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JGG I: Verhängung einer (Einheits)Jugendstrafe, oder: Anforderungen an die Urteilsgründe

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Ich stelle heute dann drei Entscheidungen zum JGG, also Jugendstrafrecht, vor.

Den Opener macht der OLG Hamm, Beschl. v. 26.10.2021 – 4 RVs 109/21 –, der zu en Urteilsgründen in den Fällen der Verhängung einer Jugenstraf ausführt. Das Amtsgericht hat den Angeklagten wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in zwei Fällen zu einer Einheitsjugendstrafe verurteilt, deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hat. Dagegen die Revision, die beim OLG Erfolg hatte:

„Die zulässige Revision des Angeklagten hat in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg und führt insoweit zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache (§§ 349 Abs. 4, 354 Abs. 2 StPO). Im Übrigen ist sie offensichtlich unbegründet i.S.v. § 349 Abs. 2 StPO. …..

2. Der Rechtsfolgenausspruch des angefochtenen Urteils weist hingegen einen durchgreifenden Rechtsfehler zu Lasten des Angeklagten auf. Bei der Verhängung von Jugendstrafe ist eine besonders sorgfältige Sanktionsbegründung erforderlich, die auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts zu überprüfen ist. Es muss das Vorliegen schädlicher Neigungen eingehend – und nicht nur formelhaft – begründet und angegeben werden, welcher Art diese sind. Zu früheren Straftaten, mit denen schädliche Neigungen begründet werden, müssen konkrete tatsächliche Feststellungen getroffen werden und der Richter muss sich damit auseinandersetzen, warum gerade die abgeurteilte Tat die Verhängung einer Jugendstrafe erfordert (OLG Hamm NStZ-RR 1999, 377; OLG Köln, Beschl. v. 05.03.2010 – 1 RVs 26/10 – juris; Brunner/Dölling in: Brunner/Dölling, Jugendgerichtsgesetz, 13. Aufl. 2017, § 54 Rdn. 16).

Die Urteilsgründe sind hier insoweit lückenhaft, als sie nähere Angaben zu den beiden Verurteilungen wegen Verstoßes gegen das Waffengesetz aus Juli 2020 und Januar 2021 vermissen lassen. Zwar stützt der Tatrichter seine Wertung, dass bei dem Angeklagten schädliche Neigungen vorliegen, nicht allein auf diese beiden Verurteilungen, sondern auf sämtliche Umstände, die er im Rahmen der Strafmessung benannt hat („sind aufgrund dessen“, UA S. 5). Der Tatrichter stützt jedoch seine Überzeugung, dass die schädlichen Neigungen gerade auch zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung noch bestanden, auf diese beiden Verurteilungen. Selbst wenn diese Annahme angesichts der neuerlichen Verurteilung nicht fernliegt, kann der Senat aufgrund der lückenhaften Feststellungen zu den beiden genannten Verurteilungen letztlich nicht prüfen, ob die Wertung rechtsfehlerfrei ist. Das gilt vor allem vor dem Hintergrund, dass vor diesen Verurteilungen zunächst eine „Delinquenzpause“ bzw. „Verurteilungspause“ von knapp zwei Jahren (2018-2020) eingetreten war und die beiden Verstöße gegen das Waffengesetz auch auf völlig anderem Gebiet als die noch frühere Delinquenz liegen.

Nicht erkennbar hat der Tatrichter auch die im Rahmen der Bewährungsprognose genannten Umstände einer inzwischen aufgenommenen schulischen Ausbildung und deren Auswirkungen auf etwaige in der Vergangenheit vorliegende schädliche Neigungen gewertet.“

OWi I: Es gibt ein Lichtbild vom Verkehrsverstoß, oder: Hohe Anforderungen an die Urteilsgründe

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Die 42. KW/2021 beginne ich mit zwei OWi-Entscheidungen. Thematik: Fahreridentifizierung.

