beA II: Anforderung an sorgfältige Ausgangskontrolle, oder: Zivilrecht gilt auch für Strafverteidiger

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Und als zweite Entscheidung der LG Limburg, Beschl. v. 16.04.2024 – 2 Qs 123/23 -, in dem das LG zum beA-Versand bzw. dem Nachweis über den Zugang durch eine sorgfältige Ausgangskontrolle Stellung nimmt.

Wir befinden uns nach Freispruch des Betroffenen im OWi-Verfahren im Kostenfestsetzungsverfahren. Das AG hat die Kosten nur zum Teil festgesetzt. Ob der Verteidiger dagegen wirksam rechtzeitig per beA Beschwerde eingelegt hat, ist streitig. Er hat einen Wiedereinsetzungsantrag gestellt, der beim AG und LG keinen Erfolg hatte:

„1. Die gemäß §§ 464b S. 3, 104 Abs. 3 S. 1 ZPO, 11 Abs. 1 RpflG statthafte sofortige Beschwerde gegen den Kostenfestsetzungsbeschluss der Rechtspflegerin ist unzulässig, da sie nicht innerhalb der Zwei-Wochen-Frist gem. § 464b S. 4 StPO eingelegt worden ist.

Bei dem Amtsgericht ist auch nach interner Prüfung, soweit dies unter Mitwirkung des Verteidigers möglich war, kein Schriftsatz eingegangen.

2. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Versäumung der Frist zur Einlegung der sofortigen Beschwerde war nicht zu gewähren.

Über den Wiedereinsetzungsantrag wegen Fristversäumung des Beschwerdeführers entscheidet gem. §§ 46 Abs. 1, 464b S. 3 StPO die Kammer als Beschwerdegericht in der für das Strafverfahren üblichen Besetzung mit dem gesamten Spruchkörper. § 568 S.1 ZPO, wonach das Beschwerdegericht durch den Einzelrichter entscheidet, wenn die angefochtene Entscheidung von einem Rechtspfleger erlassen wurde, findet keine Anwendung (Meyer-Goßner/Schmitt StPO, 66. Aufl., StPO § 464b Rn. 7).

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist auf Antrag demjenigen zu gewähren, der ohne Verschulden verhindert war, eine Frist einzuhalten (§ 44 S. 1 StPO).

In dem Antrag ist ein Lebenssachverhalt darzulegen und glaubhaft zu machen, der das fehlende Verschulden des Betroffenen an der Säumnis belegt und Alternativen ausschließt, die der Wiedereinsetzung entgegenstehen. Der Antrag ist binnen 1 Woche nach Wegfall des Hindernisses zu stellen (§ 45 Abs. 1 S. 1 StPO); innerhalb der Wochenfrist muss der Antragsteller auch Angaben über den Zeitpunkt des Wegfalls des Hindernisses machen. Zudem ist innerhalb der Antragsfrist die versäumte Handlung nachzuholen (§ 45 Abs. 2 S. 2 StPO) (BGH, Beschl. v. 5.9.2023 – 3 StR 256/23 = NStZ-RR 2023, 347, beck-online).

„Verhindert“ bedeutet, entgegen seinem Willen eine Frist nicht wahren zu können. „Ohne Verschulden“ handelt, wer die ihm nach seinen persönlichen Verhältnissen und Eigenschaften unter Berücksichtigung der Umstände des konkreten Einzelfalls mögliche und zumutbare Sorgfalt beachtet. Dabei dürfen im Interesse der materiellen Gerechtigkeit keine allzu hohen Anforderungen an den Säumigen gestellt werden (MüKoStPO/Valerius, 2. Aufl. 2023, StPO § 44 Rn. 38, 40).

Der Bundesgerichtshof stellt an die Nutzung des besonderen elektronischen Anwaltspostfachs (beA) Sorgfaltsanforderungen.

a) Der von der höchstrichterlichen Rechtsprechung entwickelte Maßstab an den sorgfältigen Umgang mit dem beA gilt nicht nur in der Ziviljustiz. Seit dem 01.01.2022 müssen anwaltliche Schriftsätze als elektronisches Dokument gemäß § 130d S. 1 ZPO über das besondere elektronische Postfach (beA) bei Zivilgerichten eingereicht werden. Eine für die Strafjustiz gleich umfangreiche Regelung hat der Gesetzgeber bislang nicht getroffen. Mit der Einführung der §§ 32 ff. StPO hat der Gesetzgeber (Bundesgesetzblatt Jahrgang 2017, Bl. 2208) indes die Grundlagen für die elektronische Akte und die elektronische Kommunikation im Strafverfahren gelegt. Durch Inkrafttreten des § 32d StPO sollen Verteidiger und Rechtsanwälte den Strafverfolgungsbehörden und Gerichten Schriftsätze und deren Anlagen sowie schriftlich einzureichende Anträge und Erklärungen als elektronisches Dokument übermitteln. Eine Pflicht zur elektronischen Übermittlung besteht für die Berufung und ihre Begründung, die Revision, ihre Begründung und die Gegenerklärung sowie die Privatklage und die Anschlusserklärung bei der Nebenklage.

