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VW-Diesel-Skandal: Schadensersatzanspruch wegen Schummel-Software ja, aber: Deliktszinsen werden ggf. aufgezehrt

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Und auch das zweite Posting dient der Abrundung. Und zwar der Abrundung zur Berichterstattung über die Rechtsprechung im VW-Skandal/Diesel-Skandal/Schummel-Software.

Da liegt ja inzwischen eine weitere (abschließende) BGH-Entscheidung vor. Über die ist ja an anderen Stellen (auch) schon viel berichtet worden, so dass ich mich hier auf die Leitsätze beschränken kann/will. Der BGH sagt im BGH, Urt. v. 30.07.2020 -VI ZR 354/19:

1. Der Schadensersatzanspruch des Käufers eines mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung für die Abgasrückführung versehenen Fahrzeugs kann durch die im Wege des Vorteilsausgleichs erfolgende Anrechnung gezogener Nutzungen vollständig aufgezehrt werden (Fortführung Senatsurteil vom 25. Mai 2020 -VI ZR 252/19, NJW 2020, 1962 Rn. 64-77).

2. Deliktszinsen nach § 849 BGB können nicht verlangt werden, wenn der Ge-schädigte für die Hingabe seines Geldes im Wege des Leistungsaustauschs eine in tatsächlicher Hinsicht voll nutzbare Gegenleistung erhält. In diesem Fall kompensiert die tatsächliche Nutzbarkeit der Gegenleistung die Nut-zungsmöglichkeit des Geldes.

Konkrete Schadensabrechnung, oder: Muss ein Behindertenrabatt berücksichtigt werden?

Im „Kessel Buntes“ dann heuet zweimal der BGH.

Zunächst eine Fortsetzung. Und zwar. Ich hatte im vorigen Jahr über das OLG Frankfurt am Main, Urt. v. 03.06.2019 – 29 U 203/18  – berichtet (vgl. hier:  Unfallschadenregulierung, oder: Was machen wir mit einem Behindertenrabatt bei der Ersatzbeschaffung?“ 

Das Posting hatte ich geschlossen mit: „Das Urteil ist nicht rechtskräftig. Vielleicht hören wir ja etwas vom BGH.“ Nun, inzwischen kann man sagen: Ja, wir haben etwas gehört. Der BGH hat nämlich im BGH, Urt. v. 14.07.2020 -VI ZR 268/19 – über die Revision gegen das OLG-Urteil entschieden. Er sieht es wie das OLG. Daher gibt es hier nur den Leitsatz, der lautet:

„Der Geschädigte, der im Wege der konkreten Schadensabrechnung Ersatz der Kosten für ein fabrikneues Ersatzfahrzeug begehrt, muss sich einen Nachlass für Menschen mit Behinderung anrechnen lassen, den er vom Hersteller aufgrund von diesem generell und nicht nur im Hinblick auf ein Schadensereignis gewährter Nachlässe erhält (Fortführung von BGH NJW 2012, 50 Rn. 9 f.).“

Verschuldete Fristversäumung II, oder: Der einmalige Fehler der Bürokraft

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In der zweiten Entscheidung, dem BGH, Beschl. v. 02.07.2020 – VII ZB 46/19. Es geht wieder um Fristversäumung, und zwar in einem Schadensersatzprozess. Da ist die Berufungsbegründungsfrist versäumt worden.

Der Vertreter der Klägerin hatte fristgerecht am 22.09.2019 Berufung eingelegt. Am 25.09.2019 beantragte er Fristverlängerung wegen hohen Arbeitsaufkommens. Dieses Schreiben ist nicht unterschrieben. Das OLG Frankfurt am Main teilte der Klägerin mit, dass eine Verwerfung der Berufung wegen fehlender Unterschrift beabsichtigt sei, und gibt Gelegenheit zur Stellungnahme. Daraufhin beantragte sie am 15.10.2019 die Wiedereinsetzung und reicht den unterschriebenen Schriftsatz nach. Und sie trägt vor: Das Versäumnis beruhe auf einem einmaligen Versehen der sonst zuverlässigen Büroangestellten ihres Rechtsanwalts. Diese habe sich während ihrer dreijährigen Anstellung stets als zuverlässig erwiesen.

Das OLG verweirft und begründet das damit, dass der Rechtsanwalt die Zuverlässigkeit des Personals stichprobenartig überwachen müssen. Eine dreijährige Beschäftigung rechtfertige keine Ausnahme von dieser Sorgfaltspflicht.