Den Aufschlag mache ich mit dem OLG Hamm, Beschl. v. 05.10.2021 – 3 RBs 211/21. Verurteilt worden ist der Betroffene wegen eines Rotlichverstoßes auf der Grundlage eines von dem Verstoß gefertigten Lichtbildes. Das gefällt dem OLG so, wie es das AG begründet hat, nicht. es „rückt“ die Ausführungen der GStA ein und hebt auf:

„Die Generalstaatsanwaltschaft hat in ihrer Antragsschrift vom 17. September 2021 insoweit Folgendes ausgeführt:

„Hinsichtlich der Feststellung der Fahrereigenschaft müssen die Urteilsgründe so gefasst sein, dass das Rechtsbeschwerdegericht überprüfen kann, ob das Belegfoto überhaupt geeignet ist, die Identifizierung einer Person zu ermöglichen. Diese Forderung kann der Tatrichter dadurch erfüllen, dass er in den Urteilsgründen auf ein in der Akte befindliches Foto gemäß § 267 Abs. 1 S. 3 StPO i. V. m. § 71 Abs. 1 OWiG Bezug nimmt. Von dieser Möglichkeit hat das Amtsgericht in dem angefochtenen Urteil Gebrauch gemacht (BI. 137 d. A.). Aufgrund der Bezugnahme wird das Lichtbild zum Bestandteil der Urteilsgründe. Das Rechtsmittelgericht kann die Abbildung aus eigener Anschauung würdigen und ist daher auch in der Lage zu beurteilen, ob es als Grundlage einer Identifizierung tauglich ist. Ist das Foto aber — wie vorliegend der Fall — aufgrund schlechterer Bildqualität zur Identifizierung des Betroffenen nur eingeschränkt geeignet, so hat der Tatrichter zu erörtern, warum ihm die Identifizierung gleichwohl möglich erscheint. Dabei sind umso höhere Anforderungen an die Begründung zu stellen, je schlechter die Qualität des Fotos ist. Die — auf dem Foto erkennbaren — charakteristischen Merkmale, die für die richterliche Überzeugungsbildung bestimmend waren, sind zu benennen und zu beschreiben (zu vgl. OLG Zweibrücken BeckRS 2018, 42893 Rn. 7).

Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil nicht gerecht. Die Beweiswürdigung erweist sich als lückenhaft, soweit das Amtsgericht die Fahrereigenschaft des Betroffenen festgestellt hat.

Der Tatrichter hätte sich mit den qualitativen Einschränkungen des Messfotos auseinandersetzen und erörtern müssen, weshalb trotz der qualitativen Einschränkungen, gleichwohl eine Identifikation anhand der von ihm beschriebenen Gesichtsmerkmale möglich gewesen ist. Es fehlt vorliegend bereits an einer Auseinandersetzung mit den qualitativen Einschränkungen des Messfotos: diese werden lediglich festgestellt.

(….)

Die Überzeugung des Tatrichters beruht zudem nach der Darstellung in den Urteilsgründen allein auf dem mündlich erstatteten Sachverständigengutachten (zu vgl. OLG Hamm, BeckRS 2017, 117469 Rn. 4). Insoweit werden zwar einige Gesichts- bzw. Kopfmerkmale wiedergegeben, die der Sachverständige bei Abgleich mit dem Messfoto gefunden haben will (Gesichts-, Wangen- und Kinnform, hohe Stirn, ansteigende linke Augenbraue). Die Merkmale seien nach den Feststellungen des Sachverständigen „individualtypisch“, stünden nicht im Widerspruch zum Aussehen des Betroffen und seien „bei beiden gegeben“. Der Sachverständige habe die Identität des Betroffenen mit der Person auf dem Radarfoto als „wahrscheinlich“ eingeordnet; der von der Verteidigung ins Spiel gebrachte Alternativfahrer habe ein „viel schmaleres Gesicht“ und verfüge „über eine Spitze am Haaransatz“, sodass der Zeuge nicht die auf dem Messfoto abgebildete Person sei. Dies reicht indes nicht aus, um das Rechtsbeschwerdegericht in den Stand zu versetzen, die Ausführungen des Sachverständigen überprüfen zu können. So bleibt schon unklar, was mit den Formulierungen „wahrscheinlich“, „individualtypisch“ und es bestehe kein Widerspruch zum Aussehen des Betroffenen gemeint ist. Nachvollziehbar begründete Wahrscheinlichkeitsaussagen fehlen. Im Übrigen fehlt die Beschreibung der in den Urteilsgründen lediglich in Bezug genommen 18 Merkmalsausprägungen, die in dem Gesicht der Person auf dem Foto zu sehen sein sollen und die sich auch in dem Gesicht des Betroffenen wiederfinden. Es werden lediglich fünf Merkmalsausprägungen, die der Sachverständige festgestellt hat, wiedergegeben. Ist aber das Messfoto von derart schlechter Qualität wie im vorliegenden Fall, sind hohe Anforderung an die Begründung der richterlichen Überzeugungsbildung zu stellen, die vorliegend durch vage gehaltene niedrigschwellige Wahrscheinlichkeitsaussagen nicht erfüllt werden.