Bedient sich der Strafverteidiger – unabhängig einer ggf. nur fakultativen Nutzung – zur Übermittlung eines Schriftstücks an das Strafgericht im Wege des elektronischen Rechtsverkehrs dem beA, gelten für ihn zugleich die von der höchstrichterlichen Rechtsprechung entwickelten Sorgfaltspflichten.

b) Neben der Eingangskontrolle beim Empfang von Nachrichten verlangt die höchstrichterliche Rechtsprechung insbesondere eine umfangreiche Ausgangskontrolle beim Versand von beA-Nachrichten. Ein Rechtsanwalt hat ggf. durch organisatorische Vorkehrungen sicherzustellen, dass ein fristgebundener Schriftsatz rechtzeitig gefertigt wird und innerhalb der laufenden Frist beim zuständigen Gericht eingeht (BGH, Beschluss vom 17.3.2020 – VI ZB 99/19 = NJW 2020, 1809 Rn. 8, beck-online)

Die anwaltlichen Sorgfaltspflichten im Zusammenhang mit der Übermittlung von fristgebundenen Schriftsätzen im Wege des elektronischen Rechtsverkehrs über das beA entsprechen denen bei Übersendung von Schriftsätzen per Telefax. Unerlässlich ist die Überprüfung des Versandvorgangs. Dies erfordert die Kontrolle, ob die Bestätigung des Eingangs des elektronischen Dokuments bei Gericht nach § 130a Abs. 5 S. 2 ZPO erteilt worden ist (BGH Beschluss vom 11.1.2023 – IV ZB 23/21 = NJW-RR 2023, 425, beck-online). Die Eingangsbestätigung soll dem Absender unmittelbar und ohne weiteres Eingreifen eines Justizbediensteten Gewissheit darüber verschaffen, ob die Übermittlung an das Gericht erfolgreich war oder ob weitere Bemühungen zur erfolgreichen Übermittlung des elektronischen Dokuments erforderlich sind. Hat der Rechtsanwalt eine Eingangsbestätigung nach § 130a Abs. 5 S. 2 ZPO erhalten, besteht Sicherheit darüber, dass der Sendevorgang erfolgreich war (BGH, Beschluss vom 29.9.2021 – VII ZR 94/21 = NJW 2021, 3471, beck-online).

Die Ausgangskontrolle eines Schriftsatzes an das Gericht per beA beschränkt sich nicht auf die bloße Kenntnisnahme der Eingangsbestätigung nach § 130a Abs. 5 ZPO (NJW 2023, 1537 Rn. 3, beck-online). Die Kontrollpflicht umfasst die erforderliche Überprüfung, ob die Übermittlung vollständig, an den richtigen Empfänger und bezogen auf den ggf. angefügten Schriftsatz erfolgreich erfolgt ist (BGH Beschluss vom 20.9.2022 – XI ZB 14/22 = NJW 2022, 3715, beck-online). Für die Ausgangskontrolle des elektronischen Postfachs beA bei fristgebundenen Schriftsätzen genügt jedenfalls nicht die Feststellung, dass die Versendung irgendeines Schriftsatzes mit dem passenden Aktenzeichen an das Gericht erfolgt ist, sondern anhand des zuvor sinnvoll vergebenen Dateinamens ist auch zu prüfen, welcher Art der Schriftsatz war (BGH Beschluss vom 31.8.2023 – VIa ZB 24/22 = NJW 2023, 3434, beck-online; BGH Beschluss vom 20.9.2022 – XI ZB 14/22 = NJW 2022, 3715, beck-online; BGH, Beschluss vom 17.3.2020 – VI ZB 99/19 = NJW 2020, 1809, beck-online). Dies rechtfertigt sich dadurch, dass bei einem Versand über beA – anders als bei einem solchen über Telefax, bei dem das Original des Schriftsatzes zur Übermittlung in das Telefax-Gerät eingelegt wird – eine Identifizierung des zu übersendenden Dokuments nicht mittels einfacher Sichtkontrolle möglich ist und deshalb eine Verwechslung mit anderen Dokumenten, deren Übersendung nicht beabsichtigt ist, nicht von vornherein ausgeschlossen werden kann (BGH Beschluss vom 21.3.2023 – VIII ZB 80/22 = NJW 2023, 1668, beck-online).

Bei der Vergabe eines „sinnvollen“ Dateinamens, der ohne Weiteres auch Rückschlüsse auf den Inhalt des Dokuments zulässt, kann sich der sorgfältige beA-Nutzer an den formalen Anforderungen der am 20.09.2017 erlassenen Verordnung der Bundesregierung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) orientieren. Zu den formalen Anforderungen an elektronische Dokumente sieht § 2 Abs. 2 ERVV vor:

Der Dateiname soll den Inhalt des elektronischen Dokuments schlagwortartig umschreiben und bei der Übermittlung mehrerer elektronischer Dokumente eine logische Nummerierung enthalten. Der Dateiname des Schriftsatzes soll der üblichen Bezeichnung in der jeweiligen Prozessordnung entsprechen, also beispielsweise als Klageschrift, Klageerwiderung, Berufungs- oder Revisionsschrift oder Kostenfestsetzungsantrag bezeichnet werden. Der Schriftsatz und die Anlagen sollen neben der Inhaltsbezeichnung durch die Voranstellung einer Nummerierung (etwa 01, 02, 03 …) geordnet werden (BR-Drs. 645/17, S. 2, 13).

Mit der Vergabe eines sinnvollen Dateinamens ist nicht nur der Reduzierung des Aufwands für Gerichte, Gerichtsvollzieherinnen und Gerichtsvollzieher bei der Führung einer elektronischen Akte gedient (BR-Drs. 645/17, S. 13), sondern auch dem Rechtsanwalt, der Fehlerquellen bei der Übermittlung fristgebundener Schriftstücke auf elektronischem Wege möglichst zu eliminieren gesucht.

c) Die dem Rechtsanwalt auferlegten Überprüfungspflichten sind zumutbar. Die Ausgangskontrolle ist über die Nachrichtenansicht der beA-Webanwendung, anhand des Übermittlungsprotokolls mittels der dort verfügbaren Informationen unter der Überschrift „Anhänge“ sowie anhand des Abschnitts „Zusammenfassung und Struktur“ des Prüfprotokolls möglich (BGH Beschluss vom 21.3.2023 – VIII ZB 80/22 = NJW 2023, 1668, beck-online; BGH Beschluss vom 20.9.2022 – XI ZB 14/22 = NJW 2022, 3715, beck-online).