Das sieht der BGH anders. Hier der Leitsatz seiner Entscheidung:

Der Rechtsanwalt ist nicht verpflichtet, durch Stichproben eine allgemeine Anweisung zur Ausgangskontrolle der Schriftsätze zu überwachen, wenn glaubhaft gemacht ist, dass die mit dieser Aufgabe betraute Bürokraft während ihrer langjährigen Tätigkeit noch nie eine Frist versäumt hatte und es sich um einen einmaligen Fehler handelte.

Das ist/war Anschluss an BGH VersR 1988, 1141.

Verschuldete Fristversäumung I, oder: Die Fristenkontrolle bei der elektronischen Akte

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Heute dann im „Kessel Buntes“ zwei Entscheidungen zur Fristversäumung/-kontrolle.

Zunächst der BGH, Beschl. v. 23.06.2020 – VI ZB 63/19. Dem Beschluss lag folgender Sachverhalt zugrunde:

„Der Kläger nimmt die Beklagte auf Schadensersatz in Anspruch. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Gegen das seinem erstinstanzlichen Prozessbevollmächtigten am 26. April 2019 zugestellte Urteil legte der Kläger über seine für das Berufungsverfahren neu mandatierte Prozessbevollmächtigte fristgerecht am 27. Mai 2019 (Montag) Berufung ein. Mit Verfügung vom 3. Juli 2019 wies der Vorsitzende des Berufungsgerichts den Kläger darauf hin, dass seine Berufung bisher nicht begründet worden, mithin als unzulässig zu verwerfen sei. Daraufhin hat der Kläger am 9. Juli 2019 seine Berufung begründet und am 22. Juli 2019 Wiedereinsetzung in die versäumte Berufungsbegründungsfrist beantragt.

Zur Begründung hat der Kläger ausgeführt, die bis dahin stets sorgfältig arbeitende Büroangestellte seiner Prozessbevollmächtigten habe „den Fristablauf zur Berufungsbegründung in der Akte bzw. dem Fristenkalender versehentlich statt auf den 26.06.2019 auf den 26.07.2019“ eingetragen. Die Aktenbearbeitung und auch die Fristeintragung erfolge dort zunächst auf elektronischem Weg. Die jeweiligen Schriftstücke würden zur elektronischen Akte hochgeladen, die Eintragung von Vorfrist und Frist erfolgten in der hierfür zur Verfügung stehenden Funktion der verwendeten Software. Die Angestellte habe den Fehler auch nicht auf dem erfolgten Kontrollausdruck bemerkt. Die jeweilige Fristenliste werde mindestens einmal wöchentlich in Papierform ausgedruckt und dem Rechtsanwalt vorgelegt. Da die Berufungsbegründungsfrist für die vorliegende Sache falsch eingetragen worden sei, sei sie auch nicht zum eigentlichen Fristablauf auf dem Wochenausdruck erschienen. Die Büroangestellte hat diesen Vortrag eidesstattlich versichert.

Im Rechtsbeschwerdeverfahren hat der Kläger seinen Vortrag unter Vorlage einer eidesstattlichen Versicherung seiner zweitinstanzlich tätigen Prozessbevollmächtigten dahingehend ergänzt, dass diese die Eintragung der Fristen im Wege einer Einzelanweisung angeordnet habe. Eine Überprüfung der weiteren Fristen sei der Prozessbevollmächtigten aufgrund ihrer auf Massenverfahren spezialisierten Sozietät und der darauf ausgerichteten elektronischen Aktenführung („Legal Tech“) nicht möglich gewesen. Der Prozessbevollmächtigten sei vor Fertigung der Berufungsbegründung zu keinem Zeitpunkt eine Handakte mit den entsprechenden Fristeintragungen vorgelegt worden. Die Fristbearbeitung und -kontrolle sei den Mitarbeitern übertragen, eine eigenständige Überprüfung durch den Anwalt weder erforderlich noch möglich. Der durch die Übertragung der Fristberechnung auf die Kanzleimitarbeiter und die elektronische Aktenbearbeitung erzielte Entlastungseffekt entfiele, wenn der Rechtsanwalt gehalten wäre, entweder die elektronische Handakte selbst aufzurufen oder sich Ausdrucke daraus vorlegen zu lassen. Auch mit der Übernahme einer Sache in zweiter Instanz gehe nicht immer eine eigene Verpflichtung des Rechtsanwalts zur Überprüfung der eingetragenen Fristen einher.“