Soweit das angefochtene Urteil als Indiz für die Fahrereigenschaft auch die Initialen des Betroffenen und seinen Geburtstag auf dem Kennzeichen des genutzten Fahrzeugs heranzieht, hat dies zwar indizielle Bedeutung, ist jedoch nicht so zwingend, dass die Lückenhaftigkeit der Beweiswürdigung im Übrigen entscheidend ausgeglichen wird.“

Den oben zitierten Ausführungen schließt sich der Senat nach eigener Sachprüfung an und macht sie zur Grundlage seiner Entscheidung.“

Und selbst hat das OLG auch noch etwas zu „meckern“:

„Teilweise ergänzend bemerkt der Senat lediglich noch Folgendes:

Die Urteilsgründe werden — worauf bereits die Generalstaatsanwaltschaft zutreffend hingewiesen hatte — den sachlich-rechtlichen Anforderungen an die Darlegung von Gutachten, die nicht unter Anwendung eines allgemein anerkannten und weithin standardisierten Verfahrens erstattet worden sind, wie es bei einem anthropologischen Vergleichsgutachten der Fall ist, nicht gerecht. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs muss der Tatrichter, der ein Sachverständigengutachten eingeholt hat und ihm Beweisbedeutung beimisst, auch dann, wenn er sich dem Gutachten des Sachverständigen, von dessen Sachkunde er überzeugt ist, anschließt, in der Regel die Ausführungen des Sachverständigen in einer in sich geschlossenen (wenn auch nur gedrängten) zusammenfassenden Darstellung unter Mitteilung der zugrundeliegenden Anknüpfungstatsachen und der daraus gezogenen Schlussfolgerungen im Urteil wiedergeben, um dem Rechtsmittelgericht die gebotene Nachprüfung zu ermöglichen (vgl. BGH, Urteil vom 27. Oktober 1999 — 3 StR 241/99 —, Rdnr. 2, juris; Senat, Beschluss vom 26. Mai 2008 — 3 Ss OWi 793/07 —, Rdnr. 9, juris). Daran fehlt es aus den o.g. in der Antragsschrift der Generalstaatsanwaltschaft genannten Gründen. Letztlich kann nicht einmal nachvollzogen werden, wie die Sachverständige zu der Wahrscheinlichkeitseinschätzung „wahrscheinlich“ kommt und wie diese einzuordnen ist. Auch ist keine Beurteilung dahingehend möglich, ob es sich bei der Bewertung der Beweisbedeutung der übereinstimmenden Merkmale durch den Sachverständigen nur um mehr oder weniger genaue Anhaltswerte handelt, die den Beweiswert der abgegebenen Wahrscheinlichkeitsaussage erheblich relativieren (vgl. auch OLG Hamm, Beschluss vom 04. Februar 2019 —111-4 RBs 17/19 —, Rdnr. 5, juris).

