Schlagwort-Archive: Auslegung

Rechtsmittel II: Falsche Bezeichnung des Rechtsmittels, oder: Rechtsmittelauslegung

Bild von 15299 auf Pixabay

Im zweiten Posting stelle ich dann zwei Entscheidungen des KG zur Auslegung von Rechtsmittel vor, allerdings nur mit den Leitsätzen, und zwar:

1. Insbesondere die Rechtsmittelerklärung eines rechtsunkundigen Angeklagten ist anhand ihres Gesamtinhalts und unter Berücksichtigung des erstrebten Erfolges auszulegen.

2. Eine irrtümliche Falschbezeichnung wirkt nicht zu Lasten des Rechtsmittelführers. Im Zweifel gilt unter zur Wahrung des Grundsatzes effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) das Rechtsmittel als eingelegt, das die umfassendere Nachprüfung erlaubt und mit geringeren Begründungsanforderungen verbunden ist.

3. Auslegung einer gegen ein Urteil (§ 412 StPO) gerichteten „Revision“ als Berufung

1. Ist der Angeklagte der irrigen Auffassung, gegen ein durch das Rechtsmittel der Berufung oder der Sprungrevision überprüfbares Urteil sei die Rechtsbeschwerde gegeben, so wird sich der Rechtsmittelführer der Wahlmöglichkeit zwischen Berufung und Sprungrevision regelmäßig gerade nicht bewusst gewesen sein. Das Rechtsmittel ist dann regelmäßig als Berufung zu behandeln.

2. Dies gilt aber dann nicht, wenn sich aus der Rechtsbeschwerdebegründung oder aus sonstigen Umständen zweifelsfrei ergibt, dass der Rechtsmittelführer auf eine Nachprüfung des Urteils in tatsächlicher Hinsicht verzichten wollte.

3. Unzuständigkeitserklärung und Abgabe der Sache an das Berufungsgericht.

4. Fahren ohne Fahrerlaubnis deutet als „typisches Verkehrsdelikt“ und „verkehrsspezifische Anlasstat“ auf eine fehlende charakterliche Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen hin.

StGB III: Beleidigung durch Bezeichnung „Botoxfresse“?, oder: Es kommt darauf an

Bild von k-e-k-u-l-é auf Pixabay

Und zum Tagesschluss dann noch der AG Galdbeck, Beschl. v. 16.1.2021 – 6 Ds 304 Js 56_19-91/21 – betreffend ein Beleidigungsverfahren.

Der Anzeigeerstatter hat sich mit einer Strafanzeige gegen Äußerungen des Angeschuldigten gewendet, der unter einem Alias als Rapper auftritt. Dem Angeschuldigten wird in der dann erhobenen Anklage vorgeworfen, er habe den Anzeigeerstatter in einem Facebook-Post vom 13.02.2019 als „Botoxfresse‘ beleidigt; ferner habe der aa Angeschuldigte ein Video mit einem Disstrack über den Anzeigeerstatter veröffentlicht, wobei weitere Angeschuldigte als Komparsen oder Produzenten mitgewirkt haben sollen.

Das AG hat die Eröffnung des Hauaptverfahrens abgelehnt und das recht umfangreich begründet. Um zu verstehen, worum es geht – vor allem wegen der Hintergründe – muss man die Beschlussgründe ziemlich umfassen einestellen:

„… Bei dem Anzeigeerstatter handelt es sich um eine freiwillig in der Öffentlichkeit stehende Person. Als Person der Zeitgeschichte ist er Hauptdarsteller in einer Reality-Show, in der er sich und seine Familie als sehr reiche Personen vorstellt, die dem internationalen Jetset angehören und ein Leben im Luxus führen. In diesem Rahmen stellt sich der Anzeigeerstatter in die Aufmerksamkeit einer breiten Öffentlichkeit. Dabei äußert er selbst mitunter polarisierende Meinungen, die von Teilen der Zuschauer als polemisch oder unangemessen aufgefasst werden und teilweise heftige Reaktionen hervorrufen.

