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OWi II: Einsicht in die gesamte Messreihe zur Messung, oder: Einsichtsrecht und Aussetzungsantrag

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Die zweite Entscheidung des Tages kommt dann vom OLG Köln. Sie ist schon etwas älter, ich habe sie aber erst vor kurzem übersandt bekommen.

In dem Beschluss geht es um das Einsichtsrecht des Verteidigers in die so. Messreihe. Das OLG Köln begründet im OLG Köln, Beschl. v. 30.05.2023 – 1 RBs 288/22 – eingehend, warum der Verteidiger/Betroffene ein Einsichtsrecht hat und dass die Hauptverhandlung ggf. aus Antrag auszusetzen ist, wenn das Einsichtsrecht nicht beachtet worden ist.

Wegen der Einzelheiten bitte „Selbststudium. Hier nur mein Leitsatz:

Dem Verteidiger des Betroffenen ist im Hinblick auf die Rechtsprechung des BVerfG ggf. auf Antrag die vollständige Messreihe zu einer Geschwindigkeitsmessung zur Verfügung zu 72123, BeckRS 2023, 9523).

OWi I: Ein Rundumschlag beim OLG Karlsruhe …, oder: Abgelehnter „Beifahrerbeweisantrag“

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Heute dann drei OLG-Entscheidungen zum OWi-Recht.

Ich beginne mit dem OLG Karlsruhe, Beschl. v. 07.12.2022 – 2 Rb 35 Ss 587/22. Das AG hat den Betroffenen wegen einer fahrlässigen Geschwindigkeitsüberschreitung außerhalb geschlossener Ortschaften um 74 km/h zu einer Geldbuße verurteilt und ein Fahrverbot verhängt. Hiergegen richtet sich die Rechtsbeschwerde des Betroffenen, mit der eine Überschreitung des Bußgeldrahmens, das Übergehen eines Aussetzungsantrags und die Ablehnung eines auf die Vernehmung einer Entlastungszeugin gerichteten Beweisantrags beanstandet wird.

Die Rechtsbeschwerde hatte Erfolg, allerdings nicht wegen des Aussetzungsantrags im Hinblick auf 2 BvR 1167/20 und die Rohmessdaten, aber wegen des abgelehnten Beweisantrages:

„3. Soweit die auf § 77 Abs. 2 Nr. 1 OWiG gestützte Zurückweisung eines Beweisantrags als fehlerhaft gerügt wird, greift die zulässig ausgeführte Beanstandung dagegen teilweise durch.

a) Der Rüge liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:

Der Verteidiger hatte in der Hauptverhandlung beantragt, die Beifahrerin des Betroffenen als Zeugin zum Beweis der Tatsachen zu hören, „dass der Betroffene nicht schneller gefahren ist als max. 140 km/h (Tachoanzeige), es zum Zeitpunkt der Messung stark geregnet hat, die Verkehrsschilder vor der Messstelle aufgrund starken Regens nicht lesbar/erkennbar waren und der Messwert bei der Kontrolle nicht vorgezeigt wurde/werden konnte“. Das Amtsgericht lehnte den Antrag ab, weil es die beantragte Beweiserhebung gemäß § 77 Abs. 2 Nr. 1 OWiG nicht zur Erforschung der Wahrheit für erforderlich hielt. In den Urteilsgründen ist dazu im Anschluss an die Wiedergabe der Zeugenaussagen der beiden die Messung durchführenden Polizeibeamten ausgeführt: „Aufgrund der Aussagen [der beiden an der Messung beteiligten Polizeibeamten] war der Sachverhalt aus Sicht des Gerichts bereits ausreichend ermittelt. Deren Aussagen haben die Geschwindigkeitsüberschreitung in der vorgeworfenen Höhe bestätigt. Auf ausdrückliche Nachfrage hat der Zeuge X. bestätigt, dass es nicht geregnet habe. Auf den Umstand, ob das Messergebnis im Rahmen der sich an die Messung anschließenden Kontrolle vorgezeigt wurde, kommt es schließlich zum Beweis der Geschwindigkeitsüberschreitung nicht an.“

