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Fahrtenbuch I: Unmöglichkeit der Feststellung, oder: Brauchbares Frontfoto/Abgleich mit Google-Bildsuche

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Und im „Kessel Buntes“ heute dann zwei Entscheidungen zum Fahrtenbuch (§  31a StVZO).

Zunächst stelle ich hier das VG Berlin, Urt. v. 26.06.2024 – 37 K 11/23 – vor. Gestritten wird um eine Fahrtenbuchauflage. Zugrunde liegt eine mit einem Firmenfahrzeug begangene Geschwindigkeitsüberschreitung – zulässige Geschwindigkeit 50 km/h, gemessen 80 km/h (nach Toleranzabzug). Am Tatort ist eine Geschwindigkeit von 50 km/h zulässig. Auf das Anhörungsschreiben der Polizei im Ordnungswidrigkeitenverfahren teilte  die Klägerin online  mit, dass der Verkehrsverstoß nicht zugegeben werde. Es müsse sich um eine Verwechselung handeln, da sich das Fahrzeug im Zeitpunkt der Messfotoaufnahme 350 m entfernt befunden habe. Angaben zu dem Fahrzeugführer wurden nicht gemacht.

Ein Ermittlungsgesuch, den Geschäftsführer und Kommanditisten der Klägerin vorzuladen und anzuhören, verlief ergebnislos. Eine Mitarbeiterin der Klägerin konnte  keine Hinweise zu dem Führer des Fahrzeugs geben. Das Ordnungswidrigkeitenverfahren wurde nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt. Dann kommt die Fahrtenbuchauflage, gegen die Widerspruch eingelegt wird. Begründet wird der damit, dass keine rechtsstaatlich verwertbaren Belege und Messergebnisse mit dem Messgerät Vitronic Poliscan FM 1 und der Software 4.4.5 vorlägen. Der wird zurückgewiesen. Dagegen die Klage, die beim VG Berlin Erfolg hatte:

„Die Feststellung des Fahrzeugführers war nämlich im Sinne des § 31a Abs. 1 Satz 1 StVZO nicht unmöglich. Dies wäre nur dann der Fall, wenn die Behörde des Ordnungswidrigkeitenverfahrens nach den Umständen des Einzelfalles nicht in der Lage war, den Täter des Verkehrsverstoßes zu ermitteln, obwohl sie alle angemessenen und zumutbaren Maßnahmen getroffen hat. Die Angemessenheit der Aufklärung richtet sich danach, ob die Behörde in sachgerechtem und rationellem Einsatz der ihr zur Verfügung stehenden Mittel nach pflichtgemäßem Ermessen die Maßnahmen getroffen hat, die der Bedeutung des aufzuklärenden Verkehrsverstoßes gerecht werden und erfahrungsgemäß Erfolg haben können. Zu den gebotenen Ermittlungsmaßnahmen gehört regelmäßig in erster Linie die kurzfristig, d.h. möglichst innerhalb von zwei Wochen, erfolgende Benachrichtigung des Halters des mit dem Fahrzeug begangenen Verkehrsverstoßes, damit der Betreffende die Frage, wer zur Tatzeit das Fahrzeug geführt hat, noch zuverlässig beantworten und – bei eigener Täterschaft – gegebenenfalls Entlastungsgründe vorbringen kann (vgl. zum Vorstehenden BVerwG, Urteile vom 13. Oktober 1978 – BVerwG VII C 77.74 und 49.77 –, juris Rn. 15 und 18 bzw. 12 und 15; Beschluss vom 25. Juni 1987 – BVerwG 7 B 139.87 –, juris Rn. 2). Art und Umfang ihrer Ermittlungstätigkeit darf die Behörde an den Erklärungen des Halters ausrichten, denn es ist ihr nicht zuzumuten, von sich aus wahllos zeitraubende, kaum Aussicht auf Erfolg bietende Ermittlungen zu betreiben (vgl. BVerwG, Urteile vom 23. April 1971 – BVerwG VII C 66.70 –, juris Rn. 20, und vom 17. Dezember 1982 – BVerwG 7 C 3.80 –, juris Rn. 7).

Daran gemessen hat der Beklagte nicht die ihr zumutbaren Ermittlungen vorgenommen. Angesichts des Fahrzeugtyps und der Haltereigenschaft der Klägerin als juristische Person des Zivilrechts sowie des guten Frontfotos wäre eine Google-Recherche zu erwarten gewesen. Dem erkennenden Einzelrichter ist es nämlich ohne großen Aufwand, insbesondere ohne Anlegung gesonderter Accounts in sozialen Netzwerken wie Facebook, Twitter oder Xing, möglich gewesen, den Geschäftsführer der Klägerin als Fahrzeugführer zu identifizieren. Es ist schlechterdings nicht vermittelbar, dass die Berliner Polizei bei Ermittlung von Personen nicht diese naheliegende Erkenntnisquelle nutzt, zumal die Verwertbarkeit der Information als allgemein zugängliche Quelle, deren Inhalte regelmäßig konform zur Datenschutzgrundverordnung verfügbar sind, unproblematisch ist. Im vorliegenden Fall konnte schon allein anhand des Firmennamens und des Namens des Geschäftsführers über die Google-Bildsuche der Fahrer identifiziert werden. So wurde beim ersten Zugriff ein Foto aus dem Xing-Konto des Besagten bereits in der Google-Trefferliste sowie Bilder der Website des Unternehmens eingeblendet, aus denen sich diese Erkenntnis ergab.

Soweit sich der Behördenvertreter in der mündlichen Verhandlung in der Weise einließ, dass es gerade bei Firmenfahrzeugen und angesichts der fehlenden Bereitschaft der Halterin an der Aufklärung mitzuwirken, uferlos sei, weitere Recherchen anzustellen, geht dies fehl. Gerade, weil diese Recherche nach dem Stand der Technik so gut wie keinen Aufwand und keine besonderen Kenntnisse erfordert und vorliegend aufgrund des Fahrzeugtyps Audi Quattro insbesondere der Geschäftsführer als Fahrer in Betracht zu ziehen war, drängte sich diese Aufklärungsmaßnahme auf.