Die Bundesrechtsanwaltskammer stellt beA-Nutzern zum erleichterten Umgang über ihren frei zugänglichen Internetauftritt (vgl. https://portal.beasupport.de/neuigkeiten/nachweis-ueber-den-zugang-von-nachrichten-bei-gerichten-stellungnahme-der-brak, zuletzt aufgerufen am 09.04.2024) eine umfangreiche Anwenderhilfe und Support im Umgang mit der Nutzung des beA zur Verfügung, deren sich beA-Nutzer bedienen können, und informiert insbesondere zum Nachweis über den Zugang von Nachrichten bei Gerichten am Maßstab höchstrichterlicher Rechtsprechung praxis- und anwenderfreundlich.

Diesen Anforderungen ist die Ausgangskontrolle des Verteidigers des Beschwerdeführers unter Zugrundelegung des Wiedereinsetzungsvortrags nicht gerecht geworden.

Die verteidigerseits vorgelegte Dokumentation zur beA-Nachricht lässt nicht den Schluss zu, dass die sofortige Beschwerde innerhalb der Beschwerdefrist des § 464b S. 4 StPO beim Amtsgericht eingegangen ist. Den Darlegungen des Betroffenen im Wiedereinsetzungsantrag lässt sich nicht entnehmen, dass der Verteidiger eine hinreichende Ausgangskontrolle in Eigenverantwortung gewährleistet hat. Ohnehin würde die Kontrolle des zu übersendenden Dokuments durch eine Kanzleikraft im Vorfeld des elektronischen Versands nicht zu einer Herabsetzung der Sorgfaltsanforderungen an die Überprüfung der Eingangsbestätigung führen (BGH Beschluss vom 31.8.2023 – VIa ZB 24/22 = NJW 2023, 3434, beck-online).

Aus dem vom Prozessbevollmächtigten des Beschwerdeführers vorgelegten Prüfprotokoll für den 28.07.2022 über Schriftsätze in dieser Sache ergibt sich, dass hier die der beA-Nachricht angehängte Datei „A-b-e-l-.pdf“ versandt worden war. Für diese Tatsache genügt der vorgelegte beA-Sendenachweis. Soweit der Verteidiger darüber hinaus mit der Vorlage auch den Nachweis zu erbringen versucht, dass es sich bei dem Anhang inhaltlich um die sofortige Beschwerde handelt, kann ihm dies nicht gelingen. Eine sorgfältige Ausgangskontrolle anhand eines sinnvoll gewählten Dateinamens hat der Verteidiger versäumt.

Bei dem von dem Verteidiger frei gewählten Dateinamen handelt es sich um den Nachnamen des Beschwerdeführers, wobei die einzelnen Buchstaben jeweils mit einem „Bindestrich“ voneinander getrennt sind. Anhand der verkürzten Form des Dateinamens ist noch erkennbar, dass hier ein Schriftstück mit Bezug zum Betroffenen versandt worden war. Nicht feststellbar ist hingegen, ob das Schriftstück einen Bezug zum hiesigen Bußgeldverfahren aufweist. Der Dateiname ist nicht geeignet, eine Verwechslung auszuschließen. Eine Zuordnung zu einem bestimmten Verfahren oder eine hinreichende Unterscheidung von anderen Dokumenten im selben Verfahren ist durch den gewählten Dateinamen nicht möglich. Rückschlüsse auf den Inhalt des angehängten Dokuments lässt der gewählte Dateiname nicht zu. Der Verteidiger hat zudem die reale Gefahr einer Verwechslung hervorgerufen: Für die Übersendung eines vorangegangenen Schriftsatzes vom 25.04.2022 und eines nachfolgenden Schriftsatzes vom 02.12.2022 hat der Verteidiger ebenfalls die gleichlautende Dateibezeichnung „A-b-e-l-.pdf“ gewählt. Aufgrund des unklaren Dateinamens kann der vorgelegte beA-Sendenachweis nicht dem Nachweis dafür dienen, dass Inhalt des am 28.07.2022 übermittelten Anhangs die vermeintlich unter dem 27.07.2022 erhobene sofortige Beschwerde ist.

Für das Verschulden seines anwaltlichen Vertreters hat der Betroffene einzustehen.

Eine solche Zurechnung findet im Strafverfahren zwar nicht durchgehend statt. Eine Ausnahme ist jedoch nur zugunsten des Beschuldigten anerkannt und dies auch nur, soweit er sich gegen den Schuld- oder Rechtsfolgenausspruch zur Wehr setzt. So ist es den Strafgerichten regelmäßig verwehrt, dem Beschuldigten Versäumnisse des Verteidigers zuzurechnen, wenn zu prüfen ist, ob ihn an einer Fristversäumung gem. § 44 Abs. 1 S. 1 StPO ein Verschulden trifft (vgl. BVerfG NJW 1994, 1856). Den allgemeinen Verfahrensgrundsatz des § 85 Abs. 2 ZPO, wonach das Verschulden des Bevollmächtigten dem Verschulden der Partei gleichsteht, kennt die Strafprozessordnung nicht (vgl. BVerfGE 60, 253 = NJW 1982, 2425). Auf dieses Privileg kann sich ein Beschuldigter nur berufen, soweit er sich mit einem Rechtsbehelf gegen den Schuldspruch oder den Rechtsfolgenausspruch wendet, welche sich besonders einschneidend auf Ehre, Freiheit, Familie, Beruf und damit sein gesamtes Leben auswirken können. Bei anderweitigen Rechtsbehelfen muss dagegen auch er für das Verschulden seines Vertreters einstehen. Das betrifft etwa die sofortige Beschwerde gegen die Kosten- und Auslagenentscheidung nach § 464 Abs. 3 StPO, da diese in ihrem Wesen und ihren Auswirkungen Schuldtiteln über Geldforderungen vergleichbar ist, so dass § 85 Abs. 2 ZPO jedenfalls seinem allgemeinen Rechtsgedanken nach angewendet wird (BGH Beschluss vom 4.7.2023 – 5 StR 145/23 = NJW 2023, 3304, beck-online).

