Archiv der Kategorie: Verwaltungsrecht

Entziehung der Fahrerlaubnis, oder: Nicht wissentliche Drogenaufnahme nachvollziehbar

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By Dundak – Own work

Die zweite Entscheidung des Tages kommt dann mit dem OVG Saarland, Beschl. v. 02.09.2021 – 1 B 196/21 – aus dem Saarland.

In der Entscheidung geht es im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO um die Entziehung der Fahrerlaubnis und die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen die Entziehungsentscheidung.

Da die Entscheidung recht umfangreich begründet worden ist, verweise ich hier nur auf den Volltext. Ich kann nicht alles einstellen. Das würde den Rahmen sprengen. Es handelt sich sicherlich um einen Einzelfall einer zugunsten des Fahrerlaubnisinhabers ausfallenden Interessenabwägung bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens. Das Besondere am Verfahren: Das OVG geht von einem nicht ausermittelten Sachverhalt aus und hält – was besonders bemerkenswert ist – Darstellung die Betroffenen zu einer nicht wissentlichen Drogenaufnahme für nachvollziebar. Hat man ja auch nicht so häufig.

Entfernung eines Polizeibeamten aus dem Dienst, oder: Das war ein wenig reichlich an Dienstvergehen

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Vor einiger Zeit ist die Nachricht zum OVG Niedersachsen, Urt. v. 16.04.2021 – 6 LD 4/19 – über die Ticker gelaufen. In dem Verfahren ging es um die Entlassung eines Bundespolizisten aus dem Dienst. Inzwischen liegt der Volltext zu der Entscheidung vor, so dass ich – ein wenig verspätet – darüber berichten kann.

Ich mache es mir einfach und beziehe mich auf die zu der Entscheidung ergangene PM des OVG. In der heißt es:

 

Berufung eines Bundespolizeibeamten gegen seine Entfernung aus dem Beamtenverhältnis erfolglos

Der für das Disziplinarrecht der Bundesbeamten zuständige 6. Senat des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts hat mit Urteil vom 16. April 2021 die Berufung eines Bundespolizeibeamten gegen ein am 23. Oktober 2019 ergangenes Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover zurückgewiesen (Az.: 6 LD 4/19). Mit dem von dem beklagten Polizeiobermeister angegriffenen Urteil hat das Verwaltungsgericht der auf die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis gerichteten Klage der Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch die Bundespolizeidirektion Hannover, stattgegeben. Der 6. Senat des Oberverwaltungsgerichts hat das Urteil des Verwaltungsgerichts bestätigt, so dass es bei der Entfernung des Polizeiobermeisters aus dem Beamtenverhältnis bleibt.

Der Entscheidung liegt der folgende Sachverhalt zugrunde:

Der Polizeiobermeister wurde seit Juni 2009 bei der Bundespolizeidirektion Hannover verwendet. Nachdem im Februar 2015 gegen ihn ein Disziplinarverfahren eingeleitet worden war, wurde ihm im Mai 2015 zunächst die Führung der Dienstgeschäfte verboten. Ende Juli 2015 wurde er vorläufig des Dienstes enthoben; seine Dienstbezüge wurden ab November 2015 gekürzt. Das Disziplinarverfahren wurde mehrfach ausgeweitet.

Mit der im Januar 2019 erhobenen Disziplinarklage hat die Bundespolizeidirektion Hannover dem Polizeiobermeister zahlreiche inner- und außerdienstliche Pflichtenverstöße vorgeworfen. Dazu haben neben etlichen anderen Vorwürfen die strafrechtlich geahndeten Vorwürfe des Verleumdens und des unberechtigten Fotografierens eines in Gewahrsam genommenen marokkanischen Staatsangehörigen, des Verbreitens des von dem marokkanischen Staatsangehörigen gefertigten Fotos, des unerlaubten Besitzes von Munition und einer Schusswaffe sowie des unerlaubten Besitzes von 120 kinder- und 188 jugendpornographischen Schriften gehört. Insoweit war der Polizeiobermeister zuvor bereits zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Monaten und drei Wochen, die zur Bewährung ausgesetzt worden war, verurteilt worden. Der Disziplinarklage hat ferner der Vorwurf des unaufgeforderten Versendens eines pornographischen Fotos an eine 14jährige zugrunde gelegen. Insoweit war gegen den Polizeiobermeister strafrechtlich eine Geldstrafe verhängt worden.