Würde hingegen die Überlegung des Beklagten zutreffen, dass allein die fehlende Mitwirkung zu einer Einstellung der weiteren Ermittlungstätigkeiten im Ordnungswidrigkeitenverfahrens berechtigte, würde dies den vorgeschriebene Untersuchungsgrundsatz nach § 46 Abs. 1 OWiG in Verbindung mit § 160 Abs. 1 und 2 StPO unterlaufen und wird der geschriebenen tatbestandlichen Voraussetzung der Ermächtigungsnorm des § 31a Abs. 1 Satz 1 StVZO für eine Fahrtenbuchauflage nicht mehr gerecht (Unmöglichkeit der Ermittlung des Fahrzeugführers). Aus rechtsmethodischer Sicht ist nämlich schon die oben referierte weitgehende traditionelle Auslegung dieser Norm, die sich kaum mehr an der Wortlautgrenze orientiert, um so Verkehrssünder, deren Sanktionierung im Bußgeldverfahren misslingt, „zumindest“ mit einem Fahrtenbuch beauflagen zu können, nicht unproblematisch.

Hierbei ist auch in Erinnerung zu rufen, dass der Anordnung einer Fahrtenbuchauflage nach § 31a Abs. 1 Satz 1 StVZO eine präventive und keine strafende Funktion zukommt. Sie setzt tatbestandlich nicht voraus, dass der Halter seine Mitwirkungsobliegenheiten schuldhaft nicht erfüllt hat oder die Unmöglichkeit der Feststellung des Fahrzeugführers sonst zu vertreten hat (vgl. OVG des Saarlandes, Beschluss vom 7. Juni 2023 – 1 B 51/23 –, juris Rn. 14; OVG NRW, Beschluss vom 30. Mai 2023 – 8 A 464/23 –, juris Rn. 7; OVG des Landes Schleswig-Holstein, Urteil vom 8. Dezember 2022 – 5 LB 17/22 –, juris Rn. 28). Die oben erwähnte Praxis steht im Widerspruch hierzu, da sie die Fahrtenbuchauflage – infolge fehlender Mitwirkung des Halters – als sanktionierendes Korrektiv zum ergebnislosen Ausgang des Ordnungswidrigkeitenverfahrens versteht.

Dabei ist zu betonen, dass die grundsätzliche Überlegung, dass sich Art und Umfang der Ermittlungstätigkeit an den Erklärungen des Halters ausrichten darf, durch die vorliegende gegebene Pflicht zur Internetrecherche nicht in Frage gestellt wird. Vielmehr stellt sie ein nach dem Stand der Technik und Ausrüstung der Polizeidienststellen in Berlin naheliegendes Aufklärungsmittel dar, dessen Einsatz sich bei vorliegenden Halterdaten und einem brauchbaren Frontfoto aufdrängt.“

So weit so gut. Das hätte ja nun als Begründung gereicht. Warum das VG Berlin nun noch meint, „nur der Vollständigkeit halber“ darauf hinweisen zu müssen, dass der Beklagte im Übrigen zurecht von einem erheblichen Verkehrsverstoß mit dem  Fahrzeug ausgegangen ist, erschließt sich mir nicht. Das, was dazu ausgeführt wird, mag ja alles richtig sein, nur: Es ist überflüssig. Man fragt sich, ob man beim VG Berlin zu viel Zeit hat. Wahrscheinlich würde man das abstreiten 🙂 .

Entziehung der Fahrerlaubnis wegen BtM-Einnahme, oder: Unbewusste Einnahme, ja oder nein?

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Im zweiten Posting stelle ich dann den OVG Greifswald, Beschl. v. 20.06.2024 – 1 M 166/24 – vor. Er ist zwar auch in einem Verfahren wegen der Entziehung der Fahrerlaubnis ergangen, es geht aber nicht so sehr um die dafür erforderlichenn Voraussetzungen, sondern vornehmlich um die Anforderungen an das Vorbringen des Betroffenen im Falle der unbewussten Einnahme von Betäubungsmitteln:

„(1) Die Erfolgsaussichten des vom Antragsteller erhobenen Widerspruchs, über den noch nicht entschieden ist, sind offen.

Das Verwaltungsgericht geht zutreffend davon aus, dass die Fahrerlaubnis nach § 3 Abs. 1 Satz 1 des Straßenverkehrsgesetzes (StVG) zu entziehen ist, wenn sich der Betroffene als ungeeignet oder nicht befähigt zum Führen eines Kraftfahrzeuges erweist. Gemäß § 6 Abs. 1 Nr. 1 Buchstabe c StVG i. V. m. § 46 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung über die Zulassung von Personen im Straßenverkehr (FeV) i. V. m. Nr. 9 der Anlage 4 zur FeV ist ein Kraftfahrer, der Betäubungsmittel im Sinne des Betäubungsmittelgesetzes konsumiert hat, im Regelfall als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen anzusehen. Dies gilt unabhängig von der Häufigkeit des Konsums, der Höhe der Betäubungsmittelkonzentration, einer Teilnahme am Straßenverkehr in berauschtem Zustand und vom Vorliegen konkreter Ausfallerscheinungen beim Betroffenen (vgl. VGH München, Beschluss vom 28. Februar 2024 – 11 CS 23.1387 –, juris Rn. 13 m. w. N.). Im Regelfall rechtfertigt bereits die einmalige bewusste (nachgewiesene) Einnahme von „harten Drogen“ die Annahme der Nichteignung, ohne dass ein Zusammenhang zwischen dem Drogenkonsum und der Teilnahme am Straßenverkehr bestehen müsste (vgl. OVG Greifswald, Beschluss vom 22. November 2022 – 1 M 491/22 OVG –; Beschluss vom 16. Oktober 2018 – 3 M 356/18 –; Beschluss vom 24. Juni 2009 – 1 M 87/09 –, juris Rn. 5). Die eignungsausschließende Einnahme von Betäubungsmitteln setzt dabei grundsätzlich einen willentlichen Konsum voraus. Vorliegend bestreitet der Antragsteller nicht, Cocain eingenommen zu haben; er trägt jedoch vor, dass die Einnahme unbewusst erfolgt sei. Die unbewusste Einnahme von Betäubungsmitteln stellt nach allgemeiner Lebenserfahrung eine seltene Ausnahme dar. Wer sich darauf beruft, muss einen detaillierten, in sich schlüssigen und glaubhaften Sachverhalt vortragen, der einen solchen Geschehensablauf als ernsthaft möglich erscheinen lässt und der insoweit der Nachprüfung zugänglich ist. Es muss überzeugend aufgezeigt werden, dass dem Auffinden von Betäubungsmitteln im Körper eines Fahrerlaubnisinhabers Kontakt mit Personen vorausgegangen ist, die zumindest möglicherweise einen Beweggrund hatten, dem Betroffenen ein drogenhaltiges Getränk bzw. Nahrungsmittel zugänglich zu machen; ferner, dass dieser selbst die Aufnahme des Betäubungsmittels und deren Wirkung tatsächlich nicht bemerkt hat (vgl. VGH München, Beschluss vom 28. Februar 2024 – 11 CS 23.1387 –, juris Rn. 14; OVG Bautzen, Beschluss vom 19. Januar 2024 – 6 B 70/23 – juris Rn. 13; OVG Greifswald, Beschluss vom 18. Dezember 2023 – 1 M 549/23 OVG – und Beschluss vom 4. Oktober 2011 – 1 M 19/11–, juris Rn. 8 m. w. N.; OVG Magdeburg, Beschluss vom 26. Oktober 2022 – 3 M 88/22 –, juris Rn. 6; OVG Saarlouis, Beschluss vom 2. September 2021 – 1 B 196/21 –, juris Rn. 47; OVG Münster, Beschluss vom 18. September 2020 – 16 B 655/20 –, juris Rn. 4; OVG Bremen, Beschluss vom 12. Februar 2016 – 1 LA 261/15 –, juris Rn. 6; OVG Berlin, Beschluss vom 9. Februar 2015 – 1 M 67.14 –, juris Rn. 4).