Soweit das Amtsgericht sich im Rahmen der Beweiswürdigung auf die Angaben eines Sachverständigen stützt, enthält das Urteil noch einen weiteren Darstellungsmangel. Denn in den Urteilsgründen wird die Person des Gutachters lediglich namentlich benannt und mitgeteilt, dass dieser dem Gericht seit Jahren als besonders erfahrener, zuverlässiger und kompetenter Sachverständiger für Lichtbildvergleichsgutachten bekannt sei. Nähere Einzelheiten zu seiner genauen Fachrichtung, seiner Arbeitsstelle und seiner Qualifikation zur Erstattung eines anthropologischen Sachverständigengutachtens werden nicht mitgeteilt. Dies ist in der Regel unzureichend (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 15. Mai 2008 — 2 Ss OWi 229/08 —, Rdnr. 7, juris).

Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat darauf hin, dass die Anforderungen an die Darlegung bzgl. eines (anthropologisch-morphologischen) Sachverständigengutachtens nur für den Fall gelten, dass sich der Tatrichter für seine Überzeugungsbildung von der Täterschaft — wie hier — allein auf ein Sachverständigengutachten stützt (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 04. Februar 2019 —111-4 RBs 17/19 —, Rdnr. 6, juris).“

Corona II: Diverses, oder: Nächtliche Ausgangssperre, Handmassage/Prostitutionsstätte, Bußgeldbescheid

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Im zweiten Posting dann dreimal das OLG Hamm zu „Corona-Fragen“, und zwar:

1. Die durch „Allgemeinverfügung des Kreises Lippe zur Umsetzung von Schutzmaßnahmen, die der Verhütung und Bekämpfung einer weiteren Ausbreitung des Coronavirus SARS-CoV- 2 auf dem Gebiet des Kreises Lippe dienen“ vom 18. Dezember 2020, veröffentlicht unter Nr. 831 im Kreisblatt – Amtsblatt des Kreises Lippe und seiner Städte und Gemeinden – Nr. 123, S. 1408 angeordnete nächtliche Ausgangssperre ist nicht nichtig.

2. Der durch einen (bloß) rechtswidrigen Verwaltungsakt bzw. eine (bloße) rechtswidrige Allgemeinverfügung Betroffene muss sich darauf verweisen lassen, dagegen Rechtsmittel einzulegen; bis zu einem Erfolg seines Rechtsmittels ist er an die Vorgaben des Verwaltungsakts bzw. der Allgemeinverfügung gebunden. Es genügt, wenn der der Bußgeldentscheidung zu Grunde liegende Verwaltungsakt bestandskräftig oder sonst vollziehbar ist.

1. Das bußgeldbewehrte Verbot des Betriebs von Prostitutionsstätten aus § 18 Abs. 2 Nr. 14 CoronaSchVO NRW (hier und nachfolgend in der Fassung vom 11. Mai 2020) i.V.m. § 10 Abs. 1 Nr. 5 CoronaSchVO NRW ist rechtmäßig.

2. Ein Massagesalon, in welchem zum Abschluss der Massage entgeltlich die manuelle sexuelle Befriedigung des Kunden angeboten wird, stellt eine Prostitutionsstätte im Sinne von § 10 Abs. 1 Nr. 5 CoronaSchVO NRW dar.

3. Betreibt der Betroffene – wie vorstehend beschrieben – verbotswidrig einen Massagesalon als Prostitutionsstätte, liegt nicht zugleich ein (tateinheitlicher) Verstoß gegen § 12 Abs. 2 Nr. 4 CoronaSchVO NRW i.V.m. der „Anlage Hygiene- und Infektionsschutzstandards“ VI. Nr. 4 vor, wenn er Kundenkontaktdaten nicht dokumentiert.

1. Der Sachverhalt, in dem die Verwaltungsbehörde den Tatbestand einer Ordnungswidrigkeit erblickt, unter Anführung der Tatsachen, die die einzelnen Tatbestandsmerkmale erfüllen, als geschichtlicher Lebensvorgang so konkret zu schildern, dass dem Betroffenen erkennbar wird, welches Tun oder Unterlassen Gegenstand der Ahndung sein soll und gegen welchen Vorwurf er sich daher verteidigen muss. Der Umfang der Tatschilderung wird maßgeblich von der Gestaltung des Einzelfalls und der Art der verletzten Vorschrift bestimmt (hier: „Betrieb einer gastronomischen Einrichtung).