Mit Urteil vom 23. Oktober 2019 hat das Verwaltungsgericht Hannover gegen den Polizeiobermeister die disziplinarische Höchstmaßnahme der Entfernung aus dem Beamtenverhältnis verhängt.

Der 6. Senat des Nds. Oberverwaltungsgerichts hat die Entscheidung des Verwaltungsgerichts im Berufungsverfahren als richtig bestätigt und deshalb die Berufung des Polizeiobermeisters zurückgewiesen. Er ist zu der Einschätzung gelangt, dass der Polizeiobermeister in der Zeit von 2010 bis 2015 zahlreiche gravierende Dienstpflichtverletzungen und damit ein sehr schwerwiegendes Dienstvergehen begangen habe. Der Polizeiobermeister habe schon allein mit den strafrechtlich geahndeten Taten in ganz erheblicher Weise gegen die ihm als Polizeibeamten obliegenden Pflichten verstoßen. Er habe darüber hinaus mehrere weitere gravierende Dienstpflichtverletzungen begangen. Es sei als erwiesen anzusehen, dass er einem Kollegen eine WhatsApp-Nachricht mit herabwürdigenden Äußerungen über einen Ausländer übersandt habe. Er habe außerdem mit seinem Handy ein Foto von einem in Gewahrsam Genommenen, der in wehrloser Position auf dem Boden eines Dienstfahrzeugs gelegen habe, gefertigt. Er habe ferner sowohl eine Polizeianwärterin als auch einen Polizeianwärter während des Dienstes sexuell belästigt. Dabei habe er dem Polizeianwärter während der Verfehlung seine Dienstwaffe an den Kopf gehalten und ihn zu einer sexuellen Handlung aufgefordert. Er habe zudem während des Dienstes im hinteren Teil seines Dienstfahrzeugs einvernehmlich mit einer Bekannten sexuelle Handlungen vollzogen, während ein Kollege vorn im Fahrzeug gesessen habe. Er habe schließlich vertrauliche Informationen, die er in seiner Eigenschaft als Suchthelfer der Bundespolizeiinspektion Hannover erlangt habe, unbefugt weitergegeben.

Das von dem Polizeiobermeister begangene Dienstvergehen erfordert nach Auffassung des 6. Senats den Ausspruch der disziplinarrechtlichen Höchstmaßnahme der Entfernung aus dem Beamtenverhältnis. Die von dem Polizeiobermeister begangenen Straftaten seien angesichts der Vorbildfunktion eines Polizeibeamten nicht hinnehmbar. Dies gelte auch für die weiteren Pflichtverletzungen, die nicht strafrechtlich geahndet worden seien. Entlastende Gesichtspunkte, die es rechtfertigen könnten, von der disziplinarischen Höchstmaßnahme abzusehen, bestünden nicht. Insbesondere der von dem Polizeiobermeister geltend gemachte Milderungsgrund einer „Entgleisung während einer negativen, inzwischen überwundenen Lebensphase“ liege nicht vor. Selbst wenn das Vorbringen des Polizeiobermeisters dazu als wahr unterstellt würde, habe es bereits an einer zugespitzten negativen Lebensphase gefehlt, die für die Begehung der Taten unmittelbar ursächlich gewesen wäre. Denn die von ihm vorgetragenen belastenden Umstände seien fortdauernd während einer langen Zeitspanne von etwa fünf Jahren aufgetreten. Gegen die Annahme, dass den Polizeiobermeister im Tatzeitraum außergewöhnliche Umstände „zeitweilig aus der Bahn geworfen“ hätten, spreche zudem auch, dass er während der gesamten Zeit in der Lage gewesen sei, seinen Dienst zu verrichten, eine Nebentätigkeit als „Leiter einer Selbsthilfegruppe für Suchtkranke im Diakonischen Werk“ auszuüben und als Sucht- und Sozialhelfer bei der Bundespolizeidirektion Hannover tätig zu sein.