Dabei dürfen die Anforderungen an das Vorbringen eines Betroffenen nicht überspannt werden. Insbesondere kann vom Betroffenen bei einem über mehrere Stunden andauernden Zeitraum keine minutengenaue Protokollierung des Geschehens abverlangt werden. Es kann aber regelmäßig selbst dann, wenn die konkrete Einnahme dem Betroffenen verborgen geblieben ist, eine möglichst detaillierte Schilderung der Vorgänge erwartet werden, in deren Rahmen es möglicherweise zu der Drogeneinnahme gekommen sein könnte (vgl. OVG Bautzen, Beschluss vom 19. Januar 2024 – 6 B 70/23 –, juris Rn. 13 m. w. N.; OVG Greifswald, Beschluss vom 18. Dezember 2023 – 1 M 549/23 OVG –; Beschluss vom 4. Oktober 2011 – 1 M 19/11–, juris Rn. 8).

Daran gemessen vermag der Senat der Einschätzung des Verwaltungsgerichts, der Antragsteller habe keine nachvollziehbaren Umstände vorgetragen, wie er unbewusst Cocain zu sich genommen haben solle, nicht zu folgen. Es kann zumindest nicht ohne Weiteres davon ausgegangen werden, dessen Angaben seien nicht hinreichend detailliert, schlüssig und glaubhaft. Das von Anfang an konsistente Vorbringen des Antragstellers lässt es als möglich erscheinen, dass es sich im Kern so verhalten haben könnte, wie vom Antragsteller geschildert.

Es würde die Anforderungen an die Darlegung einer Ausnahme von der Vermutung einer willentlichen Drogeneinnahme nach den konkreten Umständen des vorliegenden Einzelfalls überspannen, vom Antragsteller zu erwarten, detailliert anzugeben, wie es zur Einnahme des Cocains gekommen ist, insbesondere wie der Abend des 7. Mai 2023 im Detail verlaufen ist. Denn der Antragsteller wurde erst mit Schreiben vom 10. August 2023 zur beabsichtigten Entziehung der Fahrerlaubnis angehört und mit dem aus Sicht des Antragsgegners bestehenden Sachverhalt konfrontiert. Es kann nicht ernsthaft von jemandem verlangt werden, detaillierte Angaben zu einem über drei Monate zurückliegenden Tag (hier: 7. Mai 2023) zu machen, wenn – wie hier nach den Schilderungen des Antragstellers nicht der Fall – nicht besondere Umstände vorliegen, die eine höhere Erinnerungsleistung rechtfertigen würden. Das gilt erst recht, wenn die Möglichkeit einer unbewussten Einnahme von Cocain im Raum steht. Auch die Kontrolle am 8. Mai 2023 und die daraufhin erfolgten Gespräche mit seiner Ehefrau dürften daran im Wesentlichen nichts ändern. Dass der Antragsteller nicht bemerkt haben will, wie seine Ehefrau ihm das Cocain verabreicht hat, insbesondere wie sie ihm einen Teil des Cocains auf sein Geschlechtsteil aufgetragen hat, erscheint – unabhängig von der Frage, ob die Beteiligten Schlafanzüge getragen haben oder nicht – im Übrigen nicht gänzlich lebensfremd.

Dem Verwaltungsgericht ist zuzugeben, dass die eidesstattliche Versicherung der Ehefrau des Antragstellers mangels eigener detaillierter Darstellungen nicht den Anforderungen entspricht und die eidesstattliche Versicherung erst später im Verfahren vorgelegt wurde. Mit Blick auf die nach dem vermeintlichen Vorfall am 7. Mai 2023 entstandenen Spannungen zwischen den Eheleuten, die bis zu einer Trennung der Eheleute geführt haben sollen, erscheint es dem Senat nicht lebensfremd, dass der Antragsteller nicht gleich zu Beginn des behördlichen Verfahren an seine Ehefrau mit der Bitte um eine eidesstattliche Versicherung herangetreten ist.

Das Verwaltungsgericht stellt zutreffend fest, dass die Ehefrau des Antragstellers den Antragsteller einer erheblichen Gefährdung ausgesetzt hätte. Eine etwaige Naivität und der stärker werdende Wunsch nach einer Wiederbelebung des Sexuallebens der Eheleute lässt es jedoch durchaus als möglich erscheinen, dass die Ehefrau des Antragstellers ihr Vorhaben in der Hoffnung umgesetzt habe, es werde nichts Schlimmes passieren.