In diesem Zusammenhang hat der Anzeigeerstatter als Person des öffentlichen Lebens ein Video von sich veröffentlichen lassen, in dem er sich vor der Scheich-Zayid- Moschee in Abu Dhabi befindet. Diese Moschee stellt eine der größten und bedeutsamsten Moscheen weltweit und eine wichtige religiöse Örtlichkeit für Muslime dar. In diesem Video äußert der Anzeigeerstatter, dass er nun schon seit langer Zeit auf der Suche nach einer Immobilie in Dubai für seine Familie und nunmehr fündig geworden sei, wobei er auf die Moschee deutet. Weiter heißt es in dem Video, dass auch für Livemusik gesorgt sei. Insoweit spielt der Anzeigeerstatter in dem Videobeitrag auf den Ruf des Muezzins an.

Insoweit hat der Anzeigeerstatter einen von vielen Zuschauern als provozierend aufgenommenen Beitrag in Bezug auf die Ausübung und den Stellenwert der islamischen Religion in die sozialen Medien eingestellt, als er das Video verbreitete.

Es kam im weiteren zu verschiedenen Gegenäußerungen und Kritik an dem Anzeigeerstatter für die Darstellung in dem von ihm geposteten Video. Der Anzeigeerstatter reagierte darauf, in dem er das Video über die Moschee als -missglückten – Witz darstellte.

In diesem Zusammenhang sind die Äußerungen, die Gegenstand des Strafverfahrens sind, als Antwort auf das Video des Anzeigeerstatters einzuordnen. Der Angeschuldigte pp. erstellte dabei einen Disstrack, in dem er sich mit den Äußerungen des Anzeigerstatters über die Moschee befasst.

Nach dem Anklagevorwurf wurde das Disstrack-Video im März 2019 auf dem Internet-Videoportal YouTube auf Veranlassung des Angeschuldigten zu 1. (alias pp) veröffentlicht, jedoch nach ganz kurzer Zeit wieder von dem Youtube-Kanal des Angeschuldigten gelöscht. Zuvor ist es weiter verbreitet worden und lässt sich weiterhin auf Youtube, allerdings unter dem Kanal eines Anhängers des Anzeigerstatters („pp.9, abrufen.

Auf dem besagten Musikvideo ist im Wege der filmischen Darstellung zu sehen, wie zwei Laiendarsteller, die offensichtlich den Anzeigeerstatter nebst Gattin darstellen sollen, in einem Auto fahren. Die Darstellung erfolgt dabei in überspitzter und satirischer Form und macht sich über das in dem TV-Format des Anzeigerstatters gezeigte Verhalten („zum Friseur gehen, shoppen, eine Yacht kaufen…“) lustig. Im weiteren Verlauf des Musikvideos wird sodann durch Laiendarsteller eine Entführung des Anzeigeerstatters und seiner Frau dargestellt, wobei die Charaktere mit einem Auto in eine Werkstatt verbracht werden. Insgesamt wirkt die Sequenz satirisch überspitzt und comedyhaft bis lächerlich. Anschließend wird das Video des Anzeigeerstatters über die Moschee in Abu Dhabi eingespielt. Sodann startet der eigentliche Musikbeitrag/der Rap, den der Angeschuldigte zu 1. Vorträgt. Darin heißt es unter anderem:

„R. für eine Botoxfresse“

Sodann zielt eine Person mit einem Gegenstand, der wie ein Gewehr aussieht auf den Schauspieler, der den Anzeigeerstatter darstellt und dazu wird gerappt:

„ Geh in Deckung, Mann. Ich lade jetzt mein Eisen auf dich gezielt, pp.. Weiter heißt es, „ ein Hund wie du sei leise , sonst nehme ich dich als Geisel“ . Ferner wird der offenbar den Anzeigeerstatter darstellende Mann als „Schwein“ und „Hurensohn“ bezeichnet und es heißt dann:. „Ich gehöre zu den Miesen, wenn es sein muss, werde ich schießen“.

Tatsächliche Körperverletzungen sind filmisch nicht dargestellt.

Das Video endet damit, dass der Angeschuldigte zu 1. dem Darsteller, der offenbar den Anzeigeerstatter verkörpern soll, durchs Haar fährt und dabei- äußert: „du Spaßvogel, denk nächstes Mal nach, bevor du solche Witze machst.“

Die weiteren Angeschuldigten sollen Komparsen in dem Video mit dem Disstrack bzw. der Produzent des Videos sein.

Der Anzeigeerstatter hat über seine Rechtsanwälte Strafanzeige unter anderem wegen Bedrohung und Beleidigung gestellt.

II.

Bei rechtlicher Bewertung dieser Gesamtsituation kann eine Strafbarkeit der Angeschuldigten nicht mit der für die Eröffnung des Hauptverfahrens zu fordernden Wahrscheinlichkeit aus tatsächlichen sowie rechtlichen Gründen festgestellt werden.