2. Wesentlich für den Bußgeldbescheid als Prozessvoraussetzung ist seine Aufgabe, den Tatvorwurf in persönlicher, sachlicher und rechtlicher Hinsicht von anderen denkbaren Tatvorwürfen abzugrenzen. Diese Aufgabe erfüllt er in sachlicher Hinsicht, wenn nach seinem Inhalt kein Zweifel über die Identität der Tat entstehen kann, wenn also zweifelsfrei feststeht, welcher Lebensvorgang erfasst und geahndet werden soll. Mängel in dieser Richtung lassen sich weder mit Hilfe anderer Erkenntnisquellen, etwa dem Akteninhalt im Übrigen, ergänzen noch nachträglich, etwa durch Hinweise in der Hauptverhandlung, „heilen“.

 

Beweiswürdigung I: 50 Seiten Zeugenaussagen, oder: Hilferuf des BGH: Schreibt nicht so viel

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Und dann mal wieder drei Entscheidungen zur Beweiswürdigung.

Ich starte mit dem BGH, Beschl. v. 18.03.2021 – 4 StR 480/20. Das ist mal wieder einer der Beschlüsse, mit denen der BGH einer Strafkammer die Leviten liest = die Beweiswürdigung als zu lang beanstandet. Für mich sind das immer „Hilferufbeschlüsse“ des BGH, der ja das, was die Strafkammern schreiben – hier war es eine des LG Dortmund – alles lesen muss.

So auch hier. Verurteilt worden ist der Angeklagte bei Freisprechung im Übrigen wegen besonders schwerer Vergewaltigung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung, sexuellem Missbrauch eines Kindes und mit der Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs durch Bildaufnahmen. Die Revision des Angeklagten hatte Erfolg. Die Beweiswürdigung des LG begegnet nach Auffassung des BGH rechtlichen Bedenken.

Zunächst mahnt der BGH/ruft um Hilfe:

„1. Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatgerichts (§ 261 StPO). Ihm allein obliegt es, sich unter dem umfassenden Eindruck der Hauptverhandlung ein Urteil über die Schuld oder Unschuld des Angeklagten zu bilden. Seine Schlussfolgerungen brauchen nicht zwingend zu sein; es genügt, dass sie möglich sind. Die revisionsgerichtliche Prüfung ist darauf beschränkt, ob dem Tatgericht bei der Beweiswürdigung Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist in sachlichrechtlicher Hinsicht unter anderem der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteile vom 14. Januar 2021 – 3 StR 124/20, NStZ-RR 2021, 113, 114 und vom 30. Juli 2020 – 4 StR 603/19, NStZ 2021, 116, 117; Beschluss vom 6. August 2020 – 1 StR 178/20, NStZ 2021, 184, 185).

Das Tatgericht ist gemäß §§ 261, 267 StPO verpflichtet, in den Urteilsgründen darzulegen, dass seine Überzeugung auf einer umfassenden, von rational nachvollziehbaren Erwägungen bestimmten Beweiswürdigung beruht (vgl. BGH, Beschlüsse vom 18. November 2020 – 2 StR 152/20 und vom 11. März 2020 – 2 StR 380/19, NStZ-RR 2020, 258; MüKo-StPO/Miebach, 1. Aufl., § 261 Rn. 114). Die wesentlichen Beweiserwägungen sind in den schriftlichen Urteilsgründen so darzulegen, dass die tatgerichtliche Überzeugungsbildung für das Revisionsgericht nachzuvollziehen und auf Rechtsfehler hin zu überprüfen ist (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschlüsse vom 18. November 2020 – 2 StR 152/20, Rn. 6 und vom 25. Februar 2015 – 4 StR 39/15; Urteil vom 7. August 2014 – 3 StR 224/14). Im Falle der Verurteilung des Angeklagten ist das Tatgericht grundsätzlich verpflichtet, die für den Schuldspruch wesentlichen Beweismittel im Rahmen seiner Beweiswürdigung heranzuziehen und einer erschöpfenden Würdigung zu unterziehen (vgl. BGH, Beschluss vom 25. Februar 2015 – 4 StR 39/15, Rn. 3).