Soweit der Antragsgegner und das Verwaltungsgericht das Vorbringen des Antragstellers deshalb nicht für plausibel erachten, weil er einen Polizeibeamten während der Kontrolle am 8. Mai 2023 gefragt haben soll, „mal unter uns gesagt“, wie lange man warten solle, nachdem man „etwas“ konsumiert habe, bleibt die Frage, ob ein solches Gespräch stattgefunden hat, einer weiteren Aufklärung im Hauptsacheverfahren vorbehalten. Der Antragsteller bestreitet das Gespräch. Hierfür könnte sprechen, dass das Gespräch nicht im Bericht zur Kontrolle aufgeführt ist und sich der Polizeibeamte dazu erst auf Nachfrage des Antragsgegners mit E-Mail vom 21. Dezember 2023 (Bl. 145 BA A) geäußert hat. Auf der anderen Seite erscheint es nicht abwegig, dass sich der Polizeibeamte aufgrund des auffälligen Fahrzeugs des Antragstellers noch an den über sechs Monate zurückliegenden Vorfall erinnern konnte. Bei der weiteren Aufklärung im Hauptsacheverfahren dürfte ebenfalls zu berücksichtigen sein, was aus der Annahme eines solchen Gesprächs folgt. Hätte der Antragsteller tatsächlich am Vorabend der Verkehrskontrolle bewusst Cocain konsumiert, wäre es lebensfremd, wenn er dann den Polizeibeamten im Rahmen einer Verkehrskontrolle nach der Abbauzeit befragt. Das gilt gerade vor dem Hintergrund, dass der Antragsteller sowohl privat als auch beruflich auf seine Fahrerlaubnis angewiesen ist.

Der Umstand, dass das Vorbringen des Antragstellers den von ihm geschilderten Ablauf als möglich erscheinen lässt, führt vorliegend jedoch nicht dazu, dass sein Widerspruch voraussichtlich Erfolg haben wird, mit der Folge, dass seine Beschwerde Erfolg hätte und die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs wiederherzustellen wäre. Denn die weitere Aufklärung des Sachverhalts, insbesondere die Frage, ob das Gespräch zwischen dem Antragsteller und dem Polizeibeamten stattgefunden hat und was daraus folgt, sowie die Vernehmung der Ehefrau des Antragstellers und die etwaige Auswertung des Browserverlaufs des von der Ehefrau benutzten Computers/Handys, bleibt dem Hauptsacheverfahren vorbehalten. Die eidesstattliche Versicherung der Ehefrau des Antragstellers genügt hierfür schon mangels eigener detaillierter Darstellungen nicht aus. Angaben, die der Antragsgegner und auch das Verwaltungsgericht im Vorbringen des Antragstellers vermissen (zum Beispiel ein etwaiger Drogenkonsum der Ehefrau, nähere Angaben zum Kauf des Cocains), kann aufgrund der vorgetragenen Umstände nur die Ehefrau des Antragstellers machen.“

Aber:

„(2) Lässt sich demnach die Rechtmäßigkeit des Bescheides vom 19. Februar 2024 nicht hinreichend zuverlässig abschätzen, kann lediglich eine Interessenabwägung in Form einer Folgenabschätzung vorgenommen werden. Dabei sind die Folgen, die eintreten, wenn die aufschiebende Wirkung wiederhergestellt wird, die angefochtene Verfügung sich aber als rechtmäßig erweist, gegen die Folgen abzuwägen, die eintreten, wenn die aufschiebende Wirkung nicht wiederhergestellt wird, sich die Verfügung aber später als rechtswidrig erweist. Auf die betroffenen Grundrechte ist in besonderer Weise Bedacht zu nehmen (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 12. Mai 2005 – 1 BvR 569/05 -, juris Rn. 26; OVG Münster, Beschlüsse vom 19. Februar 2013 – 16 B 1229/12 –, juris Rn. 12).

Für den Antragsteller streiten neben dem Umstand, dass er aus beruflichen Gründen auf seine Fahrerlaubnis angewiesen ist (Art. 12 Abs. 1 des Grundgesetzes – GG –), sein Interesse an motorisierter Fortbewegung, eine vom Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) geschützte Rechtsposition, und seine damit verbundenen persönlichen Belange. Dem stehen die höchstwertigen Rechtsgüter, zu deren Schutz die Entziehung der Fahrerlaubnis erfolgt, nämlich vor allem Leib und Leben der übrigen Verkehrsteilnehmer, die Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs an sich sowie bedeutende Sachwerte der Allgemeinheit gegenüber.

Im Ergebnis der Abwägung überwiegt das öffentliche Interesse an der Sicherheit des Straßenverkehrs das private Interesse des Antragstellers an der vorläufigen Beibehaltung seiner Fahrerlaubnis……“

Einiges Neues zur Entziehung der Fahrerlaubnis, oder: Bindung, Mischkonsum, Demenz, unsichere Fahrweise

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Heute dann mal wieder ein Ausflug in die Abteilung „Verwaltungsrecht“. Ich stelle in diesem Posting zunächst einige Entscheidungen zur Entziehung der Fahrerlaubnis nach dem StVG vor, allerdings jeweils nur die Leitsätze. Und das sind:

Ein Strafurteil entfaltet keine Bindungswirkung gegenüber der Fahrerlaubnisbehörde entfaltet, wenn es lediglich die strafrichterliche Feststellung enthält, der Fahrerlaubnisinhabe habe sich als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erwiesen. Denn dann fehlt es an einer eindeutigen und bestimmten und durch § 267 Abs. 6 Satz 2 StPO gebotenen Eignungsbeurteilung durch den Strafrichter. Ohne diese Feststellung beschränken sich die Urteilsgründe auf die Verhängung eines Fahrverbots, ohne dann mit einem Wort darauf einzugehen, dass und weshalb der Strafrichter ggf. von der Entziehung der Fahrerlaubnis abgesehen hat. Ob er die Fahreignung geprüft hat, ist dann völlig unklar.

1. Ist aufgrund der Umstände des Einzelfalls davon auszugehen, dass der Antragsteller gelegentlich Cannabis konsumiert hat und ihm aufgrund einer festgestellten Mischkonsums von Alkohol und Cannabis die Fahreignung fehlt, rechtfertigt das die Entziehung der Fahrerlaubnis ohne weiteres und ist die Anordnung einer medizinisch-psychologischen Begutachtung entbehrlich.