Dem steht die Kostenfestsetzung nach § 464b StPO gleich. Der Beschwerdeführer muss sich das Verschulden des Verteidigers im Sinne des § 85 Abs. 2 ZPO im Kostenfestsetzungsverfahren nach § 464b StPO zurechnen lassen (Meyer-Goßner/Schmitt StPO, 66. Aufl., StPO § 44 Rn. 19). In diesem Fall besteht nicht das besondere Schutzbedürfnis, das allein die Ausnahme von dem Grundsatz des § 85 Abs. 2 ZPO für den sich verteidigenden Beschuldigten rechtfertigt.“

beA I: Streit um das Zustellungsdatum des Urteils, oder: Anordnung der Vorlage des beA-Nachrichtenjournals

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Und dann auf in die neue Woche, und zwar zunächst mit beA-Beiträgen

Den Opener macht hier der OLG München, Beschl. v. 26.4.2024 – 23 U 8369/21. Gestritten wird in dem Verfahren um das Zustellungsdatum des erstinstanzlichen Urteils. Das OLG hat die Vorlage des beA-Nachrichtenjournals angeordnet:

„1. Der Senat hält auch unter Berücksichtigung der Einwände des Klägervertreters im Schriftsatz vom 09.02.2024 an seiner Einschätzung aus dem Hinweisbeschluss vom 02.02.2024 fest, dass weder dem Beweisantrag der Klägerin auf Vorlage der Mandantenkorrespondenz des Beklagtenvertreters mit dem Beklagten noch dem Antrag auf Parteieinvernahme des Beklagten stattzugeben ist. Auf die im Hinweisbeschluss hierfür angeführten Gründe wird Bezug genommen.

2. Im Schriftsatz vom 09.02.2024 (S. 3) nimmt die Klägerin indes nunmehr ausdrücklich auf das beA-Nachrichtenjournal des Beklagtenvertreters für die Übersendung des Landgerichtsurteils Bezug. Der Senat beabsichtigt daher, gemäß § 142 Abs. 1 ZPO anzuordnen, dass der Beklagte dieses Journal betreffend die Übersendung des Landgerichtsurteils in ausgedruckter Form als Urkunde vorlegt.

2.1. Die Klagepartei hat sich auf das Nachrichtenjournal bezogen im Sinne des § 142 Abs. 1 ZPO.

2.2. Der Ausdruck aus dem beA-Nachrichtenjournal des Beklagtenvertreters ist als Ausdruck eines elektronischen Dokuments eine sonstige Unterlage im Sinne des § 142 Abs. 1 ZPO (Muslielak/Voit/Stadler, 2. Aufl. 2023, ZPO, § 142 Rn. 2). Sie befindet sich im Besitz der beklagten Partei. Hierzu genügt der mittelbare Besitz der Partei, der dadurch begründet wird, dass sich das Journal in den Händen des seinen Anweisungen unterliegenden Rechtsanwalts befindet (Musielak/Voit/Stadler, a.a.O., § 142 Rn. 3). Dass der Beklagtenvertreter den Ausdruck u.U. erst noch erstellen muss, hindert die zumindest analoge Anwendung des § 142 Abs. 1 ZPO nicht (BGH NJW 2013, 1003 Tz. 9 ff. für die Anfertigung einer Eigentümerliste; Anders/Gehle/Bünnigmann, 82. Aufl. 2024, ZPO, § 142 Rn. 11).

2.3. Nach derzeitiger, vorläufiger Ansicht des Senats entspricht es in vorliegendem Einzelfall pflichtgemäßem Ermessen, die Vorlage anzuordnen.

2.3.1. Das beA-Nachrichtenjournal protokolliert im System des Rechtsanwalts, wann eine Nachricht eingegangen ist und wer sie wann zum ersten Mal geöffnet hat (Wagner/Ernst NJW 2021, 1564 Rn. 15; Ultsch WuB 2023, 298, 301). Dies kann ein gewichtiges Beweismittel für die Klagepartei sein, die vorliegend die Unrichtigkeit des im Empfangsbekenntnis des Beklagtenvertreters genannten Zustelldatums behauptet.

2.3.2. Ein das Klägerinteresse überwiegendes Geheimhaltungsinteresse der beklagten Partei oder ihres Prozessvertreters ist nicht ersichtlich. Hinsichtlich der Frage, wann das Urteil des Landgerichts erstmals seitens des Beklagtenvertreters geöffnet wurde, hat der Beklagte kein schützenswertes Interesse, die Information aus dem Verfahren herauszuhalten. Im Gegenteil: Die für die Zulässigkeit der Berufung wesentliche Vorfrage ist – wie die Zulässigkeit der Berufung – von Amts wegen zu klären. Anders als bei der Vorlage von Mandantenkorrespondenz geht es hierbei nicht um die interne Kommunikation eines Rechtsanwalts mit seinem Mandanten etwa über die Prozessstrategie.

2.3.3. Allerdings ist im Rahmen der Ermessensausübung zu berücksichtigen, dass nach § 174 Abs. 4 Satz 1 ZPO a.F. (§ 173 Abs. 3 Satz 1 ZPO n.F.) grundsätzlich allein das Empfangsbekenntnis als Nachweis der Zustellung genügt. Die gesetzliche Wertung darf nicht vorschnell dahin abgeändert werden, dass der Zustellempfänger zusätzlich auch noch das beA-Nachrichtenjournal vorlegen muss, um seiner Nachweispflicht zu genügen. Eine Anordnung der Vorlage des Journals ist daher nur dann gerechtfertigt und angemessen, wenn konkrete Umstände vorgetragen oder sonst verfahrensgegenständlich sind, die im Einzelfall einen besonderen, gegenüber dem Normalfall gesteigerten Überprüfungsbedarf indizieren (vgl. Anders/Gehle/Anders, a.a.O., § 130 a Rn. 7; Musielak/Voit/Stadler, a.a.O., § 142 Rn. 3, Wagner/Ernst NJW 2021, 1564 Rn. 23).

