Ermittlungsverfahren von 3 Jahren 8 Monaten zu lang, oder: Rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung

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Heute wird es im „Kessel Buntes“ ganz bunt.

Zunächst berichte ich nämlich über ein Urteil des OLG Schleswig. Es behandelt die mit der Entschädigung nach einem überlange Verfahren (§§ 198, 199 GVG) zusammenhängenden Fragen. Auf das OLG Schleswig, Urt. v. 26.06.2020 – 17 EK 2/19 – bin ich vor einiger Zeit von der Klägerin, der Landesbeauftragten für Datenschutz Schleswig-Holstein, Marit Hansen, hingewiesen worden. Gegen die wurde 2015 bis 2019 ein Ermittlungsverfahren geführt, nachdem ein gekündigter Mitarbeiter Strafanzeige erhoben hatte. Mit dem Verfahrensgang war die Landesbeauftragte nicht zufrieden und sie hat nach Einstellung des Verfahrens Entschädigungsklage eingereicht.

Da das Urteil mit rund 15 Seiten recht lang ist, eignet es sich nicht so gut dafür, hier Teile einzustellen. Ich muss also beschränken und wegen der Einzelheiten auf den Volltext verweisen. Hier will ich mich im Wesentlichen mit der PM des OLG Schleswig v. 26.06.2020 begnügen, die auch das Verfahren gegen den Mitarbeiter der ULD betrifft. In der heißt es:

„Dauer des Ermittlungsverfahrens der Staatsanwaltschaft Kiel gegen die Leiterin des Unabhängigen Landeszentrums für Datenschutz

Die Dauer des gegen die Leiterin des Unabhängigen Landeszentrums für Datenschutz (ULD) Marit Hansen und einen Mitarbeiter des ULD geführten Ermittlungsverfahrens der Staatsanwaltschaft Kiel ist unangemessen lang gewesen. Dies hat der 17. Zivilsenat des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts heute entschieden.

Zum Sachverhalt: Die Leiterin und ein Mitarbeiter des ULD begehren gegenüber dem Land Schleswig-Holstein die Feststellung einer unangemessen langen Verfahrensdauer und eine geldwerte Entschädigung. Hintergrund der Klagen auf Wiedergutmachung ist ein gegen beide gerichtetes Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Kiel, das den Verdacht des Betruges bei der Abrechnung von Förderprojekten zum Gegenstand hatte. Das Ermittlungsverfahren wurde nach drei Jahren und acht Monaten im Juni 2019 eingestellt. Zu einer Rückforderung von Fördergeldern kam es nicht. Der 17. Zivilsenat des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts hat festgestellt, dass dieses gegen beide Kläger geführte staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren unangemessen lange gedauert hat.

Aus den Gründen: Das Ermittlungsverfahren ist sowohl zeitlich als auch nach seiner inhaltlichen Ausgestaltung in mehrfacher Hinsicht unangemessen lang. Dies verletzt die Kläger in ihrem Anspruch auf eine effektive und der Unschuldsvermutung gerecht werdende Verfahrensgestaltung. Schon die Dauer des Verfahrens von drei Jahren und acht Monaten ist nach Art und Umfang der Vorwürfe eine deutliche Überschreitung dessen, was zeitlich noch eine als rechtsstaatlich anzusehende Verfahrensdauer darstellt. Zudem fehlte es an einer frühzeitigen und zielgerichteten Planung des Verfahrens, die sich am Nachweis strafbaren Verhaltens orientierte. Dadurch ist es zu absehbaren Verzögerungen gekommen, obwohl das Verfahren aufgrund der frühzeitig erfolgten Durchsuchung zu beschleunigen war. Gerade eine „prioritäre“ Behandlung hatte die Behördenleitung nach der ersten Verzögerungsrüge auch
zugesagt. Auch haben organisatorische Mängel in Form wiederholter Wechsel der zuständigen Staatsanwälte jedenfalls ab dem Jahr 2018 zu weiteren vermeidbaren zeitlichen Verzögerungen geführt. Es ist davon auszugehen, dass das Ermittlungsverfahren bei planvoller und effektiver Ausgestaltung und mit dem erforderlichen Personaleinsatz bis Ende 2017 hätte abgeschlossen werden können. Mit der gerichtlichen Feststellung der überlangen Verfahrensdauer und dem Verfahren vor dem Senat hat die Leiterin des ULD hinreichende Genugtuung erfahren. Sie konnte dort sowie im Vor- und Nachgang ihr Anliegen angemessen und medial beachtet darstellen. Anders liegt es im Fall des Mitarbeiters des ULD, dem aufgrund erlittener und noch andauernder beruflicher Nachteile zusätzlich eine Entschädigung von 1.800,00 € zu gewähren war.

(Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht, Urteile vom 26. Juni 2020, Az. 17 EK 2/19 und 17 EK 3/19)“

Darüber hinaus will ich aus dem Urteil vom 26.06.2020 hier nur die allgemeinen Erwägungen des OLG zitieren, und zwar wie folgt:

1. Nach inzwischen gefestigter Rechtsprechung ist die Dauer eines justiziellen Verfahrens dann als unangemessen lang anzusehen, wenn nach den Umständen des Einzelfalls die Verfahrensgestaltung und die hierdurch bewirkte Verfahrensdauer das Ausmaß eines den Gerichten zuzubilligenden Gestaltungsspielraumes derart überschreiten, dass die Verfahrensgestaltung auch bei voller Würdigung der Belange einer funktionstüchtigen Rechtspflege nicht mehr verständlich ist (BGH, Urteil vom 13. März 2014 – III ZR 91/13 -, NJW 2014, 1816 ff., bei juris, Rn. 32, 34; BGH, Urteil vom 23. Januar 2014 – III ZR 37/13 -, WM 2014, 528 ff., bei juris, Rn. 36 ff.; BGH, Urteil vom 5. Dezember 2013 – III ZR 73/13 -, NJW 2014, 789 ff., bei juris, Rn. 41 ff.).

Daher verbietet sich die Ausrichtung der Betrachtung an statistischen Durchschnittswerten (BGH a.a.O., ferner SchlHOLG, Urteil vom 8. April 2013 – 18 SchH 3/13 – SchlHA 2013, 248 ff., bei juris, Rn. 14). Vielmehr sind – mögen auch Auffälligkeiten im Verhältnis zum Durchschnitt vergleichbarer Verfahren erste Anhaltspunkte liefern – stets die einzelnen Verfahren gesondert zu untersuchen (OLG Frankfurt, Urteil vom 28. März 2013 – 16 EntV 5/12, bei Juris), wobei allerdings wiederum in Rechnung zu stellen ist, dass im Gesamtverfahren Phasen von Verzögerung durch Phasen beschleunigter Verfahrensgestaltung kompensiert werden können (BGH, Urteil vom 14. November 2013 – III ZR 376/12 -, NJW 2014, 220 ff., bei juris, Rn. 30; BGH, Urteil vom 23. Januar 2014 – III ZR 37/13 -, WM 2014, 528 ff., bei juris, Rn. 37 f.). Auch kommt es bei der inhaltlichen Beurteilung einzelner Verfahrensschritte ähnlich der Situation im Amtshaftungsprozess nach Maßgabe des § 839 Abs. 2 BGB nicht auf die Richtigkeit, sondern auf die bloße Vertretbarkeit des Handelns an (BGH, Urteil vom 5. Dezember 2013 – III ZR 73/13 -, NJW 2014, 789 ff., bei juris Rn. 45 f. an).

Zudem hat das Entschädigungsgericht bei der Bewertung eine ex-ante-Betrachtung vorzunehmen, die sich nicht an der inhaltlichen Ausgestaltung des Verfahrens, sondern allein an dessen objektivem Verlauf orientiert, denn es kommt nicht darauf an, ob die Verzögerung auf ein pflichtwidriges Verhalten zurückzuführen oder ob der verfahrensführenden Behörde ein anderweitiger Vorwurf zu machen ist. Der Entschädigungsanspruch aus § 198 GVG ist ein staatshaftungsrechtlicher, verschuldensunabhängiger Anspruch, der es dem Anspruchsgegner auch verwehrt, sich auf systembedingte Umstände – wie zum Beispiel Personalknappheit und Arbeitsdichte – zu berufen (Graf in BeckOK § 198 GVG Rn.16, Rn.16; Krauß in Löwe/Rosenberg, 26. Aufl.; Rn. 32 Nachtr § 198 GVG).

2. Bei Anlage dieses Maßstabes erweist sich das Ermittlungsverfahren 590 Js 55233/15 StA Kiel sowohl zeitlich als auch in seiner inhaltlichen Ausgestaltung in mehrfacher Hinsicht als unangemessen lang. Dies verletzt die Klägerin in ihrem Anspruch auf eine effektive und der Unschuldsvermutung gerecht werdende Verfahrensgestaltung….“

 

Zunächst stellt schon die Dauer des Verfahrens von drei Jahren und acht Monaten im Hinblick auf Inhalt und Umfang der Tatvorwürfe eine deutliche Überschreitung der zeitlich noch als rechtsstaatlich anzusehenden Verfahrensdauer dar (hierzu unter a.). Aber auch organisatorische Mängel auf Seiten des Beklagten haben jedenfalls ab dem Jahr 2018 zu vermeidbaren zeitlichen Verzögerungen geführt (hierzu unter b.). Zudem hat der Beklagte – auch unter Berücksichtigung des der Staatsanwaltschaft Kiel als Herrin des Ermittlungsverfahrens zustehenden Gestaltungsspielraums – durch die anfängliche Ausgestaltung des Verfahrens erheblich dazu beigetragen, dass dieses schon in seiner Anlage wesentliche Ursachen für später eingetretene Verzögerungen aufwies, obwohl es aufgrund der frühzeitig erfolgten Durchsuchung bestmöglich zu beschleunigen war (hierzu unter c.). Schließlich zeigen sich – insbesondere im späteren Verlauf der Ermittlungen ab Ende 2016 / Anfang 2017 – wiederholt Phasen, in denen nur wenige bis keine zielführenden Ermittlungen mehr erfolgten, die auf einen Abschluss des Verfahrens gerichtet waren (hierzu unter d.).

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