2. Ein nicht im Zusammenhang mit dem Straßenverkehr stehender Mischkonsum von Cannabis und Alkohol rechtfertigt jedenfalls dann die Annahme einer mangelnden Fahreignung, wenn er die Aufgabe der Trennungsbereitschaft möglich erscheinen lässt und eine Teilnahme am Straßenverkehr unter Wirkung der Rauschmittel hinreichend wahrscheinlich ist. Das ist der Fall, wenn er in zeitlicher und mengenmäßiger Hinsicht zu einer kombinierten Rauschwirkung führen kann.

Zur Entziehung der Fahrerlaubnis wegen unsicherer Fahrweise und Anhaltspunkten für eine altersbedingte psychische Erkrankung (Demenz) und zur unzureichende Mitwirkung bei der Aufklärung.

Fahrtenbuch und Feststellung des Fahrzeugsführers, oder: Warten bis zum Schluss hilft nicht

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Im Kessel Buntes köcheln heute zwei verwaltungsgerichtliche Entscheidungen.

Die erste kommt vom BVerwG. Das hat im BVerwG, Beschl. v. 07.05.2024 – 3 B 6.23 – zum Fahrtenbich (§ 31a StVZO) Stellung genommen. Die Klägerin, eine GmbH, wendet sich in dem Verfahren gegen eine Fahrtenbuchauflage. Mit ihrem Fahrzeug wurde am 23.06.2017 innerhalb einer geschlossenen Ortschaft die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h um 27 km/h überschritten. Auf ihre Befragung teilte sie am Freitag, 22.09.2017, um 17.34 Uhr den Namen der Fahrzeugführerin mit. Der Beklagte stellte das Verfahren ein und ordnete mit Verfügung vom 14.11.2017 das Führen eines Fahrtenbuchs für die Dauer von neun Monaten an.

Auf die Klage der GmbH hat das VG den Bescheid aufgehoben. Das OVG hat dieses Urteil geändert und die Klage abgewiesen. Dem Beklagten sei die Feststellung der Fahrzeugführerin trotz angemessener Bemühungen nicht rechtzeitig möglich gewesen. Der Tag der Mitteilung sei der Tag gewesen, an dem die Verjährungsfrist abgelaufen sei. Eine zielführende Bearbeitung an diesem Tag sei dem Beklagten nicht mehr zumutbar gewesen. Die gegen das OVG-Urteil gerichtete Nichtzulassungsbeschwerde hatte keinen Erfolg:

“ ….. Die Klägerin meint, von grundsätzlicher Bedeutung sei die Frage, ob die Fahrzeugführerin rechtzeitig benannt wurde. Das Berufungsgericht habe sich mit der Thematik nicht auseinandergesetzt und lediglich darauf abgestellt, dass die Fahrzeugführerin so rechtzeitig bekannt gegeben werden müsse, dass die begangene Verkehrsordnungswidrigkeit mit Aussicht auf Erfolg geahndet werden könne. Die Inanspruchnahme von Fristen sei zulässig und könne ihr nicht entgegengehalten werden. Es liege in der Sphäre des Empfängers (rechtzeitig) zu handeln, was durch eine Mitwirkungsobliegenheit nicht aufgeweicht werden dürfe.

Eine grundsätzlich klärungsbedürftige Frage ergibt sich aus diesem Vorbringen nicht.

In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist geklärt, dass die Feststellung eines Fahrzeugführers – wie in § 31a Abs. 1 Satz 1 StVZO vorausgesetzt – nicht möglich war, wenn die Behörde nicht in der Lage war, den Täter zu ermitteln, obwohl sie alle angemessenen und zumutbaren Maßnahmen ergriffen hat (vgl. BVerwG, Urteil vom 17. Dezember 1982 – 7 C 3.80 – Buchholz 442.16 § 31a StVZO Nr. 12 = juris Rn. 7; Beschlüsse vom 9. Dezember 1993 – 11 B 113.93 – juris Rn. 4 und vom 23. Dezember 1996 – 11 B 84.96 – juris Rn. 3). Die Feststellung des Fahrzeugführers zielt darauf, die Zuwiderhandlung gegen Verkehrsvorschriften mit Aussicht auf Erfolg ahnden und auf dieser Grundlage die im Interesse der Verkehrssicherheit gebotenen Maßnahmen ergreifen zu können. Das erfordert, dass der verantwortliche Fahrzeugführer rechtzeitig vor Ablauf der maßgeblichen Verjährungsfrist – hier: von drei Monaten (§ 26 Abs. 3 StVG) – bekannt wird (BVerwG, Beschluss vom 1. März 1977 – 7 B 31.77 – Buchholz 442.16 § 31a StVZO Nr. 4 und Urteil vom 17. Dezember 1982 – 7 C 3.80 – Buchholz 442.16 § 31a StVZO Nr. 12). Unbeschadet eines Rechts, die Auskunft oder das Zeugnis in einem Ordnungswidrigkeitsverfahren zu verweigern, ist der Fahrzeughalter gehalten, an der Feststellung des Fahrzeugführers mitzuwirken, will er von einer Fahrtenbuchauflage verschont bleiben. In diesem Sinne ist der Fahrzeughalter zur Mitwirkung verpflichtet (BVerwG, Beschlüsse vom 14. Mai 1997 – 3 B 28.97 – juris Rn. 3 f. und vom 11. August 1999 – 3 B 96.99NZV 2000, 385). Konnte der Fahrzeugführer nicht rechtzeitig festgestellt werden, so kann eine Fahrtenbuchauflage verhängt werden. Das gilt unabhängig davon, ob der Fahrzeughalter die Aussage verweigert (BVerwG, Beschluss vom 22. Juni 1995 – 11 B 7.95 – Buchholz 442.16 § 31a StVZO Nr. 22) oder sich so spät erklärt hat, dass die Behörde die erforderlichen Maßnahmen zur Ahndung der Zuwiderhandlung vor Eintritt der Verjährung nicht mehr in zumutbarer Weise ergreifen konnte (vgl. BVerwG, Beschluss vom 12. Februar 1980 – 7 B 179.79 – Buchholz 442.16 § 31a StVZO Nr. 6).