…..

2. Auch in rechtlicher Hinsicht begegnet die Anklage durchgreifenden Bedenken:

a) Beleidigung durch den Disstrack seitens des Angeschuldigten zu 1.

In dem besagten Disstrack, also dem Rap des Angeschuldigten zu 1., wird der die Person des Anzeigerstatters darstellende Schauspieler unter anderem als „Hund“, „Schwein“ und „Hurensohn“ tituliert.

Dies sind eindeutig ehrverletzende Äußerungen.

Diese Äußerungen erfolgten nicht im persönlichen Kontakt oder direkter Ansprache über Kommunikationsmittel, sondern im Rahmen einer fiktiven Darstellung. Es wird eine filmische Episode erzählt, die den Anzeigeerstatter persifliert.

Hinzu kommt, dass die Äußerungen im Rahmen eines gereimten Raps aus dem Genre Gangsterrap erfolgten. In diesem Genre ist die Besonderheit der Darstellung darin begründet, dass kriminalitäts- und gewaltverherrlichende Darstellungen mit einer vulgären Wortwahl erfolgen.

Dabei ist anerkannt, dass der Gangsterrap eine eigene Kunstform darstellt, die ebenso wie Satire und Persiflage unter dem Schutzbereich der grundgesetzlichen Kunstfreiheit stehen, auch wenn darin – wie es dem Wesen dieser Rapform entspricht – gewaltverherrlichende oder beleidigende Äußerungen enthalten sind.

Die Kunstfreiheit findet ihre Grenzen dort, wo das schützwürdige Persönlichkeitsrecht des Einzelnen betroffen ist. Dabei ist eine Abwägung vorzunehmen zwischen den Persönlichkeitsrechten des Adressaten und der Kunstfreiheit (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 19.01.20, III- 4 RvS 193109 IV). Die Grenze der strafbaren Beleidigung ist in diesem Kontext erst dann erreicht, wenn die persönliche Kränkung den Schwerpunkt des Beitrags darstellt im Sinne einer Schmähkritik. Das ist in dem Kontext dann der Fall, wenn die Ehrverletzung die sachliche Auseinandersetzung vollends und beabsichtigt in den Hintergrund drängt (BVerfG, Beschluss vom 17.09.12, Az. 1 BvR 2979/10).

Hier verhält es sich so, dass eine in vertonter Reimform verfasste künstlerische Auseinandersetzung mit dem zuvor vom Anzeigeerstatter veröffentlichten Video über die Moschee als Wohnimmobilie dargestellt wird. Das wird deutlich an dem eingespielten Video des Anzeigerstatters und an den im Rap enthaltenen Äußerungen wie „ sag nicht zur Moschee Immobilie“ , „provozier nochmal den Islam“, „du Spaßvogel, denk nächstes Mal nach, bevor du solche Witze machst“.

Insoweit ist bei der Interessenabwägung zu berücksichtigen, dass der Anzeigeerstatter selbst anlasslos eine von der muslimischen Community als provozierend und als respektlos empfundene Äußerung über religiöse Inhalte gegenüber einem breiten Publikum abgab. Der Anzeigeerstatter hat diese Äußerung selbst in den sozialen Medien publik gemacht und hatte somit durchaus mit Gegenäußerungen, auch in unsachlicher Form, zu rechnen.

Der hier zu beurteilende Disstrack stellt eine solche Gegenäußerung mit künstlerischen Mitteln dar.

Die Grenze der Kunstfreiheit in diesem Kontext wäre erst erreicht, wenn bei einer Äußerung nicht mehr die Auseinandersetzung in der Sache im Vordergrund steht, sondern die Herabsetzung einer Person im Sinne einer Schmähkritik.

Dies ist hier nicht der Fall. Denn es ging angesichts der Verlinkung mit dem Beitrag über die Moschee als Wohnimmobilie um eine Auseinandersetzung mit Sachbezug, die nicht schwerpunktmäßig auf das persönliche Diffamieren des Anzeigeerstatters ausgelegt ist. Vielmehr ist der Einsatz der typischen sprachlichen Stilmittel des Gangsterraps gerade erfolgt, um mit der Art der Darstellung eine besondere Aufmerksamkeit in der Auseinandersetzung um das Sachthema zu erregen.