Die schriftlichen Urteilsgründe dienen jedoch nicht dazu, den Ablauf der Ermittlungen oder den Gang der Hauptverhandlung in allen Einzelheiten zu dokumentieren. Es ist deshalb in der Regel weder erforderlich noch empfehlenswert, in den Urteilsgründen im Einzelnen wiederzugeben, welche Ergebnisse die im Hauptverhandlungsprotokoll verzeichneten Beweiserhebungen erbracht haben.

Es ist deshalb regelmäßig überflüssig, nach den tatsächlichen Feststellungen sämtliche in der Hauptverhandlung erhobenen Beweismittel, auf denen das Urteil beruhen soll, aufzuzählen; erforderlich ist regelmäßig auch nicht, den wesentlichen Inhalt von Zeugenaussagen ‒ wie im angefochtenen Urteil auf über 50 Seiten geschehen ‒ losgelöst von ihrer Beweisbedeutung in chronologischer Reihenfolge in allen Einzelheiten wiederzugeben. Eine bloße Wiedergabe der Zeugenaussagen ersetzt nicht ihre eigenverantwortliche Würdigung und kann den Bestand des Urteils gefährden (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 13. Mai 2020 – 2 StR 367/19 und vom 17. Oktober 1996 – 1 StR 614/96). Eine breite Darstellung der Zeugenaussagen kann schließlich die Anforderungen an eine erschöpfende Würdigung aller für und gegen die Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage sprechenden Umstände erhöhen, wenn die mitgeteilten Einzelheiten Anlass bieten, die tatgerichtlichen Wertungen in Frage zu stellen.“

Und dann – trotz der Überlänge:

„2. Gemessen hieran halten die tatgerichtlichen Beweiserwägungen einer rechtlichen Überprüfung nicht stand. Sie sind lückenhaft.

Das Landgericht hat seine Überzeugung, dass es der Angeklagte war, der dem Tatopfer unter anderem eine leere Bierflasche aus Glas sowie einen Besenstiel jeweils „zumindest einige Zentimeter in die Vagina schob“, maßgeblich auf die Angaben des zur Tatzeit 13 Jahre alten Zeugen N. gestützt.

a) Das Landgericht hat die Aussage des Zeugen N. in der Hauptverhandlung im Einzelnen und unter Hervorhebung seiner im Zusammenhang sowie auf Fragen des Gerichts erfolgten Angaben (UA S. 56 bis 64), seine Erstangaben gegenüber einem Erzieher und seine Angaben im Verlaufe der Ermittlungen in den Urteilsgründen wiedergegeben (vgl. UA S. 64 bis 75). Im Rahmen der an späterer Stelle aufgenommenen – knappen – Beweiserwägungen hat das Landgericht seine Überzeugung von der Glaubhaftigkeit seiner Angaben unter anderem auf ein fehlendes Falschbelastungsmotiv sowie auf die Aussagekonstanz gestützt. Die diese Wertung tragenden Beweiserwägungen sind lückenhaft und nicht nachvollziehbar.

aa) Das Landgericht hat ein Falschbelastungsmotiv des Zeugen mit der Begründung verneint, es lägen keine Anhaltpunkte dafür vor, dass der Zeuge eigene Handlungen habe vertuschen wollen; soweit das Tatopfer den Zeugen bezichtigt habe, dass er selbst es mit dem Besenstiel penetriert habe, „dürfte“ der Zeuge von dieser Aussage keine Kenntnis erlangt haben, so dass diese Aussage als Anlass für ein Falschbelastungsmotiv ausscheide.

Es bedarf keiner Entscheidung, ob diese tatgerichtlichen Beweiserwägungen bereits deshalb durchgreifenden rechtlichen Bedenken begegnen, weil es diesem Umstand jede Beweisbedeutung mit der nicht tatsachengestützten Vermutung fehlender Kenntnis des Zeugen hiervon abgesprochen hat.