Auf der Grundlage dieser gefestigten Rechtsprechung lässt die Beschwerde einen weiteren fallübergreifenden Klärungsbedarf nicht erkennen. Mit ihr ist geklärt, dass ein Fahrzeughalter – entgegen der Vorstellung der Klägerin – jedenfalls nicht ohne das Risiko der Anordnung einer Fahrtenbuchauflage mit der Auskunft des Fahrzeugführers zuwarten kann, bis die Verjährungsfrist fast abgelaufen ist. …“

beA II: Anforderung an sorgfältige Ausgangskontrolle, oder: Zivilrecht gilt auch für Strafverteidiger

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Und als zweite Entscheidung der LG Limburg, Beschl. v. 16.04.2024 – 2 Qs 123/23 -, in dem das LG zum beA-Versand bzw. dem Nachweis über den Zugang durch eine sorgfältige Ausgangskontrolle Stellung nimmt.

Wir befinden uns nach Freispruch des Betroffenen im OWi-Verfahren im Kostenfestsetzungsverfahren. Das AG hat die Kosten nur zum Teil festgesetzt. Ob der Verteidiger dagegen wirksam rechtzeitig per beA Beschwerde eingelegt hat, ist streitig. Er hat einen Wiedereinsetzungsantrag gestellt, der beim AG und LG keinen Erfolg hatte:

„1. Die gemäß §§ 464b S. 3, 104 Abs. 3 S. 1 ZPO, 11 Abs. 1 RpflG statthafte sofortige Beschwerde gegen den Kostenfestsetzungsbeschluss der Rechtspflegerin ist unzulässig, da sie nicht innerhalb der Zwei-Wochen-Frist gem. § 464b S. 4 StPO eingelegt worden ist.

Bei dem Amtsgericht ist auch nach interner Prüfung, soweit dies unter Mitwirkung des Verteidigers möglich war, kein Schriftsatz eingegangen.

2. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Versäumung der Frist zur Einlegung der sofortigen Beschwerde war nicht zu gewähren.

Über den Wiedereinsetzungsantrag wegen Fristversäumung des Beschwerdeführers entscheidet gem. §§ 46 Abs. 1, 464b S. 3 StPO die Kammer als Beschwerdegericht in der für das Strafverfahren üblichen Besetzung mit dem gesamten Spruchkörper. § 568 S.1 ZPO, wonach das Beschwerdegericht durch den Einzelrichter entscheidet, wenn die angefochtene Entscheidung von einem Rechtspfleger erlassen wurde, findet keine Anwendung (Meyer-Goßner/Schmitt StPO, 66. Aufl., StPO § 464b Rn. 7).

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist auf Antrag demjenigen zu gewähren, der ohne Verschulden verhindert war, eine Frist einzuhalten (§ 44 S. 1 StPO).

In dem Antrag ist ein Lebenssachverhalt darzulegen und glaubhaft zu machen, der das fehlende Verschulden des Betroffenen an der Säumnis belegt und Alternativen ausschließt, die der Wiedereinsetzung entgegenstehen. Der Antrag ist binnen 1 Woche nach Wegfall des Hindernisses zu stellen (§ 45 Abs. 1 S. 1 StPO); innerhalb der Wochenfrist muss der Antragsteller auch Angaben über den Zeitpunkt des Wegfalls des Hindernisses machen. Zudem ist innerhalb der Antragsfrist die versäumte Handlung nachzuholen (§ 45 Abs. 2 S. 2 StPO) (BGH, Beschl. v. 5.9.2023 – 3 StR 256/23 = NStZ-RR 2023, 347, beck-online).

„Verhindert“ bedeutet, entgegen seinem Willen eine Frist nicht wahren zu können. „Ohne Verschulden“ handelt, wer die ihm nach seinen persönlichen Verhältnissen und Eigenschaften unter Berücksichtigung der Umstände des konkreten Einzelfalls mögliche und zumutbare Sorgfalt beachtet. Dabei dürfen im Interesse der materiellen Gerechtigkeit keine allzu hohen Anforderungen an den Säumigen gestellt werden (MüKoStPO/Valerius, 2. Aufl. 2023, StPO § 44 Rn. 38, 40).

Der Bundesgerichtshof stellt an die Nutzung des besonderen elektronischen Anwaltspostfachs (beA) Sorgfaltsanforderungen.

a) Der von der höchstrichterlichen Rechtsprechung entwickelte Maßstab an den sorgfältigen Umgang mit dem beA gilt nicht nur in der Ziviljustiz. Seit dem 01.01.2022 müssen anwaltliche Schriftsätze als elektronisches Dokument gemäß § 130d S. 1 ZPO über das besondere elektronische Postfach (beA) bei Zivilgerichten eingereicht werden. Eine für die Strafjustiz gleich umfangreiche Regelung hat der Gesetzgeber bislang nicht getroffen. Mit der Einführung der §§ 32 ff. StPO hat der Gesetzgeber (Bundesgesetzblatt Jahrgang 2017, Bl. 2208) indes die Grundlagen für die elektronische Akte und die elektronische Kommunikation im Strafverfahren gelegt. Durch Inkrafttreten des § 32d StPO sollen Verteidiger und Rechtsanwälte den Strafverfolgungsbehörden und Gerichten Schriftsätze und deren Anlagen sowie schriftlich einzureichende Anträge und Erklärungen als elektronisches Dokument übermitteln. Eine Pflicht zur elektronischen Übermittlung besteht für die Berufung und ihre Begründung, die Revision, ihre Begründung und die Gegenerklärung sowie die Privatklage und die Anschlusserklärung bei der Nebenklage.