Nach diesen Grundsätzen dürfte die Anordnung hier zu treffen sein: Zwischen der Absendung des Teilurteils am 07.10.2021 und der elektronischen Bestätigung des Eingangs der Nachricht im System des Beklagtenvertreters am gleichen Tag einerseits und dem 22.10.2021 als Zustelldatum gemäß dem Empfangsbekenntnis des Beklagtenvertreters andererseits lagen mehr als zwei Wochen. Diese erhebliche Dauer belegt zwar für sich nicht die Unrichtigkeit des Empfangsbekenntnisses (BGH NJW-RR 2021, 1584 Tz. 11; Wagner/Ernst NJW 2021, 1564 Rn. 13; hierzu bereits Hinweis vom 02.02.2024). Sie rechtfertigt – in Verbindung mit den übrigen Umständen des vorliegenden Einzelfalls – hier indes, die Vorlage des Nachrichtenjournals zur näheren Überprüfung anzuordnen. Insoweit ist zu berücksichtigen, dass ein Rechtsanwalt gemäß § 53 Abs. 1 Nr. 1 BRAO schon im Falle einer Verhinderung von mehr als einer Woche für seine Vertretung sorgen muss, die gemäß § 54 Abs. 2 Satz 2 BRAO auch zur Abgabe elektronischer Ernpfangsbekenntnisse befugt sein muss und also – gleich einem Zustellungsbevollmächtigten – für eine zeitnahe Entgegennahme und Bestätigung von Zustellungen Sorge zu tragen hat (vgl. BeckOK BRAO/Günther, 22. Ed. 1.2.24, BRAO § 54 Rn. 8 f.; BeckOK BORA/Günther, 42. Ed. 1.12.23, BORA § 14 Rn. 8; Wagner/Ernst NJW 2021, 1564 Tz. 8). Der Beklagtenvertreter hat bislang nicht erklärt, wie und warum es gleichwohl zu der deutlich über eine Woche hinausgehenden Zustellverzögerung kam. Hinzu kommt, dass der Beklagtenvertreter – gleichfalls bislang ohne Erläuterung – das Empfangsbekenntnis erst unter dem Datum 04.11.2021 gezeichnet und dann erst mit Fax vom 19.11.2021 (9:41 Uhr) an das Landgericht übersandt hat, nachdem er zuvor bereits dreimal (am 21.10.21, am 4.11.21, am 17.11.21) vom Landgericht dazu gemahnt worden war.

Insgesamt dürfte sich aus der gegebenen Situation ein weiterer, besonderer Aufklärungsbedarf ergeben, der das Beweisinteresse der Klägerin überwiegen und die Anordnung gemäß § 142 ZPO angemessen erscheinen lassen dürfte.“

Ich habe da mal eine Frage: Kann ich auch Vorschuß auf die Terminsgebühr verlangen?

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Heute im Gebührenrätsel dann etwas zum Vorschuss (§ 9 RVG), und zwar:

„In einer Bußgeldsache schicke ich eine Vorschussrechnung an die RSV, das Verfahren ist noch bei der Bußgeldbehörde anhängig. Es wurde Einspruch gegen den Bußgeldbescheid eingelegt und näher vorgetragen.

Ich mache u.a. auch die VG für das gerichtliche Verfahren und eine TG für die Hauptverhandlung geltend. Die RSV will jetzt die Ladung haben, die es (natürlich) noch nicht gibt.

§ 9 RVG spricht doch von voraussichtlich entstehenden Gebühren, also was soll der Quatsch? Oder übersehe ich was??“

Erstreckung II: Voraussetzungen der Erstreckung, oder: Grundkenntnisse fehlen beim LG Siegen/der StA Siegen

Und hier dann die Lösung der Preisfrage von heute Morgen.

Ich hatte da in dem Posting Erstreckung I: Voraussetzungen der Erstreckung, oder: AG Siegen macht es richtig den zutreffenden AG Siegen, Beschl. v. 23.11.2023 – 450 Gs 1656/23 – vorgestellt und gefragt, ob die Staatsanwaltschaft die Entscheidung hingenommen hat. Die Frage stellen, heißt, sie zu verneinen. Nein, hat die StA – aus welchen Gründen auch immer – natürlich nicht, sondern hat Beschwerde eingelegt, die dann, um das Ganze zu toppen, auch beim LG Siegen mit dem LG Siegen, Beschl. v. 19.02.2024 – 10 Qs 4/24Erfolg hatte.

Ich stelle hier jetzt nur die Ausführungen des LG zur Begründetheit des Rechtsmittels vor, die zur Statthaftigkeit/Zulässigkeit lasse ich mal außen vor. Insoweit reichen die Leitsätze, und zwar:

1. Gegen eine Erstreckungsentscheidung ist das Rechtsmittel der (einfachen) Beschwerde statthaft.
2. Auch der Staatsanwaltschaft steht die Befugnis zu, gegen eine Erstreckungsentscheidung, Beschwerde einzulegen.

Zur Begründung schreibt das LG dann:

„Nach § 48 Abs. 6 Satz 3 RVG kann das Gericht, wenn Verfahren verbunden werden, die Wirkungen des § 48 Abs. 6 Satz 1 RVG auch auf diejenigen Verfahren erstrecken, in denen der Rechtsanwalt vor der Verbindung nicht beigeordnet oder nicht bestellt war.

Hierbei handelt es sich um eine Ermessensentscheidung („kann“). Anders als im Fall des § 48 Abs. 6 Satz 1 RVG, bei dem die Wirkung mit der Pflichtverteidigerbestellung eintritt, soll bei verbundenen Verfahren die gebührenrechtliche Rückwirkung nur dann eintreten, wenn dies ausdrücklich durch das Gesetz vorgesehen ist.