Die Gesamtwürdigung der den Polizeiobermeister belastenden Umstände und der zu seinen Gunsten sprechenden entlastenden Gesichtspunkte ergebe, dass sich der Polizeiobermeister im Hinblick auf die Erfüllung seiner Dienstpflichten als Polizeibeamter in einem so hohen Maße als unzuverlässig erwiesen habe, dass er das Vertrauen des Dienstherrn und der Allgemeinheit endgültig verloren habe. Der durch die gravierenden Dienstpflichtverletzungen eingetretene Autoritäts- und Ansehensverlust könne nach der Überzeugung des 6. Senats nicht mehr rückgängig gemacht werden.

Die Revision gegen das Urteil hat der 6. Senat nicht zugelassen, weil keiner der gesetzlich geregelten Zulassungsgründe gegeben ist. Der Polizeiobermeister kann gegen die Nichtzulassung der Revision Beschwerde einlegen.“

(Mehrfacher) Anfall der Grundgebühr im Disziplinar- verfahren? , oder: Einmaligkeit der Grundgebühr

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In der zweiten Entscheidung geht es auch um die Grudngebühr, aber: Etwas exotischer, nämlich nach Teil 6 VV RVG. Dort ist in Nr. 6200 VV RVG auch eine Grundgebühr vorgesehen für das Disziplinarverfahren. Das VG Berlin hat sich nun im VG Berlin, Beschl. v. 29.06.2021 – 80 KE 1/21 OL – zum (mehrfachen) Anfall der Grudngebühr geäußert, und zwar auf der Grundlage folgenden Sachverhalts:

Beim VG war ein disziplinargerichtlichen Suspendierungsverfahren VG 8pp. anhängig. In dem hatte der von dem betroffenen Beamten beauftragte Rechtsanwalt einen Antrag auf Aussetzung der vorläufigen Dienstenthebung gestellt und der Einbehaltung von Bezügen gemäß § 63 BDG (i.V.m. § 41 DiszG) gestellt. Nachdem der Dienstherr des Beamten (Erinnerungsführer) die angefochtene Verfügung aufgehoben hat, erklärten die Beteiligten den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt. Die Kosten des Verfahrens wurden dem Erinnerungsführer auferlegt.

Auf Antrag des Beamten setzte die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle die zu erstattenden Kosten für das Verfahren VG 8pp. auf 869,42 EUR fest, wobei auch die vom Rechtsanwalt angesetzte Grundgebühr in Disziplinarverfahren nach Nr. 6200 VV RVG in Höhe von 350,- EUR nebst 16% Mehrwertsteuer berücksichtigt wurde. Gegen die Berücksichtigung der Grundgebühr ist Erinnerung eingelegt worden. Die Erinnerung hatte Erfolg:

„Die fristgemäß eingelegte Erinnerung (Antrag auf gerichtliche Entscheidung gegen den Kostenansatz, §§ 165, 151 VwGO) gegen die Berücksichtigung der Grundgebühr, über die im Rahmen seiner Annexzuständigkeit der Berichterstatter entscheidet, ist begründet.