Die tatgerichtlichen Beweiserwägungen zu einem fehlenden Falschbelastungsmotiv lassen jedenfalls nicht erkennen, dass das Landgericht berücksichtigt hat, dass ein Falschbelastungsmotiv nicht oder nicht allein in der belastenden Aussage des Tatopfers, sondern in einer möglichen eigenen Tatbeteiligung des Zeugen wurzeln kann. Hätte der Zeuge N. das Geschehen zum Nachteil der Nebenklägerin nicht – wie festgestellt – als unbeteiligter Dritter beobachtet, sondern wäre er als Beteiligter selbst in das Tatgeschehen verstrickt gewesen (vgl. Miebach, NStZ-RR 2021, 33, 34; Wenske in MüKo-StPO, 1. Aufl., § 267 Rn. 212), läge hierin ein mögliches Motiv für eine Falschbelastung und seine Aussage bedürfte einer besonders kritischen Würdigung, an der es hier fehlt.

Darüber hinaus hätte Anlass zur Prüfung eines möglichen Falschbelastungsmotivs auch unter dem Gesichtspunkt bestanden, dass der Zeuge N. ausweislich seiner in den Urteilsgründen dokumentierten Angaben gegenüber einem Erzieher, dem Zeugen R. , bekundete, dass „alle anwesenden Personen […], auch er selbst“ an dem Tatgeschehen zum Nachteil der Nebenklägerin beteiligt gewesen seien und auch er selbst das Tatopfer „geschlagen und getreten“ habe. Hieran fehlt es……“

OWi II: Anforderungen an den Bußgeldbescheid, oder: Der“signifikante Streckenabschnitt (W., L., innerorts)“

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Bei der zweiten Entscheidung, die ich heute vorstelle, handelt es sich um den OLG Brandenburg, Beschl. v. 06.05.2021 – 2 OLG 53 Ss-OWi 141/21. In dem Beschluss geht es noch einmal um die Anforderungen an den Bußgeldbescheid als Verfahrensgrundlage. Zur Last gelegt worden ist dem Betroffenen eine Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit innerhalb geschlossener Ortschaften. Das AG hat das Verfahren eingestellt. Es hat den Bußgeld Bescheid wegen mangelnder Bestimmtheit für unwirksam gehalten.

Anders die Staatsanwaltschaft. Die hat Rechtsbeschwerde eingelegt. Und das OLG hat dann aufgehoben:

„Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet.

Die Annahme der Tatrichterin, der Bußgeldbescheid stelle keine ausreichende Verfahrensgrundlage dar, erweist sich als rechtsfehlerhaft.

Aufgabe des Bußgeldbescheides ist es, dem Betroffenen vor Augen zu führen, welche Tat im verfahrensrechtlichen Sinne (§ 264 StPO) ihm zur Last gelegt wird. Dementsprechend muss der Bußgeldbescheid gemäß § 66 Abs. 1 Nr. 3 OWiG die Bezeichnung der Tat, die dem Betroffenen zur Last gelegt wird, sowie Zeit und Ort ihrer Begehung enthalten. Wesentlich für die Bezeichnung der Tat ist, dass der Betroffene – trotz eventuell missglückter Kennzeichnung der Tat – erkennen kann, welches Tun oder Unterlassen den Gegenstand des Verfahrens bildet (vgl. Göhler/Seitz OWiG, 16. Aufl., § 66 Rn. 12; OLG Köln, Beschluss vom 16.03.2018, – 111-1 RBs 84/18 -, juris).