b) Das Gericht kann einen Beweisantrag nach § 77 Abs. 2 Nr. 1 OWiG ablehnen, wenn es den Sachverhalt nach dem bisherigen Ergebnis der Beweisaufnahme für geklärt hält und die Beweiserhebung deshalb zur Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich ist. Damit ist der Tatrichter unter Befreiung von dem Verbot der Beweisantizipation befugt, Beweisanträge zurückzuweisen (OLG Hamm, Beschluss vom 10.3.2017 – 2 RBs 202/16, juris). Die Ablehnung einer Beweiserhebung aufgrund der vorweggenommenen Beweiswürdigung nach § 77 Abs. 2 Nr. 1 OWiG setzt aber voraus, dass die Grundlagen für die bereits gewonnene Überzeugung so verlässlich sind, dass die Möglichkeit, diese Überzeugung könne durch eine weitere Beweisaufnahme erschüttert werden, vernünftigerweise auszuschließen ist (BayObLGSt 1994, 67; OLG Brandenburg, NZV 2013, 49; OLG Celle, NZV 2010, 634; KG, NZV 2002, 416). Entscheidend ist die – auch für einen Beweisermittlungsantrag maßgebliche – Amtsaufklärungspflicht gemäß § 77 Abs. 1 OWiG. Daher hängt die Pflicht des Tatrichters, den Sachverhalt weiter zu erforschen, einmal davon ab, wie gesichert das Beweisergebnis erscheint. Ihr Umfang orientiert sich aber auch am Gewicht dessen, was mit zusätzlichen Ermittlungen noch bewiesen werden könnte (BGH WM 2109, 1276 m.w.N.). Nach der obergerichtlichen Rechtsprechung wird danach ein Beweisantrag auf Vernehmung eines Zeugen, mit dem die Aussage eines Belastungszeugen entkräftet werden soll, regelmäßig nicht nach § 77 Abs. 2 Nr. 1 OWiG abgelehnt werden können, sondern die Aufklärungspflicht seine Anhörung gebieten (OLG Düsseldorf NZV 1991, 363; 1999, 260; OLG Hamm DAR 2021, 529). Dies gilt allerdings nicht, wenn aufgrund des im Einzelfall gewonnenen Beweisergebnisses und der beantragten Beweiserhebung unter Berücksichtigung der Verlässlichkeit des Beweismittels die Bestätigung der behaupteten Beweistatsache nicht zu erwarten ist (OLG Hamm DAR 2021, 700).

c) Bei Anwendung dieser Maßstäbe ergibt sich vorliegend hinsichtlich der verschiedenen unter Beweis gestellten Tatsachen ein unterschiedliches Ergebnis.

aa) Soweit die Beifahrerin eine vom Messergebnis nach unten abweichende Geschwindigkeit bestätigen soll, erscheint es ohne näheren Vortrag dazu schon wenig plausibel, weshalb ein Beifahrer eine Acht auf die Tachoanzeige gehabt haben soll; erst recht gilt dies für die Verlässlichkeit einer zeitlichen Zuordnung zum Messvorgang, zumal beim angewendeten Messverfahren keine fotografische Sicherung stattfindet, die wegen des Einsatzes des Blitzlichts die Aufmerksamkeit auch des Beifahrers zu wecken geeignet ist. Von ausschlaggebender Bedeutung ist indes, dass die belastende Tatsache – die gefahrene Geschwindigkeit – letztlich nicht auf der ihrer Natur nach eher fehleranfälligen Wahrnehmung der vernommenen Zeugen beruht, sondern durch eine technische Messung mit einem Messgerät ermittelt wurde, das nach eingehender Prüfung durch die Physikalisch-Technische Bundesanstalt für solche Messungen als geeignet befunden wurde und deshalb als standardisiertes Messverfahren gilt (vgl. dazu allgemein OLG Düsseldorf VRR 2014, 392; OLG Frankfurt DAR 2015, 149; OLG Bamberg DAR 2016, 146; OLG Schleswig DAR 2017, 47; OLG Hamm Beschluss vom 10.3.2017 – 2 RBs 202/16, juris; KG VRS 131, 308; OLG Köln ZfS 2018, 407; OLG Koblenz Beschluss vom 17.7.2018 – 1 OWi 6 SsBs 19/18, juris), bei dem ohne – vorliegend fehlende – konkrete Anhaltspunkte für eine Fehlmessung im Einzelfall ohne Weiteres von einem zutreffenden Messergebnis ausgegangen werden kann (st. Rspr., zuletzt KG Blutalkohol 59, 361; OLG Zweibrücken ZfS 2022, 167; OLG Brandenburg, Beschluss vom 19.2.2021 – 1 OLG 53 Ss-OWi 684/20, juris; vgl. auch BVerfG NJW 2021, 455). Auch ein Wahrnehmungsfehler beim Ablesen der gemessenen Geschwindigkeit als der dem Messbeamten zentral obliegenden Aufgabe liegt fern. Selbst wenn das Messergebnis bei der anschließenden Kontrolle nicht vorgezeigt sein sollte, wozu indes keine Rechtspflicht besteht, war danach eine Erschütterung des durch das Ergebnis des technischen Messvorgangs und die Aussagen der beiden an der Messung beteiligten Polizeibeamten gewonnenen Beweisergebnisses hinsichtlich der vom Betroffenen gefahrenen Geschwindigkeit nicht zu erwarten, weshalb sich die auf § 77 Abs. 2 Nr. 1 OWiG gestützte Zurückweisung des Beweisantrags insoweit als im Ergebnis rechtsfehlerfrei erweist.