Bedient sich der Strafverteidiger – unabhängig einer ggf. nur fakultativen Nutzung – zur Übermittlung eines Schriftstücks an das Strafgericht im Wege des elektronischen Rechtsverkehrs dem beA, gelten für ihn zugleich die von der höchstrichterlichen Rechtsprechung entwickelten Sorgfaltspflichten.

b) Neben der Eingangskontrolle beim Empfang von Nachrichten verlangt die höchstrichterliche Rechtsprechung insbesondere eine umfangreiche Ausgangskontrolle beim Versand von beA-Nachrichten. Ein Rechtsanwalt hat ggf. durch organisatorische Vorkehrungen sicherzustellen, dass ein fristgebundener Schriftsatz rechtzeitig gefertigt wird und innerhalb der laufenden Frist beim zuständigen Gericht eingeht (BGH, Beschluss vom 17.3.2020 – VI ZB 99/19 = NJW 2020, 1809 Rn. 8, beck-online)

Die anwaltlichen Sorgfaltspflichten im Zusammenhang mit der Übermittlung von fristgebundenen Schriftsätzen im Wege des elektronischen Rechtsverkehrs über das beA entsprechen denen bei Übersendung von Schriftsätzen per Telefax. Unerlässlich ist die Überprüfung des Versandvorgangs. Dies erfordert die Kontrolle, ob die Bestätigung des Eingangs des elektronischen Dokuments bei Gericht nach § 130a Abs. 5 S. 2 ZPO erteilt worden ist (BGH Beschluss vom 11.1.2023 – IV ZB 23/21 = NJW-RR 2023, 425, beck-online). Die Eingangsbestätigung soll dem Absender unmittelbar und ohne weiteres Eingreifen eines Justizbediensteten Gewissheit darüber verschaffen, ob die Übermittlung an das Gericht erfolgreich war oder ob weitere Bemühungen zur erfolgreichen Übermittlung des elektronischen Dokuments erforderlich sind. Hat der Rechtsanwalt eine Eingangsbestätigung nach § 130a Abs. 5 S. 2 ZPO erhalten, besteht Sicherheit darüber, dass der Sendevorgang erfolgreich war (BGH, Beschluss vom 29.9.2021 – VII ZR 94/21 = NJW 2021, 3471, beck-online).

Die Ausgangskontrolle eines Schriftsatzes an das Gericht per beA beschränkt sich nicht auf die bloße Kenntnisnahme der Eingangsbestätigung nach § 130a Abs. 5 ZPO (NJW 2023, 1537 Rn. 3, beck-online). Die Kontrollpflicht umfasst die erforderliche Überprüfung, ob die Übermittlung vollständig, an den richtigen Empfänger und bezogen auf den ggf. angefügten Schriftsatz erfolgreich erfolgt ist (BGH Beschluss vom 20.9.2022 – XI ZB 14/22 = NJW 2022, 3715, beck-online). Für die Ausgangskontrolle des elektronischen Postfachs beA bei fristgebundenen Schriftsätzen genügt jedenfalls nicht die Feststellung, dass die Versendung irgendeines Schriftsatzes mit dem passenden Aktenzeichen an das Gericht erfolgt ist, sondern anhand des zuvor sinnvoll vergebenen Dateinamens ist auch zu prüfen, welcher Art der Schriftsatz war (BGH Beschluss vom 31.8.2023 – VIa ZB 24/22 = NJW 2023, 3434, beck-online; BGH Beschluss vom 20.9.2022 – XI ZB 14/22 = NJW 2022, 3715, beck-online; BGH, Beschluss vom 17.3.2020 – VI ZB 99/19 = NJW 2020, 1809, beck-online). Dies rechtfertigt sich dadurch, dass bei einem Versand über beA – anders als bei einem solchen über Telefax, bei dem das Original des Schriftsatzes zur Übermittlung in das Telefax-Gerät eingelegt wird – eine Identifizierung des zu übersendenden Dokuments nicht mittels einfacher Sichtkontrolle möglich ist und deshalb eine Verwechslung mit anderen Dokumenten, deren Übersendung nicht beabsichtigt ist, nicht von vornherein ausgeschlossen werden kann (BGH Beschluss vom 21.3.2023 – VIII ZB 80/22 = NJW 2023, 1668, beck-online).

Bei der Vergabe eines „sinnvollen“ Dateinamens, der ohne Weiteres auch Rückschlüsse auf den Inhalt des Dokuments zulässt, kann sich der sorgfältige beA-Nutzer an den formalen Anforderungen der am 20.09.2017 erlassenen Verordnung der Bundesregierung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) orientieren. Zu den formalen Anforderungen an elektronische Dokumente sieht § 2 Abs. 2 ERVV vor:

Der Dateiname soll den Inhalt des elektronischen Dokuments schlagwortartig umschreiben und bei der Übermittlung mehrerer elektronischer Dokumente eine logische Nummerierung enthalten. Der Dateiname des Schriftsatzes soll der üblichen Bezeichnung in der jeweiligen Prozessordnung entsprechen, also beispielsweise als Klageschrift, Klageerwiderung, Berufungs- oder Revisionsschrift oder Kostenfestsetzungsantrag bezeichnet werden. Der Schriftsatz und die Anlagen sollen neben der Inhaltsbezeichnung durch die Voranstellung einer Nummerierung (etwa 01, 02, 03 …) geordnet werden (BR-Drs. 645/17, S. 2, 13).

Mit der Vergabe eines sinnvollen Dateinamens ist nicht nur der Reduzierung des Aufwands für Gerichte, Gerichtsvollzieherinnen und Gerichtsvollzieher bei der Führung einer elektronischen Akte gedient (BR-Drs. 645/17, S. 13), sondern auch dem Rechtsanwalt, der Fehlerquellen bei der Übermittlung fristgebundener Schriftstücke auf elektronischem Wege möglichst zu eliminieren gesucht.

c) Die dem Rechtsanwalt auferlegten Überprüfungspflichten sind zumutbar. Die Ausgangskontrolle ist über die Nachrichtenansicht der beA-Webanwendung, anhand des Übermittlungsprotokolls mittels der dort verfügbaren Informationen unter der Überschrift „Anhänge“ sowie anhand des Abschnitts „Zusammenfassung und Struktur“ des Prüfprotokolls möglich (BGH Beschluss vom 21.3.2023 – VIII ZB 80/22 = NJW 2023, 1668, beck-online; BGH Beschluss vom 20.9.2022 – XI ZB 14/22 = NJW 2022, 3715, beck-online).

Die Bundesrechtsanwaltskammer stellt beA-Nutzern zum erleichterten Umgang über ihren frei zugänglichen Internetauftritt (vgl. https://portal.beasupport.de/neuigkeiten/nachweis-ueber-den-zugang-von-nachrichten-bei-gerichten-stellungnahme-der-brak, zuletzt aufgerufen am 09.04.2024) eine umfangreiche Anwenderhilfe und Support im Umgang mit der Nutzung des beA zur Verfügung, deren sich beA-Nutzer bedienen können, und informiert insbesondere zum Nachweis über den Zugang von Nachrichten bei Gerichten am Maßstab höchstrichterlicher Rechtsprechung praxis- und anwenderfreundlich.