Die sich insbesondere aus § 66 Abs. 1 Nr. 3 OWiG ergebenden und den gesetzlichen Anforderungen an die strafprozessuale Anklageschrift (§ 200 Abs. 1 Satz 1 StPO) und den Strafbefehl (409 Abs. 1 Satz 1 StPO) nachgebildeten Anforderungen an den Bußgeldbescheid als wirksame Verfahrensgrundlage für eine gerichtliche Sachentscheidung dürfen nicht überspannt werden. Entscheidend ist, dass der Betroffene anhand der Tatbeschreibung des Bußgeldbescheides, also namentlich aus den Angaben zum Begehungsort und zur Tatzeit erkennen kann, wegen welchem konkreten Fehlverhalten er zur Verantwortung gezogen werden soll und insoweit eine Verwechslung mit einer möglichen gleichartigen Ordnungswidrigkeit desselben Betroffenen ausgeschlossen ist. Deshalb genügt zur Bezeichnung der Tat im Sinne von § 66 Abs. 1 Nr. 3 OWiG etwa die schlichte Angabe der abstrakten gesetzlichen Tatbestandsmerkmale nicht. Vielmehr ist der Sachverhalt, in dem die Verwaltungsbehörde den Tatbestand einer Ordnungswidrigkeit erblickt, unter Anführung der Tatsachen, die die einzelnen Tatbestandsmerkmale erfüllen, als geschichtlicher Lebensvorgang so konkret zu schildern, dass dem Betroffenen erkennbar wird, welches Tun oder Unterlassen Gegenstand der Ahndung sein soll. Denn nur dann ist ein rechtsstaatliches Verfahren gewährleistet. Der Umfang der Tatschilderung wird allerdings auch hier maßgeblich von der Gestaltung des Einzelfalls und der Art der verletzten Vorschrift bestimmt. Da das Bußgeldverfahren eine schnelle und Verwaltungskosten einsparende Ahndung der Ordnungswidrigkeiten bezweckt, verbietet sich eine ausführliche Schilderung von selbst; auch ein in Rechtsfragen unerfahrener Bürger muss jedoch den Vorwurf verstehen können (BGHSt 23, 336/338 ff.; OLG Bamberg, Beschluss vom 12.08.2008 – 3 Ss OWi 896/2008 -, juris).

Diesen Anforderungen genügt der hier zu beurteilende Bußgeldbescheid vom …2020. Der als Tatort anzusehende signifikante Streckenabschnitt (W., L., innerorts“) ist eindeutig bezeichnet und die dem Betroffenen konkret zur Last liegende Geschwindigkeitsüberschreitung um 31 km/h auch zeitlich, nämlich am 02.05.2020 um 12:12 Uhr, hinreichend eingegrenzt. Zudem ist das vom Betroffenen genutzte Fahrzeug, ein PKW mit dem amtlichen Kennzeichen pp., im Bußgeldbescheid benannt worden. Eine Verwechslung mit einer möglichen gleichartigen Ordnungswidrigkeit desselben Betroffenen ist daher ausgeschlossen. Insoweit bedarf es zur Erzielung eines zureichenden Bestimmtheitsgrades auch keiner „Ergänzung“ durch Heranziehung des Akteninhalts (vgl. BayObLG, Beschluss vom 01.08.1994 – 2 ObOWi 343/94 -, juris).

Das Amtsgericht war deshalb verpflichtet, die ganze Tat im verfahrensrechtlichen Sinne in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht erschöpfend zu würdigen. Hierzu zählte das gesamte Verhalten des Angeklagten, soweit es mit dem durch den Bußgeldbescheid bezeichneten geschichtlichen Vorkommnis (konkrete Fahrt des Betroffenen mit dem bezeichneten Kraftfahrzeug am Tattag auf dem im Bußgeldbescheid genannten Streckenabschnitt) nach der Auffassung des Lebens einen einheitlichen Vorgang bildet.

Erfüllt der Bußgeldbescheid seine Abgrenzungsfunktion, sind die Folgen beim Fehlen näherer Angaben über den Tathergang nicht anders zu beurteilen als im Falle unrichtiger näherer Angaben. Stellt sich in der Hauptverhandlung deshalb innerhalb des prozessual gezogenen Tatrahmens ein anderes Fehlverhalten des Betroffenen heraus, so hindert dies seine Verurteilung nicht. Denn Aufgabe der Hauptverhandlung ist nicht etwa lediglich eine Verhandlung über die im Bußgeldbescheid enthaltenen tatsächlichen (und rechtlichen) Angaben, sondern sie dient der eigentlichen Untersuchung des ordnungswidrigen Verhaltens der Betroffenen und der Aufklärung der wahren Beschaffenheit der Tat. (OLG Bamberg, a.a.O.).“

„…. Streckenabschnitt (W., L., innerorts“)“ – finde ich nicht so „signifikant“.