Das dem Kostenfestsetzungsantrag zu Grunde liegende disziplinargerichtliche Antragsverfahren gemäß § 63 BDG – VG 8… -, um das es hier ausschließlich geht, ist wie das Verfahren gemäß § 62 BDG (Antrag auf Fristsetzung) ein im Rahmen des Disziplinarverfahrens „besonderes“ gerichtliches Verfahren (vgl. die amtliche Überschrift zu Kapitel 2, Abschnitt 2 des BDG – i.V.m. § 41 DiszG -). Es ist daher kostenmäßig richtig, dass hierfür eine gesonderte Verfahrensgebühr gemäß Nr. 6203 VV RVG für das gerichtliche Verfahren anfällt (vgl. zur Parallelkonstellation bei § 62 BDG: OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 21. Januar 2021 – OVG 6 K 68/20, juris Rn. 10 m.w.N.; vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 11. November 2009 – 2 AV 4/09 – juris Rn. 3). Die Grundgebühr gemäß Nr. 6200 VV RVG bezieht sich dagegen auf das Disziplinarverfahren als Ganzes; gemäß der Vorbemerkung 6.2 (1) VV RVG soll durch die jeweiligen Gebühren die gesamte Tätigkeit im Verfahren abgegolten werden. Eine Abrechnung der nur einmalig entstehenden Grundgebühr im gesonderten Antragsverfahren gemäß § 63 BDG kommt deshalb nicht in Betracht. Ihre Verteilung hat vielmehr der abschließenden Kostenentscheidung im Disziplinarverfahren selbst zu folgen (entweder im Rahmen der behördlichen Abschlussentscheidung oder durch das Gericht bei Erhebung einer Disziplinarklage oder Anfechtungsklage gegen die behördliche Abschlussverfügung). Ähnliches gilt im Übrigen für die Verfahrensgebühr im behördlichen Verfahren nach Nr. 6202 VV RVG. Auch mit dieser Gebühr wird die gesamte Tätigkeit des Rechtsanwalts im behördlichen Disziplinarverfahren abgegolten. Die Regelungen sollten an die entsprechende Gebührenstruktur in Strafsachen angepasst werden (BTDrs. 15/1971 Bl. 231). Gemäß Nr. 6202 Anmerkung (1) VV RVG kann lediglich für ein – in Berlin nicht vorgesehenes – Widerspruchsverfahren eine zusätzliche gesonderte Verfahrensgebühr erhoben werden; für die Wahrnehmung von Terminen im behördlichen Disziplinarverfahren ist eine gesonderte Terminsgebühr vorgesehen (Nr. 6201 VV RVG). Für Tätigkeiten des Rechtsanwalts im Zusammenhang mit einer vorläufigen Dienstenthebung oder teilweisen Einbehaltung von Dienstbezügen (§ 38 BDG bzw. § 38 DiszG) ist eine solche zusätzliche – behördliche – Verfahrensgebühr nach Nr. 6202 VV RVG dagegen nicht vorgesehen. Die Stellung bzw. Vorbereitung eines Antrags nach §§ 62, 63 BDG gehört daher noch zum Abgeltungsbereich der einheitlichen Verfahrensgebühr Nr. 6202 VV (Volpert in: Burhoff/Volpert, RVG Straf- und Bußgeldsachen, 6. Aufl. 2021, Nr. 6202 VV Rn. 20 und Nr. 6203 VV Rn. 8). Aus dieser Systematik folgt, dass der Rechtsanwalt auch die Grundgebühr nach Nr. 6200 VV RVG nur einmalig für das gesamte Disziplinarverfahren verlangen kann; sie kann dagegen nicht – auch nicht gesondert oder zusätzlich – im Rahmen des besonderen gerichtlichen Antragsverfahrens nach § 63 BDG geltend gemacht werden.“

Divers I: Aktivisten-Proteste anlässlich der IAA, oder: Waren die Ingewahrsahmnahmen rechtmäßig?

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Heute dann mal ein „Kessel Buntes“ in der Woche, also Diverses :-).

Ich beginne mit dem LG Landshut, Beschl. v. 09.09.2021 – 65 T 2529/21. Aus dem Aktenzeichen erkennt man schon: Der Beschluss hat nichts mit Straf- oder Bußgeldrecht zu tun. Das stimmt. Nun ja, vielleicht ein bisschen doch. Es geht nämlich um die Rechtmäßigkeit einer Inegwahrsamnahme in Zusammenhang mit den Demonstrationen gegen die IAA in München in der vergangenen Woche. Folgender Sachverhalt:

„Die Beschwerdeführerin wendet sich gegen die gerichtliche Bestätigung ihrer Ingewahrsamnahme am 08.09.2021.

Am 07.09.2021 gegen 08:13 Uhr befand sich die Beschwerdeführerin auf der Autobahnbrücke über die BAB 94, Abschnitt 260 S3.0, Kilometer 15.20 in Fahrtrichtung München. Gemeinsam mit drei anderen Personen befestigte sie dort ein Banner.