Der – neue – Vortrag hat nichts gebracht. Der BGH sieht ihn als prozessual unbeachtlich an. Und er meint im Übrigen:

b) Im Übrigen ist das Wiedereinsetzungsbegehren des Klägers auch bei Zugrundelegung seines Beschwerdevortrags unbegründet.

aa) Die Sorgfaltspflicht in Fristsachen verlangt von einem Rechtsanwalt, alles ihm Zumutbare zu tun, um die Wahrung von Rechtsmittelfristen zu gewährleisten. Überlässt er die Berechnung und Notierung von Fristen einer gut ausgebildeten, als zuverlässig erprobten und sorgfältig überwachten Bürokraft, hat er durch geeignete organisatorische Maßnahmen sicherzustellen, dass die Fristen zuverlässig festgehalten und kontrolliert werden. Zu den zur Ermöglichung einer Gegenkontrolle erforderlichen Vorkehrungen im Rahmen der Fristenkontrolle gehört insbesondere, dass die Rechtsmittelfristen in der Handakte notiert werden und die Handakte durch entsprechende Erledigungsvermerke oder auf sonstige Weise erkennen lässt, dass die Fristen in alle geführten Fristenkalender eingetragen worden sind. Wird dem Rechtsanwalt die Sache im Zusammenhang mit einer fristgebundenen Verfahrenshandlung zur Bearbeitung vorgelegt, hat er die Einhaltung seiner Anweisungen zur Berechnung und Notierung laufender Rechtsmittelfristen einschließlich deren Eintragung in den Fristenkalender eigenverantwortlich zu prüfen, wobei er sich dann grundsätzlich auf die Prüfung der Vermerke in der Handakte beschränken darf. Diese anwaltliche Prüfungspflicht besteht auch dann, wenn die Handakte nicht zugleich zur Bearbeitung mit vorgelegt worden ist, so dass der Rechtsanwalt in diesen Fällen die Vorlage der Handakte zur Fristenkontrolle zu veranlassen hat (BGH, Beschluss vom 9. Juli 2014 – XII ZB 709/13, NJW 2014, 3102 Rn. 12 mwN).

Diese Grundsätze gelten unabhängig davon, ob die Handakte des Rechtsanwalts in herkömmlicher Form als Papierakte oder aber als elektronische Akte geführt wird. Wie die Vorschrift des § 50 Abs. 4 BRAO zeigt, kann sich ein Rechtsanwalt zum Führen der Handakten der elektronischen Datenverarbeitung bedienen. Entscheidet er sich hierfür, muss die elektronische Handakte jedoch ihrem Inhalt nach der herkömmlichen entsprechen und insbesondere zu Rechtsmittelfristen und deren Notierung ebenso wie diese verlässlich Auskunft geben können. Wie die elektronische Fristenkalenderführung gegenüber dem herkömmlichen Fristenkalender darf auch die elektronische Handakte grundsätzlich keine geringere Überprüfungssicherheit bieten als ihr analoges Pendant (BGH, Beschluss vom 9. Juli 2014 – XII ZB 709/13, NJW 2014, 3102 Rn. 13 mwN; vgl. ferner BGH, Beschlüsse vom 27. Januar 2015 – II ZB 23/13, MDR 2015, 538 Rn. 9; – II ZB 21/13, NJW 2015, 2038 Rn. 8; vom 16. Oktober 2014 – VII ZB 15/14, NJW-RR 2015, 700 Rn. 12).

Der Rechtsanwalt, der im Zusammenhang mit einer fristgebundenen Verfahrenshandlung – hier der Einlegung der Berufung – mit einer Sache befasst wird, hat dies zum Anlass zu nehmen, die Fristvermerke in der Handakte zu überprüfen. Auf welche Weise (herkömmlich oder elektronisch) die Handakte geführt wird, ist hierfür ohne Belang. Der Rechtsanwalt muss die erforderliche Einsicht in die Handakte nehmen, indem er sich entweder die Papierakte vorlegen lässt oder das digitale Aktenstück am Bildschirm einsieht. Dass die Handakte ausschließlich elektronisch geführt wird, kann jedenfalls nicht dazu führen, dass den Rechtsanwalt im Ergebnis geringere Überprüfungspflichten als bei herkömmlicher Aktenführung treffen (BGH, Beschluss vom 9. Juli 2014 – XII ZB 709/13, NJW 2014, 3102 Rn. 14; BSG, NJW 2018, 2511 Rn. 10; vgl. ferner Dahns in Gaier/Wolf/Göcken, Anwaltliches Berufsrecht, 3. Aufl., § 50 BRAO Rn. 24b).