Voraussetzung für die Anwendbarkeit ist dabei zunächst, dass es ein Verfahren gibt, bei dem § 48 Abs. 6 Satz 1 RVG vorliegt („auch“). Da § 48 Abs. 6 Satz 1 RVG das Vorliegen einer Beiordnung oder Bestellung eines Rechtsanwalts voraussetzt, können die Gründe hierfür – isoliert – nicht in der Ermessensentscheidung ausschlaggebend sein.

Daher sind die von dem Beschwerdegegner vorgebrachten Umstände, dass die Beschuldigte unter einer gesetzlichen Betreuung steht, die Frage ihrer Schuldfähigkeit bei den Verfahren im Raume steht und die Vielzahl der einzelnen Verfahren für die Ermessensentscheidung zwar zu berücksichtigende Punkte sein. Wenn diese – wie hier – vorliegen, führt dies aber nicht automatisch zu der Annahme, dass die Erstreckung erklärt werden müsse.

Auch der Umstand, dass sich die Entscheidung über die notwendige Vertretung verzögert hat, führt nicht automatisch zu der Annahme, dass die Erstreckung erklärt werden muss. Zwar wäre bei zeitiger Entscheidung vor Verbindung die Problematik wegen § 48 Abs. 6 Satz 1 RVG gar nicht erst entstanden. Jedoch gibt es gerade für diese Fallkonstellatiön den § 48 Abs. 6 Satz 3 RVG.

Die ebenfalls zu berücksichtigenden konkreten Tätigkeiten des Beschwerdegegners wurden nicht hinreichend dargelegt. Das Amtsgericht Siegen hat mit Verfügung vom 23.10.2023 (BI. 243 d.A.) darauf hingewiesen, dass § 48 Abs. 6 Satz 1, Satz 3 RVG voraussetzt, dass es bereits zu Tätigkeiten des Rechtsanwalts gekommen ist („für seine Tätigkeit“). Auf den hierauf eingehenden Schriftsatz des Beschwerdegegners vom 24.10.2023 (BI. 244-245 d.A.) hat die Staatsanwaltschaft Siegen mit Verfügung vom 07.11.2023 (BI. 246 d.A.) ausführlich Stellung genommen, welche dem Beschwerdegegner mit Verfügung vom 10.11.2023 mit dreiwöchiger Stellungnahmefrist vom Amtsgericht Siegen übersandt wurde (BI. 246R d.A.). Weder in dem darauf er-widernden Schreiben des Beschwerdegegners vom 14.11.2023 (BI. 247-252 d.A.) noch im Weiteren sind die jeweiligen konkreten Tätigkeiten ersichtlich vorgetragen worden. Hier wurde in den jeweiligen Ermittlungsverfahren nur der Antrag auf Bestellung zum Pflichtverteidiger gestellt, um Akteneinsicht gebeten und teilweise mitgeteilt, dass an einer Beschuldigtenvernehmung nicht teilgenommen wird. Aus diesem Grund führen auch die Ausführungen auf Seite 4 im Schreiben vom 26.01.2024 zu keinem anderen Ergebnis, weil sich diese Ausführungen gerade auf eine Vernehmungssituation beziehen. Lediglich in einem Fall (auf BI. 51 d.A.) wurde angeregt, das Verfahren im Hinblick auf das Verfahren 83 Js 1331/19 einzustellen. In dem Ver-fahren (66 Js 123/23) erfolgte jedoch eine ausdrückliche Bestellung zum Pflichtverteidiger. Die von dem Beschwerdegegner genannten Tätigkeiten wie Besprechung mit der Mandantin oder Einarbeiten in die Akte genügen den Anforderungen an eine konkrete Tätigkeit nicht, weil der Gesetzgeber hierfür die Grundgebühr nach Nr. 4100 und die Verfahrensgebühr nach Nr. 4104 als Pauschale vorsieht, unabhängig davon, wie umfangreich der Sachverhalt ist oder wieviele Verfahren vor der Bestellung verbunden wurden.

Unter Berücksichtigung der obigen Ausführungen kam eine Erstreckung nach § 48 Abs. 6 Satz 3 RVG bei einer Gesamtbetrachtung nicht in Betracht. Der Grundgedanke des § 48 Abs. 6 Satz 3 RVG besteht darin, frühere Tätigkeiten, die als Wahlverteidiger vorgenommen wurden, nach der Bestellung als Pflichtverteidiger zu vergüten, obwohl durch die Verbindung hierüber nicht entschieden wurde. Diese Tätigkeiten gab es hier nicht, weil unmittelbar im ersten Schreiben in jedem Verfahren der Antrag vorlag, als Pflichtverteidiger bestellt zu werden. Dann erfolgte die Verbindung der Verfahren bereits durch die Staatsanwaltschaft und nicht erst durch das Gericht nachdem jeweils eine Anklageschrift vorlag. In diesen Konstellationen fehlt es bereits an den Tätigkeiten im Ermittlungsverfahren, die vergütet werden sollen. Das gilt insbesondere hier, wenn wie vom Beschwerdegegner ausgeführt, immer die gleiche Frage relevant ist, inwieweit die Beschuldigte schuldfähig ist.

Soweit das Amtsgericht Siegen in dem angefochtenen Beschluss die Entscheidung über die Erstreckung in den Verfahren 66 Js 660/23 und 66 Js 661/23 abgelehnt hat (zweiter Absatz auf Seite des Beschlusses, BI. 262 d.A.) schließt sich die Kammer insoweit der dortigen Argumentation an, dass es hierzu keiner Entscheidung bedarf. Ob es eine tatsächliche Tätigkeit vor der Verbindung gab (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 16.05.2017 – 1 Ws 95/17 Rn. 20), ist dann im Festsetzungsverfahren zu prüfen.“

Dazu Folgendes: Die Ausführungen des LG zur Begründetheit des Rechtsmittels lassen den Leser der Entscheidung ratlos, wenn nicht fassungslos“ zurück? Denn die Ausführungen des LG zu den konkreten Tätigkeiten des Rechtsanwalts/Pflichtverteidigers offenbaren m.E. dann doch bei der entscheidenden Strafkammer einen erheblichen Mangel an gebührenrechtlichen Grundkenntnissen.