bb) Etwas anderes gilt indes für die weiteren Beweistatsachen, mit denen die subjektive Vorwerfbarkeit der Geschwindigkeitsüberschreitung in Frage gestellt wurde. Denn hinsichtlich der im Zeitraum des Messvorgangs herrschenden Wetterverhältnisse und ihrer Auswirkungen auf die Sichtbarkeit der die Geschwindigkeitsbeschränkung anordnenden Verkehrszeichen, die Voraussetzung für die Vorwerfbarkeit des Verstoßes ist (OLG Stuttgart VRS 95, 441; OLG Hamm NZV 2011, 94), war nicht von vornherein auszuschließen, dass durch die Aussage der benannten Zeugin die dazu gemachte Angabe des Zeugen X. erschüttert werden könnte, nachdem sich aus den Urteilsgründen nicht ergibt, dass dessen Angaben durch weitere Beweismittel gestützt wurden. Dass eine bei den Akten befindliche Auskunft des Deutschen Wetterdienstes nahelegt, dass es im Zeitraum des Messvorgangs allenfalls minimal regnete, hat in den Urteilsgründen keinen Niederschlag gefunden und ist deshalb für die rechtliche Beurteilung durch den Senat unbeachtlich…..“

Im Übrigen: Das AG hatte die Regelgeldbuße von 600 EUR im Hinblick darauf, dass es vom Fahrverbot teilweise abgesehen hatte, verdreifacht. Das OLG weist darauf hin, dass im Fall einer neuerlichen Verurteilung die Geldbuße wegen der bei einem fahrlässigen Verstoß geltenden Höchstgrenze von 1.000 EUR (vgl. § 17 Abs. 2 OWiG) herabzusetzen ist. Es weist außerdem darauf hin, dass einer dann etwa in Aussicht genommenen Erhöhung des Fahrverbots das Verschlechterungsverbot entgegensteht. Nur mal so für das AG. Ist auch wohl besser.

Aussetzungsantrag muss „passen“

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Im heute auf der Homepage des BGH veröffentlichten BGH, Beschl. v. 30.06.2015 – 3 StR 183/15 – geht es um den rechtlichen Hinweis und um den mit ihm zusammenhängenden Anspruch des Angeklagten auf Aussetzung des Verfahrens nach § 265 Abs. 3 StPO. Verurteilt worden ist der Angeklagte wegen versuchten Totschlags. In der Hauptverhandlung waren – so verstehe ich den BGH, Beschluss – nach Auffassung des BGH neue Umstände hervorgetreten, die ggf. zu einer Anwendung des § 265 Abs. 3 StPO hätten führen müssen.

Aber: Allein das Hervortreten dieser neuen Umstände genügt nicht. Es muss auch ein zu § 265 Abs. 3 StPO „passender Antrag“ gestellt werden:

Die Verfahrensrüge der Verletzung von § 265 Abs. 3 StPO erweist sich auch dann jedenfalls als unbegründet, wenn in der Hauptverhandlung – entgegen der Ansicht des Landgerichts und des Generalbundesanwalts – neue Umstände hervorgetreten waren, welche die Anwendung eines schwereren Strafgesetzes gegen den Angeklagten zuließen als die in der gerichtlich zugelassenen Anklage angeführten. Derartige Umstände waren hier darin zu sehen, dass der Angeklagte – nach dem Hinweis des Landgerichts auf die Möglichkeit eines derartigen Ergebnisses der Beweisaufnahme und abweichend von der zugelassenen Anklage – mit Tötungsvorsatz einen Schuss auf den Oberkörper des Nebenklägers S. abgegeben und sich für diesen Fall tateinheitlich wegen versuchten Totschlags gemäß § 212 Abs. 1, §§ 22, 23 StGB auch zum Nachteil dieses Nebenklägers strafbar gemacht haben könnte, ein Geschehensablauf, wie ihn das Landgericht dann letztlich auch dem Schuldspruch zugrunde gelegt hat.