Der Umstand, dass es sich nach dem Vortrag der Rechtsbeschwerde um ein Massenverfahren handelt, ändert nichts an den den Rechtsanwalt treffenden Organisationsverpflichtungen. Denn gerade in Massenverfahren trifft den Rechtsanwalt – wegen der gefahrgeneigten routineartigen Tätigkeit gerade für seine Beschäftigten – eine besondere Organisationspflicht, die das Auffinden von Fehlern ermöglicht (vgl. BAG, NJW 2019, 2954 Rn. 10).

bb) Diesen gefestigten Anforderungen genügt die Büroorganisation in der Kanzlei der zweitinstanzlichen Prozessbevollmächtigten weder grundsätzlich noch genügte sie ihr im konkreten Fall. Nach dem Vortrag der Rechtsbeschwerde lässt sich die Prozessbevollmächtigte des Klägers vor Fertigung der Berufungsbegründung grundsätzlich nicht die Handakte vorlegen und sieht sie auch davon ab, diese zur Fristenkontrolle elektronisch aufzurufen. So habe sie es auch im Streitfall gehalten. Die damit erhoffte „Entlastung“ hat die Prozessbevollmächtigte mit dem sorgfaltswidrigen Verzicht auf eine Gegenkontrolle der Fristenbearbeitung ihrer Beschäftigten und letztlich auf Kosten des Klägers erkauft. Denn die bloße Vorlage des „Wochenausdrucks“, aus dem die in der anstehenden Woche vermeintlich fällig werdenden Fristen und Vorfristen ersichtlich sind, ist nicht geeignet, eine einmal falsch berechnete oder auch nur fehlerhaft eingetragene Frist rechtzeitig als solche zu identifizieren.

Das Fristversäumnis beruht auf diesem Sorgfaltspflichtverstoß, weil die Prozessbevollmächtigte des Klägers bei ordnungsgemäßer Arbeitsweise mit Einlegung der Berufung am 27. Mai 2019 die Berufungsbegründungsfrist hätte kontrollieren müssen und den Fehler dabei entdeckt hätte.

cc) An der Sorgfaltspflichtverletzung seiner Prozessbevollmächtigten ändert auch der Vortrag des Klägers nichts, die Prozessbevollmächtigte habe ihrer Angestellten die Eintragung der Frist zur Berufungsbegründung per Einzelanweisung aufgegeben. Denn der Kläger trägt schon nicht vor, welches konkrete Datum einzutragen der Beschäftigten aufgegeben worden sei; dies ist auch der beigefügten eidesstattlichen Versicherung seiner zweitinstanzlichen Prozessbevollmächtigten und deren Anlagen nicht zu entnehmen. Darüber hinaus entlastet eine konkrete Einzelanweisung den Rechtsanwalt dann nicht von einer unzureichenden Büroorganisation, wenn diese die bestehende Organisation nicht außer Kraft setzt, sondern sich darin einfügt und nur einzelne Elemente ersetzt (vgl. Senatsbeschluss vom 17. April 2012 – VI ZB 55/11, NJW-RR 2012, 1085 Rn. 11 mwN).“

Ermittlungsverfahren von 3 Jahren 8 Monaten zu lang, oder: Rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung

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Heute wird es im „Kessel Buntes“ ganz bunt.

Zunächst berichte ich nämlich über ein Urteil des OLG Schleswig. Es behandelt die mit der Entschädigung nach einem überlange Verfahren (§§ 198, 199 GVG) zusammenhängenden Fragen. Auf das OLG Schleswig, Urt. v. 26.06.2020 – 17 EK 2/19 – bin ich vor einiger Zeit von der Klägerin, der Landesbeauftragten für Datenschutz Schleswig-Holstein, Marit Hansen, hingewiesen worden. Gegen die wurde 2015 bis 2019 ein Ermittlungsverfahren geführt, nachdem ein gekündigter Mitarbeiter Strafanzeige erhoben hatte. Mit dem Verfahrensgang war die Landesbeauftragte nicht zufrieden und sie hat nach Einstellung des Verfahrens Entschädigungsklage eingereicht.