Es ist nicht ersichtlich, dass der Angeschuldigte vorrangig die persönliche Kränkung erreichen wollte oder dies der Schwerpunkt des Gesamtwerkes wäre.

Demzufolge geht die Interessenabwägung zugunsten der Kunstfreiheit aus, deren Grenzen mit den Äußerungen, die Gegenstand des Raps sind, noch nicht überschritten ist. Eine Strafbarkeit scheidet aus gern. § 193 StGB iVm Art. 5 GG.

b) Beleidigung durch die Bezeichnung „Botoxfresse“

Dem Angeschuldigten zu 1. wird zudem zur Last gelegt, den Anzeigestatter in einem Facebookpost vom 13.02.2019 als „Botoxfresse“ bezeichnet zu haben, wobei der Beitrag mit dem Hashtag #machdichnichtübermoscheenlustig verlinkt gewesen ist.

Grundsätzlich ist unter der Beleidigung eine Kundgabe eines herabsetzenden Werturteiles zu verstehen, wobei bei der Frage, was eine Nichtachtung oder Missachtung der Person darstellt, regionale und subkulturelle Besonderheiten zu berücksichtigen sind und es auf die Frage ankommt, wie ein objektiver Dritter in der konkreten Situation den Erklärungsinhalt verstehen würde (Fischer, StGB, § 185, Rz. 8).

Reine Unhöflichkeiten, Distanzlosigkeit oder Äußerungen ohne einen allgemein abwertenden Charakter, auch wenn sie in derber Ausdrucksweise erfolgen, sind dabei nicht dem Tatbestand der Beleidigung gemäß § 185 StGB entsprechend (Fischer, Strafgesetzbuch § 185 Anmerkung 8c).

Vorliegend fühlt sich der Anzeigerstatter offenbar durch die Äußerung „Botoxfresse“ beleidigt.

Dieser Begriff lässt sich einerseits in dem Sinne verstehen, dass damit ein durch übermäßige kosmetische Eingriffe entstelltes Gesicht umschrieben wird.

Zwingend ist diese Auslegung indes nicht.

Nach dem regionalen Sprachgebrauch steht der Begriff „Fresse“ als derbes Synonym für „Gesicht“, wobei dem Begriff für sich genommen noch kein negatives Werturteil beigemessen wird, solange keine weitere negative Konnotation hinzukommt.

Eine „Botoxfresse“ könnte danach jemand sein, der sich einem Eingriff mit Botox unterzogen hätte, beispielsweise, um ein jugendlicheres äußeres Erscheinungsbild hervorzurufen. Dies stellt als solches nach dem allgemeinen Verständnis kein herabsetzendes Werturteil oder eine das Persönlichkeitsrecht missachtende Äußerung dar. Es ist gesellschaftlich gerade im Hinblick auf Prominente oder Menschen mit regelmäßigem Auftreten in Fernsehsendungen weder ungewöhnlich noch sozial geächtet, sich kosmetischen Eingriffen zu unterziehen. Selbst wenn der Angeschuldigte zu 1. sich darüber lustig gemacht hätte, ist eine ehrverletzende Auslegung dieses Begriffes durchaus nicht zwingend, sondern kann auch einen — zwar distanzlosen — aber hinsichtlich der persönlichen Ehre wertneutralen Charakter haben.

Des weiteren ist die Äußerung „Botoxfresse“ verlinkt mit dem Hashtag #machdichnichtübermoscheenlustig und knüpft insoweit direkt an das Video des Anzeigerstatters über die Moschee in Abu Dhabi an.

Unter Berücksichtigung dieser Verbindung kann die Äußerung „Botoxfresse“ auch ausgelegt werden in dem Sinne wie „eine dicke Lippe riskiert haben / eine große Klappe gehabt haben“, mithin also als Bezeichnung eines als großspurig bewerteten Verhaltens. Auch diese Auslegungsweise stellt als solche keine ehrverletzende Aussage dar.

Zusammengefasst sind aus Sicht des objektiven Adressaten vor dem Hintergrund der Verknüpfung mit dem Hashtag hierbei mehrere Auslegungen möglich, die nicht sämtlich ein herabwürdigendes Werturteil darstellen. Vielmehr steht die Mehrdeutigkeit der Äußerung der Einordnung als Beleidigung entgegen.