Gegen 08:50 Uhr seilte sie sich dann mittels Klettergurt vom Brückengeländer bis zu einem Punkt knapp unterhalb der Brückenkante von der Brücke ab. Die Füße befanden sich hierbei auf Höhe der Unterkante des Unterbaus der Brücke.

Gemeinsam mit der anderweitig Verfolgten beabsichtigte die Beschwerdeführerin ein

Banner mit der Aufschrift „Scheuer und Co auf der falschen Spur – ÖPNV statt Autobahnausbau“ an der Brücke zu befestigen. Hierzu kam es jedoch nicht mehr, weil zwischenzeitlich die Polizei eintraf. Die Beschwerdeführerin wollte hierdurch ihren Protest gegen die in München stattfindende IAA und den Ausbau der Autobahn zum Ausdruck bringen.

Die Beschwerdeführerin wurde von den Polizeibeamten mittels unmittelbarem Zwang von der Brücke heruntergeholt, in Gewahrsam genommen und gegen 12:15 Uhr zur Dienststelle der KPI Erding verbracht. .

Am 07.09.2021 um 18:00 Uhr wurde die Beschwerdeführerin beim Amtsgericht Erding vorgeführt und angehört (vgl. Bl. 26/27 d. A.).

Am Ende der Anhörung hat das Amtsgericht durch Beschluss die Zulässigkeit der Ingewahrsamnahme festgestellt und als Höchstdauer der Freiheitsentziehung den 12.09.2021, 18 Uhr bestimmt (vgl. Bl. 21/24 d. A.).“

Dagegen die Beschwerde, die beim LG Erfolg hatte. Das LG befasst sich zunächst mit der Frage, ob eine Nötigung (§ 240 StGB) vorliegt, lässt die Frage aber dann offen, weil es Unerlässlichkeit  der Maßnahme  verneint:

„bb) Diese Frage kann aber letztlich dahinstehen.

Denn eine Ingewahrsamnahme ist gem. Art. 17 Abs. 1 Nr. 2 PAG nur möglich, wenn sie unerlässlich ist, um die Fortsetzung oder Wiederholung der Straftat zu unterbinden. Zu dem Zeitpunkt, als die Polizei die Aktion unterbunden, die Kletterausrüstung sichergestellt, die Personalien auf der KPI erfasst hatte, war die Anordnung der Freiheitsentziehung nicht unerlässlich, um die Fortsetzung der Straftat zu verhindern.

Präventive Eingriffe in die Freiheit der Person sind nur zulässig, wenn der Schutz hochwertiger Rechtsgüter dies unter strikter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erfordert. Der Freiheitsanspruch des Betroffenen ist mit dem Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit im Einzelnen abzuwägen (BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats, NVwZ 2016, 1079 Rn. 25). Präventiver Gewahrsam zur Verhinderung einer Straftat kommt nur dann in Betracht, wenn der Betroffene sich unwillig gezeigt hat, die Straftat zu unterlassen und er ohne Ingewahrsamnahme auch noch die Möglichkeit hätte, diese Straftat zu begehen (BVerfG, NVwZ 2016, 1079 Rn. 35). Der Gewahrsam nach Art, 17 Abs. 1 Nr. 2 PAG kann stets nur ultima ratio sein.

Die Tatsache, dass die Betroffene zu einer Straftat angesetzt hatte, rechtfertigt für sich genommen noch keine Ingewahrsamnahme. Entscheidend ist vielmehr, ob mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zu erwarten war, dass die Betroffene – nachdem sie von der Polizei von der Brücke begleitet worden war und die Ausrüstung ihrer Gruppe beschlagnahmt worden war sowie die strafprozessualen Maßnahmen abgeschlossen waren – weitere Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten von erheblicher Gefahr für die Allgemeinheit begehen würde, insbesondere die bereits begangenen Taten erneut versuchen oder fortsetzen würden. Es lagen bei objektiver Betrachtung im Zeitpunkt der Beantragung der Ingewahrsamnahme keine hinreichenden tatsächlichen Anhaltspunkte dafür vor, dass die Begehung einer weiteren Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit von erheblicher Gefahr für die Allgemeinheit durch die Betroffene in allernächster Zeit mit einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit zu erwarten war.