Da das Urteil mit rund 15 Seiten recht lang ist, eignet es sich nicht so gut dafür, hier Teile einzustellen. Ich muss also beschränken und wegen der Einzelheiten auf den Volltext verweisen. Hier will ich mich im Wesentlichen mit der PM des OLG Schleswig v. 26.06.2020 begnügen, die auch das Verfahren gegen den Mitarbeiter der ULD betrifft. In der heißt es:

„Dauer des Ermittlungsverfahrens der Staatsanwaltschaft Kiel gegen die Leiterin des Unabhängigen Landeszentrums für Datenschutz

Die Dauer des gegen die Leiterin des Unabhängigen Landeszentrums für Datenschutz (ULD) Marit Hansen und einen Mitarbeiter des ULD geführten Ermittlungsverfahrens der Staatsanwaltschaft Kiel ist unangemessen lang gewesen. Dies hat der 17. Zivilsenat des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts heute entschieden.

Zum Sachverhalt: Die Leiterin und ein Mitarbeiter des ULD begehren gegenüber dem Land Schleswig-Holstein die Feststellung einer unangemessen langen Verfahrensdauer und eine geldwerte Entschädigung. Hintergrund der Klagen auf Wiedergutmachung ist ein gegen beide gerichtetes Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Kiel, das den Verdacht des Betruges bei der Abrechnung von Förderprojekten zum Gegenstand hatte. Das Ermittlungsverfahren wurde nach drei Jahren und acht Monaten im Juni 2019 eingestellt. Zu einer Rückforderung von Fördergeldern kam es nicht. Der 17. Zivilsenat des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts hat festgestellt, dass dieses gegen beide Kläger geführte staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren unangemessen lange gedauert hat.

Aus den Gründen: Das Ermittlungsverfahren ist sowohl zeitlich als auch nach seiner inhaltlichen Ausgestaltung in mehrfacher Hinsicht unangemessen lang. Dies verletzt die Kläger in ihrem Anspruch auf eine effektive und der Unschuldsvermutung gerecht werdende Verfahrensgestaltung. Schon die Dauer des Verfahrens von drei Jahren und acht Monaten ist nach Art und Umfang der Vorwürfe eine deutliche Überschreitung dessen, was zeitlich noch eine als rechtsstaatlich anzusehende Verfahrensdauer darstellt. Zudem fehlte es an einer frühzeitigen und zielgerichteten Planung des Verfahrens, die sich am Nachweis strafbaren Verhaltens orientierte. Dadurch ist es zu absehbaren Verzögerungen gekommen, obwohl das Verfahren aufgrund der frühzeitig erfolgten Durchsuchung zu beschleunigen war. Gerade eine „prioritäre“ Behandlung hatte die Behördenleitung nach der ersten Verzögerungsrüge auch
zugesagt. Auch haben organisatorische Mängel in Form wiederholter Wechsel der zuständigen Staatsanwälte jedenfalls ab dem Jahr 2018 zu weiteren vermeidbaren zeitlichen Verzögerungen geführt. Es ist davon auszugehen, dass das Ermittlungsverfahren bei planvoller und effektiver Ausgestaltung und mit dem erforderlichen Personaleinsatz bis Ende 2017 hätte abgeschlossen werden können. Mit der gerichtlichen Feststellung der überlangen Verfahrensdauer und dem Verfahren vor dem Senat hat die Leiterin des ULD hinreichende Genugtuung erfahren. Sie konnte dort sowie im Vor- und Nachgang ihr Anliegen angemessen und medial beachtet darstellen. Anders liegt es im Fall des Mitarbeiters des ULD, dem aufgrund erlittener und noch andauernder beruflicher Nachteile zusätzlich eine Entschädigung von 1.800,00 € zu gewähren war.

(Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht, Urteile vom 26. Juni 2020, Az. 17 EK 2/19 und 17 EK 3/19)“

Darüber hinaus will ich aus dem Urteil vom 26.06.2020 hier nur die allgemeinen Erwägungen des OLG zitieren, und zwar wie folgt:

1. Nach inzwischen gefestigter Rechtsprechung ist die Dauer eines justiziellen Verfahrens dann als unangemessen lang anzusehen, wenn nach den Umständen des Einzelfalls die Verfahrensgestaltung und die hierdurch bewirkte Verfahrensdauer das Ausmaß eines den Gerichten zuzubilligenden Gestaltungsspielraumes derart überschreiten, dass die Verfahrensgestaltung auch bei voller Würdigung der Belange einer funktionstüchtigen Rechtspflege nicht mehr verständlich ist (BGH, Urteil vom 13. März 2014 – III ZR 91/13 -, NJW 2014, 1816 ff., bei juris, Rn. 32, 34; BGH, Urteil vom 23. Januar 2014 – III ZR 37/13 -, WM 2014, 528 ff., bei juris, Rn. 36 ff.; BGH, Urteil vom 5. Dezember 2013 – III ZR 73/13 -, NJW 2014, 789 ff., bei juris, Rn. 41 ff.).

