegung“ über den Kopf und dem Zugehen des Angeklagten auf die Polizeibeamten, darauf, dass „der Angeklagte sich im Begriff befand, auf die Beamten einzuschlagen und dabei eine Verletzung in Kauf zu nehmen“. Schon die Annahme des Landgerichts, das objektive Geschehen lasse „nur“ den von ihm gezogenen Schluss zu, ist nicht haltbar. Das Landgericht legt seiner Überzeugungsbildung einen Erfahrungssatz zugrunde, den es nicht gibt, und lässt außer Acht, dass das Verhalten des Angeklagten auch ohne weiteres dahingehend interpretiert werden könnte, dass er die Polizeibeamten mit der Verwirklichung bedrohen wollte. Mit der von der Berufungskammer gezogenen Schlussfolgerungen hat sie sich den Blick auf eine denkbare und keineswegs durch die Beweiswürdigung fehlerfrei ausgeschlossene Sachverhaltsalternative von vornherein verstellt. Dies gilt umso mehr, als es nicht darauf ankommt, wie die Polizeibeamten das Verhalten des Angeklagten in der konkreten Situation verstehen mussten. Denn aus ihrer Sicht, die darauf gerichtet sein musste, erforderliche Maßnahmen nach dem Polizeiaufgabengesetz zu treffen, war es allein maßgeblich, ob eine konkrete Gefahr oder zumindest eine Anscheinsgefahr bestand (vgl. Art. 11 Abs. 1 Satz 1, 84 Abs. 1 Nr. 1 PAG in der zur Tatzeit geltenden Fassung v. 18.05.2018). Im Strafverfahren geht es aber im Gegensatz dazu darum, ob dem Angeklagten die Begehung der ihm angelasteten Straftat positiv nachgewiesen werden kann.

(2) Die Berufungskammer hat überdies die zwingend erforderliche, an einer lückenlosen Beweiswürdigung auszurichtende Gesamtwürdigung unterlassen.

(a) Das Berufungsurteil trifft keine Feststellungen dazu, dass der Angeklagte Hiebbewegungen in Richtung der Beamten unternommen hätte. Gerade damit hätte sich der Tatrichter aber auseinandersetzen müssen, zumal – wie dargelegt – die Bedeutung der Ausholbewegung als solche ambivalent ist.

(b) Das weitere Tatgeschehen nach Überwältigung des Angeklagten mittels des Einsatzes von Pfefferspray durch die Polizeibeamten hat das Landgericht bei seiner Überzeugungsbildung ebenfalls nicht in seine Überlegungen eingestellt und offensichtlich deshalb insoweit nur lückenhafte Feststellungen getroffen. Das Berufungsurteil stellt insoweit fest, dass der Angeklagte, bei dem Versuch der Polizeibeamten, ihn am Boden zu fixieren und zu fesseln, weiterhin Widerstand leistete, indem er die Arme unter den Körper sperrte und diese trotz Aufforderung nicht freigab. Dazu, wo sich mittlerweile die zunächst in der Hand gehaltene Axt befand und ob der Angeklagte hierauf noch Zugriff hatte, verhält sich das Landgericht nicht. Im Rahmen der gebotenen Gesamtschau hätte aber auch dieses Verhalten des Angeklagten unmittelbar nach dem Tatgeschehen eventuell Rückschlüsse darauf zulassen können, ob es ihm darauf ankam, die Polizeibeamten tatsächlich mit der Axt zu verletzen oder nicht.“