Zutreffend ist es (noch), wenn die Strafkammer darauf verweist, dass die Erstreckungsentscheidung nach § 48 Abs. 6 S. 3 RVG eine „Ermessensentscheidung“ ist, die natürlich voraussetzt, dass in dem Verfahren, auf das erstreckt werden soll, die Voraussetzungen für eine Pflichtverteidigerbestellung nach §§ 140 ff. StPO vorgelegen haben. Grundsätzlich zutreffend ist es auch, wenn das LG ausführt, dass eine Erstreckung nach § 48 Abs. 6 Satz 3 RVG nur in Betracht kommt, wenn der Rechtsanwalt in dem oder den Verfahren, auf die erstreckt werden soll, Tätigkeiten erbracht hat.

An der Stelle liegt dann aber auch der grobe Fehler, den das LG macht und der einen – immerhin handelt es sich um eine Beschwerdekammer, die in „Dreierbesetzung“ entschieden hat – ratlos, wenn nicht fassungslos zurücklässt. Denn das LG meint, in den Verfahren, auf die erstreckt werden sollte, seien bei dem Pflichtverteidiger keine Gebühren entstanden. Aber: Es sind Gebühren entstanden, und zwar, da man sich noch im Verfahrensstadium „Ermittlungsverfahren“ befunden hat (vgl. Anm. zur Nr. 4104 VV RVG) die Gebühren Nr. 4100 VV RVG – Grundgebühr – und die Nr. 4105 VV RVG – Verfahrensgebühr für das vorbereitende Verfahren und diese beiden Gebühren immer nebeneinander. Voraussetzung für das Entstehen der Gebühren des Rechtsanwalts sind von ihm für den Mandanten erbrachte Tätigkeiten. Dazu hatte der Pflichtverteidiger „Tätigkeiten wie Besprechung mit der Mandantin oder Einarbeiten in die Akte“ genannt. Warum diese Tätigkeiten nicht – wie das LG meint – den Anforderungen an eine konkrete Tätigkeit genügen sollen, erschließt sich mir nicht. Ich empfehle die Lektüre eines gängigen Kommentars zum Entstehen und zum Abgeltungsbereich der Grundgebühr Nr. 4100 VV RVG und zur Verfahrensgebühr Nr. 4104 VV RVG. Beide Gebühren entstehen mit der ersten Tätigkeit des Rechtsanwalts für den Mandanten, wozu die genannten Tätigkeiten gehören. Ganz sicher ist es keine Begründung, wenn das LG meint: „weil der Gesetzgeber hierfür die Grundgebühr nach Nr. 4100 und die Verfahrensgebühr nach Nr. 4104 als Pauschale vorsieht, unabhängig davon, wie umfangreich der Sachverhalt ist oder wie viele Verfahren vor der Bestellung verbunden wurden“. Der erste Teil dieser Begründung ist unverständlich, der zweite falsch, weil es für die Erstreckungsentscheidung nicht darauf ankommt, wie viele Verfahren verbunden worden sind, auch wenn das wegen der Höhe der entstehenden gesetzlichen Gebühren vielleicht die Staatsanwaltschaft und das LG gestört haben. Ohne Bedeutung ist auch der Umstand, dass „immer die gleiche Frage relevant ist, inwieweit die Beschuldigte schuldfähig ist.

Und schließlich: Falsch sind/waren im Übrigen auch die Ausführungen der Staatsanwaltschaft im Erstreckungsverfahren, die mir vorliegen. Dort hatte der Staatsanwalt

höflich [sic!!] darauf hingewiesen, dass soweit von der Verteidigung vorgetragen wird, dass „sich jeweils auf die anstehenden Vernehmungen vorbereitet“ wurde (BI. 224 d. A.), dies i.E. unwahrscheinlich sein dürfte, da die gegenüber der Beschuldigten erhobenen Vorwürfe im Einzelnen (gemeint ist das ihr insoweit zur Last gelegte Handeln) nicht bekannt gewesen sein dürften (vgl. BI. 119x d. A.) insoweit aber auch und gerade Akteneinsicht beantragt wurde (vgl. Bl. 123x d. A). Auf Grund des Antrages des Verteidigers konnte es auch nicht zu einer Vernehmungssituation kommen, sodass insoweit auch keine Vorbereitung auf eine anstehende Vernehmung erfolgt sein kann. Wie eine nachhaltige Erörterung sachgerecht erfolgen kann, ohne dass der Verteidiger sich über die Polizei oder die Staatsanwaltschaft Einblick in die Ermittlungsunterlagen verschafft und erwartbar vorhandene Zeugenaussagen studiert, ist bereits fraglich (vgl. hierzu etwa LG Münster, Beschluss vom 4. September 2020 – 20 Qs 9/20 -, Rn. 29, juris). Dies umso mehr, als das der Verteidiger gerade keinen Kontakt zur Mandantin schildert, sondern lediglich zu deren Betreuerin (vgl. BI. 224x d. A.). Verfahrensbezogene Vergütungsansprüche können aber nur dadurch entstehen, dass der Rechtsanwalt eine konkrete Tätigkeit in dem jeweiligen Verfahren erbringt, wobei ihm in derselben Angelegenheit die Gebühren nur einmal zustehen. Dass dem Rechtsanwalt ein Verfahren bekannt ist, ist noch keine gebührenauslösende Tätigkeit. Auch ein pauschales Legitimationsschreiben belegt nur, dass der Rechtsanwalt mandatiert worden ist, aber gerade noch nicht, dass er eine konkrete, verfahrensbezogene Tätigkeit entfaltet hat (Kammerbeschl. v. 22. April 2021, 22 Qs 3/21). Ebenso reicht die bloße Beantragung von Akteneinsicht nicht aus (vgl. LG Hildesheim, Beschluss vom 31. Januar 2022 – 22 Qs 1/22 -, Rn. 25, juris m.w.N.).“