Diesen Anforderungen ist die Ausgangskontrolle des Verteidigers des Beschwerdeführers unter Zugrundelegung des Wiedereinsetzungsvortrags nicht gerecht geworden.

Die verteidigerseits vorgelegte Dokumentation zur beA-Nachricht lässt nicht den Schluss zu, dass die sofortige Beschwerde innerhalb der Beschwerdefrist des § 464b S. 4 StPO beim Amtsgericht eingegangen ist. Den Darlegungen des Betroffenen im Wiedereinsetzungsantrag lässt sich nicht entnehmen, dass der Verteidiger eine hinreichende Ausgangskontrolle in Eigenverantwortung gewährleistet hat. Ohnehin würde die Kontrolle des zu übersendenden Dokuments durch eine Kanzleikraft im Vorfeld des elektronischen Versands nicht zu einer Herabsetzung der Sorgfaltsanforderungen an die Überprüfung der Eingangsbestätigung führen (BGH Beschluss vom 31.8.2023 – VIa ZB 24/22 = NJW 2023, 3434, beck-online).

Aus dem vom Prozessbevollmächtigten des Beschwerdeführers vorgelegten Prüfprotokoll für den 28.07.2022 über Schriftsätze in dieser Sache ergibt sich, dass hier die der beA-Nachricht angehängte Datei „A-b-e-l-.pdf“ versandt worden war. Für diese Tatsache genügt der vorgelegte beA-Sendenachweis. Soweit der Verteidiger darüber hinaus mit der Vorlage auch den Nachweis zu erbringen versucht, dass es sich bei dem Anhang inhaltlich um die sofortige Beschwerde handelt, kann ihm dies nicht gelingen. Eine sorgfältige Ausgangskontrolle anhand eines sinnvoll gewählten Dateinamens hat der Verteidiger versäumt.

Bei dem von dem Verteidiger frei gewählten Dateinamen handelt es sich um den Nachnamen des Beschwerdeführers, wobei die einzelnen Buchstaben jeweils mit einem „Bindestrich“ voneinander getrennt sind. Anhand der verkürzten Form des Dateinamens ist noch erkennbar, dass hier ein Schriftstück mit Bezug zum Betroffenen versandt worden war. Nicht feststellbar ist hingegen, ob das Schriftstück einen Bezug zum hiesigen Bußgeldverfahren aufweist. Der Dateiname ist nicht geeignet, eine Verwechslung auszuschließen. Eine Zuordnung zu einem bestimmten Verfahren oder eine hinreichende Unterscheidung von anderen Dokumenten im selben Verfahren ist durch den gewählten Dateinamen nicht möglich. Rückschlüsse auf den Inhalt des angehängten Dokuments lässt der gewählte Dateiname nicht zu. Der Verteidiger hat zudem die reale Gefahr einer Verwechslung hervorgerufen: Für die Übersendung eines vorangegangenen Schriftsatzes vom 25.04.2022 und eines nachfolgenden Schriftsatzes vom 02.12.2022 hat der Verteidiger ebenfalls die gleichlautende Dateibezeichnung „A-b-e-l-.pdf“ gewählt. Aufgrund des unklaren Dateinamens kann der vorgelegte beA-Sendenachweis nicht dem Nachweis dafür dienen, dass Inhalt des am 28.07.2022 übermittelten Anhangs die vermeintlich unter dem 27.07.2022 erhobene sofortige Beschwerde ist.

Für das Verschulden seines anwaltlichen Vertreters hat der Betroffene einzustehen.

Eine solche Zurechnung findet im Strafverfahren zwar nicht durchgehend statt. Eine Ausnahme ist jedoch nur zugunsten des Beschuldigten anerkannt und dies auch nur, soweit er sich gegen den Schuld- oder Rechtsfolgenausspruch zur Wehr setzt. So ist es den Strafgerichten regelmäßig verwehrt, dem Beschuldigten Versäumnisse des Verteidigers zuzurechnen, wenn zu prüfen ist, ob ihn an einer Fristversäumung gem. § 44 Abs. 1 S. 1 StPO ein Verschulden trifft (vgl. BVerfG NJW 1994, 1856). Den allgemeinen Verfahrensgrundsatz des § 85 Abs. 2 ZPO, wonach das Verschulden des Bevollmächtigten dem Verschulden der Partei gleichsteht, kennt die Strafprozessordnung nicht (vgl. BVerfGE 60, 253 = NJW 1982, 2425). Auf dieses Privileg kann sich ein Beschuldigter nur berufen, soweit er sich mit einem Rechtsbehelf gegen den Schuldspruch oder den Rechtsfolgenausspruch wendet, welche sich besonders einschneidend auf Ehre, Freiheit, Familie, Beruf und damit sein gesamtes Leben auswirken können. Bei anderweitigen Rechtsbehelfen muss dagegen auch er für das Verschulden seines Vertreters einstehen. Das betrifft etwa die sofortige Beschwerde gegen die Kosten- und Auslagenentscheidung nach § 464 Abs. 3 StPO, da diese in ihrem Wesen und ihren Auswirkungen Schuldtiteln über Geldforderungen vergleichbar ist, so dass § 85 Abs. 2 ZPO jedenfalls seinem allgemeinen Rechtsgedanken nach angewendet wird (BGH Beschluss vom 4.7.2023 – 5 StR 145/23 = NJW 2023, 3304, beck-online).

Dem steht die Kostenfestsetzung nach § 464b StPO gleich. Der Beschwerdeführer muss sich das Verschulden des Verteidigers im Sinne des § 85 Abs. 2 ZPO im Kostenfestsetzungsverfahren nach § 464b StPO zurechnen lassen (Meyer-Goßner/Schmitt StPO, 66. Aufl., StPO § 44 Rn. 19). In diesem Fall besteht nicht das besondere Schutzbedürfnis, das allein die Ausnahme von dem Grundsatz des § 85 Abs. 2 ZPO für den sich verteidigenden Beschuldigten rechtfertigt.“