Selbst bei einer Auslegung der Äußerung als objektiv beleidigend ist immer noch zu bedenken, dass die Äußerung aufgrund der Verbindung mit dem Hashtag auf eine provozierende Äußerung des Anzeigerstatters Bezug nimmt, die dieser im Nachhinein als (missglückten) Witz darstellte. Insoweit liegt ein Sachbezug im Sinne einer Antwort auf die öffentliche als provozierend empfundene Äußerung des Anzeigeerstatters vor, die letztlich zu der Gegenäußerung führte.

…..“

StPO III: Die nicht eindeutige (Rechtsmittel)Erklärung, oder: Dann muss das Gericht nachfragen

Smiley

Die dritte Entscheidung des Tages kommt dann auch vom LG Nürnberg-Fürth. Das hat im LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 24.06.2021 – 12 Qs 39/21 – zur Auslegung einer Erklärung im Strafbefehlsverfahren Stellung genommen-

Das AG hatte gegen den Beschuldigten, der nicht verteidigt ist, einen Strafbefehl erlassen, der eine Sanktion von 60 Tagessätzen zu 25 € vorsah. Ausweislich der Postzustellungsurkunde wurde der Strafbefehl dem Beschuldigten am 20.04.2021 durch Einlage in den zu seiner Wohnung gehörenden Briefkasten zugestellt. Am 07. 05.2021 brachte die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle einen Rechtskraftvermerk auf dem Strafbefehl an. Erst mit Schreiben vom 11.05.2021, beim Amtsgericht eingegangen am 12.05.2021, legte der Beschuldigte Einspruch gegen den Strafbefehl ein und erklärte sich zum Anklagevorwurf. Im weiteren Schreiben vom 17.05.2021 begründete er die späte Einspruchseinlegung unter Vorlage von Kopien von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen damit, dass er krank gewesen sei.

Das AG legte das Schreiben des Beschuldigten vom 17.05.2021 dahin aus, dass es einen konkludenten Wiedereinsetzungsantrag enthalten habe und verwarf diesen als unzulässig, weil er verspätet eingelegt worden sei. Zugleich verwarf es den Einspruch des Beschuldigten gegen den Strafbefehl als unzulässig. Der Verwerfungsbeschluss vom 27.05.2021 wurde dem Beschuldigten am 29.05.2021 zugestellt.

Der Beschuldigte wandte sich mit Schreiben vom 31.05.2021 erneut an das Amtsgericht. Dieses Schreiben hat folgenden Wortlaut (Schreibweise im Original):

„…Ich habe alles beweise schon vorgelegt aber Ich glaube Sie will nicht hören oder wissen. Die Kosten konnen Sie etwas tun weil ich habe ein Früh geburt Kind und mein Frau auch Arbeitet nicht so tun was! oder schicken Sie mich die Kosten und Ich zahlen in Raten € 30 monatlich weil ich zahlen auch zurück die JobCenter…“

Das Amtsgericht legte dieses Schreiben ohne weitere Rückfrage beim Beschuldigten als sofortige Beschwerde aus, half ihr nicht ab und leitete die Akte der Kammer zu. Die Staatsanwaltschaft hat in ihrer Zuschrift beantragt, die sofortige Beschwerde als unbegründet zu verwerfen.

Das LG sieht das Schreiben vom 31.05.2021 nicht als sofortige Beschwerde an und auch nicht als ein sonstiges Rechtsmittel gegen den Strafbefehl. Demgemäß sei beim Beschwerdegericht nichts zur Entscheidung hierüber angefallen; vielmehr sei die Sache an das Amtsgericht zurückzugeben:

„1. Nicht eindeutige Prozesserklärungen sind auszulegen. Als ein Rechtsmittel kann eine Erklärung nur dann ausgelegt werden, wenn aus ihr der Anfechtungswille hervorgeht (Jesse in Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 300 Rn. 5; Paul in KK-StPO, 8. Aufl., § 300 Rn. 2), also der Wille, gegen eine gerichtliche Entscheidung vorzugehen mit dem Ziel, sie vollständig oder teilweise zu beseitigen oder sonst zu eigenen Gunsten abzuändern. Das Rechtsmittel muss von einem unzweideutigen Anfechtungswillen getragen sein (OLG Bamberg, Beschluss vom 8. September 2016 – 3 OLG 7 Ss 78/16, juris Rn. 4). Das wird allerdings nicht schon dadurch ausgeschlossen, dass die sprachliche Form, in der dieser Wille seinen Ausdruck gefunden hat, ihrerseits unvollkommen, missverständlich oder sonst uneindeutig ist. Bleibt auch nach der durchzuführenden Auslegung der Erklärung der Anfechtungswille unklar, ist der verbleibende Zweifel durch eine Nachfrage zu klären (zutreffend Hoch in Satzger/Schluckebier/Widmaier, StPO, 4. Aufl., § 300 Rn. 4 unter Hinweis auf BGH, Beschluss vom 12. Dezember 1951 – 3 StR 691/51, BGHSt 2, 63, 67).