Soweit auf LG Münster, Beschl. v. 4.9.2020 – 20 Qs 9/20, AGS 2021, 371) verwiesen wird, handelt es sich um eine andere Problematik, nämlich die Frage der ausreichenden Glaubhaftmachung und nicht die der ausreichenden Tätigkeiten. Soweit auf LG Siegen (Beschl. v. 22.4.2021 – 22 Qs 3/21) und LG Hildesheim (LG Hildesheim, Beschl. v. 31.1.2022 – 22 Qs 1/22) verwiesen wird, wonach ein pauschales Legitimationsschreiben oder ein Antrag auf Akteneinsicht für das das Entstehen der Grundgebühr und Verfahrensgebühr nicht ausreichen soll, sondern (erst) die Gewährung von Akteneinsicht, ein (glaubhaft gemachtes) verfahrensbezogenes Mandantengespräch oder eine verfahrensbezogene Erklärung gegenüber den Ermittlungsbehörden, ist das aus den vorstehenden Gründen gleichfalls falsch. Grundgebühr und Verfahrensgebühr setzen nicht gewährte Akteneinsicht voraus, sondern der Verteidiger verdient die Gebühren schon bei auf Akteneinsicht gerichtete Tätigkeiten. Alles andere wäre auch widersinnig, da bei Richtigkeit der Ansicht des LG Siegen ein gebührenfreier Raum entstehen würde, den das RVG aber nicht vorsieht. Soweit der beschwerdeführende Staatsanwalt dann schließlich in seiner Beschwerdeschrift auch noch auf OLG Rostock (Beschl. v. 25.11.2013 – Ws 359/13, AGS 2014, 178) verweist, führt auch das zu nichts, da auch das OLG in dem Verfahren die vom Verteidiger erbrachten Tätigkeiten falsch bewertet hat.

Fazit: Wegen der verfahrensrechtlichen Ausführungen kann man dem LG folgen. Wegen der materiellen Fragen wird dringend empfohlen, sich mit der Gebührenstruktur des RVG (besser) vertraut zu machen. Das gilt vor allem auch für den Vertreter der Staatsanwaltschaft. Wenn man schon meint, gebührenrechtlich tätig werden zu müssen, dann sollte man auch richtig gerüstet sein. Denn eins sollte man nicht übersehen. Bei den Erstreckungsfragen geht es ggf., so z.B. hier wegen der Vielzahl der Verfahren, um erhebliche Gebührenforderungen des Rechtsanwalts. Und wenn man schon aus Gründen der „Rechtsklarheit“ als Staatsanwalt als beschwerdebefugt angesehen wird, sollte man nicht durch unbegründete Rechtsmittel, denen das LG dann aber stattgibt, „Rechtsunklarheit“, herbeiführen.

Erstreckung I: Voraussetzungen der Erstreckung, oder: AG Siegen macht es richtig

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Und heute dann Gebühren, und zwar mal wieder Erstreckung.

Zunächst kommt hier der AG Siegen, Beschl. v. 23.11.2023 – 450 Gs 1656/23 -, der sich zu den materiellen Voraussetzungen der Erstreckungsentscheidung äußert.

Der Verteidiger hatte die Erstreckung der gebührenrechtlichen Rückwirkung einer Bestellung in zwei Verfahren – StA Siegen 66 Js 163/23 und 66 Js 659/23 – auf weitere Verfahren beantragt. Er hat sich auf die rechtzeitige Antragstellung vor Verbindung der Verfahren und die unterbliebene rechtzeitige Bescheidung berufen. Die Staatsanwaltschaft hat dem AG die Akten mit dem vorgelegt, den Antrag des Verteidigers zurückzuweisen, vor. Zur Begründung führte sie aus, dass ihrer Auffassung nach keine gebührenauslösenden Tätigkeiten in den nicht beschiedenen Verfahren erbracht worden seien. Hierauf erwiderte der Verteidiger, die Staatsanwaltschaft bekräftigte ihren Standpunkt dann erneut.

Das AG ist dem Antrag des Verteidigers nachgekommen:

„Gemäß § 48 Abs. 6 S. 3 RVG kann das Gericht die Wirkungen des § 48 Abs. 6 S. 1 RVG auch auf diejenigen Verfahren erstrecken, in denen vor der Verbindung keine Beiordnung oder Bestellung erfolgt war, wenn Verfahren verbunden wurden und der Rechtsanwalt nicht in allen Verfahren bestellt oder beigeordnet worden ist. § 48 Abs. 6 S. 1 RVG legt fest, dass ein bestellter oder beigeordneter Rechtsanwalt die Vergütung auch für seine Tätigkeit vor dem Zeitpunkt seiner Bestellung oder Beiordnung erhält.

Im vorliegenden Fall erfolgte die Bestellung des Verteidigers jeweils rechtzeitig vor einer Verbindung der Verfahren. In allen Fällen, in denen nicht über eine Beiordnung entschieden wurde, wurde der Antrag schon überhaupt nicht dem Gericht zur Entscheidung zugeleitet, obwohl § 141 Abs. 1 StPO eine unverzügliche Entscheidung über den Antrag anordnet.

Der Verteidiger hat auch in sämtlichen Verfahren Tätigkeiten erbracht. Hierzu wird auf die Schriftsätze des Verteidigers vom 14.11.2023 und 17.11.2023 Bezug genommen.“

Und dann die Preisfrage: Hat die Staatsanwaltschaft Siegen die Entscheidung hingenommen? Lösung gibt es heute Mittag.