Daher verbietet sich die Ausrichtung der Betrachtung an statistischen Durchschnittswerten (BGH a.a.O., ferner SchlHOLG, Urteil vom 8. April 2013 – 18 SchH 3/13 – SchlHA 2013, 248 ff., bei juris, Rn. 14). Vielmehr sind – mögen auch Auffälligkeiten im Verhältnis zum Durchschnitt vergleichbarer Verfahren erste Anhaltspunkte liefern – stets die einzelnen Verfahren gesondert zu untersuchen (OLG Frankfurt, Urteil vom 28. März 2013 – 16 EntV 5/12, bei Juris), wobei allerdings wiederum in Rechnung zu stellen ist, dass im Gesamtverfahren Phasen von Verzögerung durch Phasen beschleunigter Verfahrensgestaltung kompensiert werden können (BGH, Urteil vom 14. November 2013 – III ZR 376/12 -, NJW 2014, 220 ff., bei juris, Rn. 30; BGH, Urteil vom 23. Januar 2014 – III ZR 37/13 -, WM 2014, 528 ff., bei juris, Rn. 37 f.). Auch kommt es bei der inhaltlichen Beurteilung einzelner Verfahrensschritte ähnlich der Situation im Amtshaftungsprozess nach Maßgabe des § 839 Abs. 2 BGB nicht auf die Richtigkeit, sondern auf die bloße Vertretbarkeit des Handelns an (BGH, Urteil vom 5. Dezember 2013 – III ZR 73/13 -, NJW 2014, 789 ff., bei juris Rn. 45 f. an).

Zudem hat das Entschädigungsgericht bei der Bewertung eine ex-ante-Betrachtung vorzunehmen, die sich nicht an der inhaltlichen Ausgestaltung des Verfahrens, sondern allein an dessen objektivem Verlauf orientiert, denn es kommt nicht darauf an, ob die Verzögerung auf ein pflichtwidriges Verhalten zurückzuführen oder ob der verfahrensführenden Behörde ein anderweitiger Vorwurf zu machen ist. Der Entschädigungsanspruch aus § 198 GVG ist ein staatshaftungsrechtlicher, verschuldensunabhängiger Anspruch, der es dem Anspruchsgegner auch verwehrt, sich auf systembedingte Umstände – wie zum Beispiel Personalknappheit und Arbeitsdichte – zu berufen (Graf in BeckOK § 198 GVG Rn.16, Rn.16; Krauß in Löwe/Rosenberg, 26. Aufl.; Rn. 32 Nachtr § 198 GVG).

2. Bei Anlage dieses Maßstabes erweist sich das Ermittlungsverfahren 590 Js 55233/15 StA Kiel sowohl zeitlich als auch in seiner inhaltlichen Ausgestaltung in mehrfacher Hinsicht als unangemessen lang. Dies verletzt die Klägerin in ihrem Anspruch auf eine effektive und der Unschuldsvermutung gerecht werdende Verfahrensgestaltung….“

 

Zunächst stellt schon die Dauer des Verfahrens von drei Jahren und acht Monaten im Hinblick auf Inhalt und Umfang der Tatvorwürfe eine deutliche Überschreitung der zeitlich noch als rechtsstaatlich anzusehenden Verfahrensdauer dar (hierzu unter a.). Aber auch organisatorische Mängel auf Seiten des Beklagten haben jedenfalls ab dem Jahr 2018 zu vermeidbaren zeitlichen Verzögerungen geführt (hierzu unter b.). Zudem hat der Beklagte – auch unter Berücksichtigung des der Staatsanwaltschaft Kiel als Herrin des Ermittlungsverfahrens zustehenden Gestaltungsspielraums – durch die anfängliche Ausgestaltung des Verfahrens erheblich dazu beigetragen, dass dieses schon in seiner Anlage wesentliche Ursachen für später eingetretene Verzögerungen aufwies, obwohl es aufgrund der frühzeitig erfolgten Durchsuchung bestmöglich zu beschleunigen war (hierzu unter c.). Schließlich zeigen sich – insbesondere im späteren Verlauf der Ermittlungen ab Ende 2016 / Anfang 2017 – wiederholt Phasen, in denen nur wenige bis keine zielführenden Ermittlungen mehr erfolgten, die auf einen Abschluss des Verfahrens gerichtet waren (hierzu unter d.).