2. Hiervon ausgehend war der Kammer bei Anwendung der herkömmlichen Auslegungsgrundsätze nicht klar, ob sich der Beschuldigte mit dem zitierten Schreiben gegen die Verwerfung seines Einspruchs und Wiedereinsetzungsantrags wehren wollte – ob also ein Anfechtungswille vorlag –, wofür möglicherweise der erste Satz des Schreibens sprechen könnte. Dort wirft der Beschuldigte dem Amtsgericht vor, seinen Vortrag und die vorgelegten Beweismittel nicht zur Kenntnis genommen zu haben. Ob darin auch ein Angriff im Sinne eines Anfechtungswillens liegt oder eher eine resignative Feststellung, bleibt allerdings unklar.

Näherliegend schien es der Kammer, dass es dem Beschuldigten vor allem um die Vereinbarung einer Ratenzahlung ging, worauf der Rest des Schreibens deutet. Jedenfalls wird in dem gesamten Schreiben das Wort „Beschwerde“ oder ein sinnverwandter Ausdruck, der als Bezeichnung eines Rechtsmittels verstanden werden könnte, nicht benutzt. Es findet sich in dem Schreiben noch nicht einmal eine ausdrückliche Bezugnahme auf den Beschluss des Amtsgerichts vom 27. Mai 2021. Die Kammer hat weiter bedacht, dass der Beschuldigte kein deutscher Muttersprachler ist und dass er als offensichtlich Nicht-Rechtskundiger und ohne anwaltlichen oder sonstigen Beistand die Voraussetzungen und Erfolgschancen einer sofortigen Beschwerde nicht abschätzen kann. Die Kammer hat schließlich erwogen, dass die vermeintliche Wohltat der Eröffnung einer weiteren Instanz durch eine großzügige Auslegung – die eher eine „Einlegung“ wäre – des Schreibens als sofortige Beschwerde, dem Beschuldigten außer weiteren Kosten (Nr. 3602 KV GKG) wegen handgreiflicher Aussichtslosigkeit des Rechtsmittels in der Sache nichts gebracht hätte.

3. Vor dem Hintergrund der nach alldem verbleibenden Zweifel über das Vorliegen des Anfechtungswillens telefonierte der Kammervorsitzende am 23. Juni 2021 mit dem Beschuldigten. Ergebnis des Telefonats war, dass es dem Beschuldigten letztlich um eine Ratenzahlungsvereinbarung ging. Damit war zugleich der anfangs bestehende Zweifel dahingehend beseitigt, dass der Anfechtungswille – und damit auch eine sofortige Beschwerde – nicht vorlag. Mangels sofortiger Beschwerde im Ausgangspunkt konnte eine Sachentscheidung der Kammer als Beschwerdegericht danach nicht ergehen.“

Verfahrensrüge I: Auslegung Verfahrensrüge ==> Sachrüge, oder: Immer schön sagen, was man will

© santi_ Fotolia.com

Heute ist „Fronleichnam“. Das ist in NRW und in einigen anderen Bundesländern gesetzlicher Feiertag, wird also nicht gearbeitet. Ich bringe aber trotzdem – zumindest für die „Anderen“, die arbeiten müssen – hier drei Entscheidungen. Alle drei haben die ausreichende Begründung der Rechtsbeschwerde (und ggf. der Revision) zum Gegenstand.

Ich beginne mit dem OLG Hamm, Beschl. v. 15.02.2018 – 4 RBs 24/18. Der zeigt noch einmal sehr schön, dass man als Verteidiger bei der Begründung von Rechtsbeschwerde oder auch Revision sehr sorgfältig arbeiten sollte. Sonst kann es schief gehen mit der Verfahrens- aber auch der Sachrüge.