Zum einen haben die Polizeibeamten bei den vor Ort angetroffenen Personen sämtliche Kletterausrüstung und Banner sichergestellt, so dass die Betroffene keine Möglichkeit mehr gehabt hätte, sich unmittelbar erneut am Ab-seilen von Personen zu beteiligen oder sich gar selbst abzuseilen. Das Transparent ist ebenfalls bei der gesondert Verfolgten pp. beschlagnahmt worden. Objektive Anhaltspunkte dafür, dass die Betroffene in der Nähe geparkt und dort weitere Ausrüstungsgegenstände und Transparente de-poniert hat, liegen nicht vor. Vor allem aber hatten die Aktivisten ihr offensichtliches Ziel, die Sperrung der Autobahn zu erreichen, das Transparent sichtbar anzubringen und auf diese Weise Aufmerksamkeit auf ihr Thema zu lenken und die Medien zu einer Berichterstattung zu veranlassen, zumindest in weiten Teilen erreicht. Die Aktion dürfte weitestgehend den damit verfolgten Zwecken und Erwartungen entsprochen haben. Bei dieser Sachlage bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass die Betroffenen die Aktion unmittelbar danach oder an den nächsten Tagen der IAA wiederholen würden. Zwar spricht die Ausstattung und die Parallelität der Abseilaktionen auch an anderen Autobahnabschnitten rund um München für eine geplante und konzertierte Aktion. Dass das Vorhaben von langer Hand und von mehreren Personen geplant wurde, lässt aber nicht den Schluss zu, dass es nach erfolgter Durchführung im Rahmen derselben Automesse wiederholt werden sollte. Eine solche wiederholende Aktion hätte wohl kaum die gleiche mediale Durchschlagskraft und würde in der Bevölkerung mit wenig Verständnis auf-genommen. Da es den Aktivisten offensichtlich auch darauf ankommt, die Bevölkerung für ihr Anliegen des Klimaschutzes zu sensibilisieren, sprechen erhebliche Anhaltspunkte dagegen, dass eine Wiederholung geplant ist. Selbst wenn durch die Organisatoren der Aktion eine Wiederholung geplant ist, ist keineswegs sicher, dass daran wieder die gleichen Personen wie am 07.09.2021 beteiligt wären.

Es kann der Akte ferner auch an keine Stelle entnommen werden, woher die Polizei ihre Erkenntnisse hatte, dass die Betroffene bereits in der Vergangenheit an gleichgelagerten Aktionen beteiligt gewesen sein sollte (vgl. Ver-merk vom 07.09., Bl. 4 d. A.).

Die Betroffene hat im Rahmen ihrer gerichtlichen Anhörung angegeben, dass sie im Falle seiner Freilassung nach Hause wolle und dort von ihrer Mutter erwartet wird, weil sie den Hund betreuen müsste. Die Rückreise habe sie mit der Bahn antreten wollen.

Die naheliegende Möglichkeit, dass der Betroffene keine weiteren illegalen Aktionen während der laufenden IAA geplant hat, kann daher nicht ausgeschlossen werden. Bei dieser Sachlage steht nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit fest, dass Wiederholungsgefahr besteht und die Unter-bindung dieser Wiederholung nur durch die Ingewahrsamnahme der Betroffenen bis zum Ende der IAA möglich ist. Der die Ingewahrsamnahme für zulässig erklärende und die Freiheitsentziehung bis zum 12.09.2021 ermöglichende Beschluss des Amtsgerichts war deshalb aufzuheben.