Dies allein genügt jedoch nicht, um den Aussetzungsanspruch nach § 265 Abs. 3 StPO zu begründen. Dieser setzt vielmehr zusätzlich voraus, dass der Beschwerdeführer die neu hervorgetretenen Umstände bestreitet, also die Richtigkeit dieser Tatsachen in Abrede stellt (vgl. BGH, Beschluss vom 24. Januar 2006 – 1 StR 561/05, wistra 2006, 191; LR/Stuckenberg, StPO, 26. Aufl., § 265 Rn. 93; SK-StPO/Velten, 4. Aufl., § 265 Rn. 66; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 58. Aufl., § 265 Rn. 36, krit. hierzu Mitsch in NStZ 2004, 395 f.). Dies hat der Angeklagte nach dem Inhalt des Aussetzungsantrags und dem sonstigen Revisionsvortrag nicht getan. Dass der Angeklagte sich nach den Urteilsgründen in der Hauptverhandlung dahin eingelassen hat, er habe die Schüsse auf die beiden Nebenkläger nicht abgegeben und sich zur Tatzeit nicht am Tatort, sondern bei seinen Eltern aufgehalten, genügt zur Erfüllung dieser Voraussetzung nicht; denn dies betrifft ausschließlich die Frage der Täterschaft, während es sich bei der Richtung des abgegebenen Schusses um eine solche des objektiven Tatablaufs handelt, die unabhängig von der Person des Schützen zu beurteilen ist.“

NSU-Verfahren: Muss das eigentlich sein Herr Bundesanwalt?, oder: Keep cool

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Irgendwo hatte ich es gestern gelesen im Netz und es hat mir gestern Abend keine Ruhe gelassen und ich habe es dann auch bei Spiegel.de wieder gefunden (vgl. Spiegel.de). Das Zitat einer „Anmerkung“ des Bundesanwalts Diemer, der die Anklage im NSU-Verfahren vertritt, zu dem Aussetzungsantrag der Verteidigung:

„Vor der Mittagspause sagt Bundesanwalt Herbert Diemer, dessen staubtrockene Anmerkungen gleichwohl unüberhörbar sind: „Da dem Antrag ohnehin nicht stattgegeben wird, muss ich auch nicht gleich Stellung dazu nehmen.“ Nach der Mittagspause befürwortete er erwartungsgemäß die Zurückweisung des Antrags. Und ebenso erwartungsgemäß wurde er abgelehnt.“

Man mag ja von dem gestrigen Antrag denken (vgl. hier) , was man will – ich halte ihn auch nicht unbedingt für gelungen, zumindest das Timing ist in meinen Augen nicht gut, weil dieser Antrag m.E. zu spät kommt – aber: Muss man den Antrag als Bundesanwalt eigentlich so kommentieren? In meinen Augen/Ohren klingt ein gewissen Portion von Überheblichkeit durch, die der GBA bzw. seine Vertreter doch an sich nicht an den Tag legen sollten. Wir haben es doch mit der „berühmten objektivsten Behörde“ des Welt zu tun. Da muss/sollte man doch solche Anträge akzeptieren können. Jedenfalls hätte man sich m.E. eine solche Äußerung – wenn Sie denn so gefallen ist – sparen können/sollen.

„Sine ira et studio“ haben es die alten Römer genannt, Neudeutsch heißt es heute wohl: Keep cool…

NSU-Verfahren heute: Aussetzungsantrag abgelehnt, Anklage wird verlesen

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Man muss ja auch, wenn man im Urlaub ist, auf dem Laufenden bleiben. Daher bin ich hier auf Naxos gerade mal eben online gegangen, um zu sehen/erfahren, was es heute im NSU-Verfahren gegeben hat. Ist wegen der schlechten Verbindung nicht ganz einfach, aber klappt. Also:

  • Die Verteidiger von Beate Zschäpe hatten einen Aussetzungsantrag gestellt. Begründung: Saal zu klein und „für die meisten Beteiligten keine ordnungsgemäßen Zeugenvernehmungen möglich“ (hier aus Spiegel.de).
  • Der ist inzwischen vom OLG München abgelehnt worden, wie die FAZ meldet. Begründung u.a.: „Strafverfahren finden in, aber nicht für die Öffentlichkeit statt“, sagte Götzl unter Berufung auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.
  • Und: die Anklage wird verlesen – also nimmt das Verfahren dann allmählich Fahrt auf.

Bisher kann man m.E. gegen den Auftakt und die Antragstellung nichts einwenden. Das unterscheidet sich alles nicht von anderen Großverfahren, die letztlich alle schleppend in Gang gekommen sind. Zufrieden waren/sind auch die Nebenklägervertreter – zumindest einige (vgl. hier).