Im Beschluss hat das OLG eine „Verfahrensrüge“ ausgelegt. Der Betroffene hatte allein das Vorliegen eines Verfahrenshindernisses, weil der dem Verfahren zu Grunde liegende Bußgeldbescheid seiner Umgrenzungsfunktion nicht gerecht werde. Deswegen sei das Verfahren einzustellen gewesen.

Das OLG hat das Rechtsmittel als (noch) zulässig angesehen:

„Der Betroffene hat die Sachrüge, wie die Generalstaatsanwaltschaft zutreffend ausführt, (auch in allgemeiner Form) in ausdrücklicher Form nicht erhoben. Auch kann sie seiner Rechtsmittelbegründung nicht durch Auslegung entnommen werden. Die Rechtsmittelbegründung hebt allein auf das o.g. angebliche Verfahrenshindernis ab und bemängelt die fehlende Einstellung des Verfahrens. Dem kann das Begehren nach einer Überprüfung des angefochtenen Urteils in allgemein materiell-rechtlicher Hinsicht nicht entnommen werden. Seine „Verfahrensrüge“ kann aber dahin ausgelegt werden (§§ 46 OWiG, 300 StPO), dass er eine Überprüfung des Urteils allein im Hinblick auf das geltend gemachte Verfahrenshindernis begehrt. Dies kann man als auf die Frage von Verfahrenshindernissen beschränkte Sachrüge auslegen, denn sobald eine Sachrüge erhoben ist, überprüft das Rechtsbeschwerdegericht das Vorliegen der Verfahrensvoraussetzungen von Amts wegen (vgl. OLG Jena, Beschluss vom 07.03.2016 – 1 OLG 171 SsBs 65/15 (173)), so dass es auch der näheren Wiedergabe des Bußgeldbescheids nicht bedurfte. Gegen eine dahingehende Rechtsmittelbeschränkung bestehen keine Bedenken.2

Also: schön sorgfältig formulieren, was man eigentlich will.

Gebracht hat die Auslegung des OLG im Ergebnis dann aber nichts, denn:

„Die Rechtsbeschwerde ist jedoch unbegründet, da die Nachprüfung des Urteils aufgrund der Rechtsbeschwerderechtfertigung keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Betroffenen ergeben hat (§ 79 Abs. 3 OWiG, § 349 Abs. 2 StPO).

Der Bußgeldbescheid erfüllt – auch wenn der Tatort nur durch Ort, Ortsteil und Straßenbezeichnung umschrieben wird und nicht auch durch nähere Angaben wie etwa eine Kilometrierung der Straße oder einer Hausnummernangabe sowie der Fahrtrichtung etc. – die Umgrenzungsfunktion hinreichend. Angesichts der vorhandenen Ortsangaben, der Angabe des Tatfahrzeugs, der gefahrenen Geschwindigkeit, der Angabe „außerhalb geschlossener Ortschaften“ und der minutengenauen Tatzeit ist die Tat unverwechselbar umschrieben. Es mag sein, dass – wie der Betroffene selbst vorträgt – er auf der im Bußgeldbescheid umschriebenen Strecke weitere Geschwindigkeitsverstöße begangen hat. Dass er aber dort innerhalb derselben Tatminute eine solche weitere Geschwindigkeitsüberschreitung im Rahmen einer gesonderten prozessualen Tat begangen haben könnte, erscheint völlig lebensfern.“

„Völlig lebensfremd“ ist nicht unbedingt ein starkes Argument.

Unzulässige Revision als Berufung, oder: Auslegung

Und als letzte Entscheidung aus dem Themenkreis „Rechtsmittel“ stelle ich den OLG Bamberg, beschl. v. 08.09.2017 – 2 OLG 6 Ss 99/17 – vor. Es geht um die Auslegung einer unzulässige Revision als Berufung. Das OLG meint dazu:

Bringt der Angeklagte gegen ein wahlweise mit der Berufung oder der Sprungrevision (§ 335 Abs. 1 StPO) anfechtbares amtsgerichtliches Urteil innerhalb der Revisionsbegründungsfrist des § 345 Abs. 1 StPO die Revisionsanträge oder deren Begründung überhaupt nicht oder nicht in der der nach § 345 Abs. 2 StPO genügenden Form an, ist das Rechtsmittel auch dann als Berufung zu behandeln, wenn es von dem Angeklagten ausdrücklich als Revision bezeichnet worden ist.W

Begründung:

Vorliegend hat der Angekl. das Urteil des AG vom 15.05.2017 innerhalb der Einlegungsfrist des § 314 StPO, § 341 StPO zunächst in unspezifizierter Weise angefochten, indem er zum Ausdruck gebracht hat, sich noch nicht auf ein Rechtsmittel festlegen zu wollen. Kann ein Urteil – wie hier – wahlweise mit Berufung oder Revision angefochten werden, so enthält die Erklärung des Angekl. innerhalb der Rechtsmittelfrist, dass er das Urteil anfechte und sich die Bestimmung des Rechtsmittels vorbehalte, eine statthafte allgemeine Anfechtung des Urteils (BGHSt 2, 63/70). Will der Rechtsmittelführer sein Rechtsmittel als Revision verstanden wissen, so muss er innerhalb der Frist des § 345 I StPO sowie in der Form des § 341 I StPO gegenüber dem AG, welches das angefochtene Urteil erlassen hat, eine Erklärung abgeben, die eindeutig erkennen lässt, dass er das Rechtsmittel der Revision verfolgt. Wird keine Wahl vorgenommen oder ist die Erklärung nicht form- oder fristgerecht abgegeben, so wird das Rechtsmittel als Berufung durchgeführt. Da der mit der Annahme der Revision einhergehende Verzicht auf die weitergehenden Möglichkeiten der Berufung nur bei einer in dieser Hinsicht eindeutigen Erklärung angenommen werden kann, ist das Rechtsmittel auch bei unklarer Erklärung und insoweit verbleibenden Zweifeln als Berufung zu behandeln. Dabei lässt sich in der bloßen Bezeichnung des Rechtsmittels als Revision durch einen Rechtsunkundigen auch bei zunächst unbestimmter Einlegung nicht ohne Weiteres eine solche Entscheidung sehen (OLG Hamm StraFo 1997, 210 und OLG Hamm NJW 2003, 1469). Dies hat insbesondere zu gelten, wenn eine als Revision und Revisionsbegründung bezeichnete und als Präzisierung der zunächst unbestimmten Anfechtung gedachte Rechtsmittelschrift den Anforderungen an die Revisionsbegründung nicht gerecht wird, aber zugleich eindeutig einen Anfechtungswillen erkennen lässt (SK-Frisch StPO 5. Aufl. vor § 296 Rn. 245 unter Hinweis auf OLG Hamm, Beschl. v. 18.05.1999 – 4 Ss 284/99 = VRS 97, 181 = StraFo 1999, 382). Ob nach Maßgabe dieser Grundsätze dem teilweise unstrukturierten und schwer verständlichen Schreiben des Angekl. vom 01.06 2017 eine eindeutige Entscheidung für die Revision zu entnehmen ist, erscheint von daher bereits zweifelhaft. Der Senat kann die Frage letztlich dahin stehen lassen, denn auch nach der Rechtsprechung des BGH ist die Anfechtung unbeschadet eines innerhalb der Revisionsbegründungsfrist wirksam erklärten Übergangs zur Revision auch dann als Berufung zu behandeln, wenn innerhalb der Revisionsbegründungsfrist (§ 345 I StPO) die Revisionsanträge nicht oder nicht in der dem § 345 II StPO genügenden Form angebracht werden (BGH, Beschl. v. 12.12.1951 – 3 StR 691/51 = BGHSt 2, 63, 70); OLG Hamm a.a.O.; vgl. auch BayObLG JR 1971, 120; KG JR 1987, 217; kritisch Meyer-Goßner/Schmitt StPO 60. Aufl. § 335 Rn. 6; KK-Gericke StPO 7. Aufl. § 335 Rn. 6). Anderenfalls würde nämlich eine bereits wirksame Urteilsanfechtung lediglich durch den nachträglich erklärten Übergang zu einem formstrengeren Rechtsmittel infolge eines bloßen Formfehlers bei dessen Begründung hinfällig, ohne dass das anderweitig gewählte Rechtsmittel überhaupt einer inhaltlichen Überprüfung zugänglich, sondern durch das AG gem. § 346 I StPO als unzulässig zu verwerfen wäre. In einem solchen Fall soll es vielmehr im Sinne der Sicherung und Effektuierung des Wahlrechts bei demjenigen Rechtsmittel bleiben, welches die unbenannte Anfechtung des amtsgerichtlichen Urteils ihrem Wesen nach von Anfang an war (vgl. OLG Hamm a.a.O. unter Hinweis auf BGHSt 33, 183/188 f.)