cc) Der gleiche Maßstab der Unerlässlichkeit gilt auch für den Gewahrsam zur Gefahrenabwehr für bestimmte bedeutende Rechtsgüter (Art. 17 Abs. 1 Nr. 3 PAG). Zwar gilt auch hier, dass aufgrund der Art und konkreten Durchführung der Aktion eine konkrete Gefahr für das Leben und die Gesundheit einer Vielzahl unbeteiligter Menschen geschaffen wurde. Auch hier gilt aber, dass nach dem durchgeführten Polizeieinsatz, dem Herabholen der Betroffenen und der anderen Aktivisten von der Brücke, der Sicherstellung der Ausrüstung und der Feststellung der Identität der Betroffenen eine weitere von ihr ausgehende konkrete Gefahr für Leben und Gesundheit anderer Menschen bestanden haben müsste. Dass dies aufgrund einer beabsichtigten Wiederholung der Fall war, steht aus den oben aufgeführten Gründen nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit fest. Auch wenn man berücksichtigt, dass die Anforderungen an die Wahrscheinlichkeitsprognose umso geringer sind, je größer die möglicherweise eintretende Gefahr ist, reichen die tatsächlichen Anhaltspunkte für die Annahme einer Wiederholung der Aktion oder Durchführung einer weiteren ähnlich gefährlichen gerade durch den Betroffenen während der laufenden IAA nicht aus.“

Das LG hat die Rechtsbeschwerde zugelassen. Wenn ich die bayerischen Polizeibehörden richtig einschätze, wird man dazu dann sicherlich demnächst noch etwas von „höherer Stelle“ hören.

Befangenheit im Asylverfahren, oder: Wenn der Richter „Migration für ein grundlegendes ….. Übel hält“.

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Heute dann zum Wochenschluss noch der Kessel-Buntes. In dem „schwimmen“ heute zwei Entscheidungen zur Besorgnis der Befangenheit, aber eben nicht im Straf- oder Bußgeldverfahren, sondern in anderen Verfahren.

Die erste Entscheidung zu dieser Thematik kommt mit dem BVerfG, Beschl. v. 09.07.2021 – 2 BvR 890/20 – vom BVerfG. In dem Verfahren hatte die Verfassungsbeschwerde gegen eine Entscheidung des VG Gießen Erfolg, durch die ein Ablehnungsgesuch wegen Besorgnis der Befangenheit gegen den zuständigen Einzelrichter in einem Asylverfahren für unbegründet erklärt worden war.

In dem verwaltungsgerichtlichen Verfahren war – so die PM des BVerfG – gegen einen negativen Asylbescheid geklagt worden. Der Kläger, ein Afgahne hatte den zuständigen Einzelrichter  wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt. Dies hat er auf ein Urteil des abgelehnten Richters in einem Verfahren gegen die behördliche Anordnung, bestimmte Wahlplakate der NPD zu entfernen gestützt; in dem Urteil waren allgemeine und sehr weit gehende Ausführungen zum Thema Migration enthalten. Die Kammer hatte das Ablehnungsgesuch zurückgewiesen. Nach Auffassung des BVerfH wurde damit gegen das Recht auf den gesetzlichen Richter aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verstoßen, weil die Ablehnung des Befangenheitsantrags offensichtlich unhaltbar und damit willkürlich war. Nach Darlegung der allgemeinen Grundsätze führt das BVerfG zur Sache aus:

„b) Hieran gemessen erweist sich die Ablehnung des Befangenheitsantrags des Beschwerdeführers durch den Beschluss des Verwaltungsgerichts Gießen vom 29. April 2020 als offensichtlich unhaltbar und damit willkürlich.

Das Verwaltungsgericht hat bei Anwendung der einfachrechtlichen Befangenheitsvorschriften in nicht mehr nachvollziehbarer Weise übergangen, dass sich das Gesuch des Beschwerdeführers nicht als Kritik an der Rechtsmeinung des abgelehnten Richters in der vom Beschwerdeführer in Bezug genommenen Entscheidung des Verwaltungsgerichts vom 9. August 2019 oder an der Beantwortung der – hier nicht entscheidungsbedürftigen – Rechtsfrage, ob der von der NPD verwendete Slogan den Tatbestand der Volksverhetzung erfüllt, darstellt, sondern dass der Beschwerdeführer die – allesamt nicht entscheidungstragenden – Ausführungen des Verwaltungsgerichts zur Migration zum Anlass für die Richterablehnung nimmt.

Diese Ausführungen im Urteil vom 9. August 2019 durften den Beschwerdeführer veranlassen, an der Unvoreingenommenheit des abgelehnten Richters zu zweifeln. Das gilt schon für die ausufernde historische Begründung für die Behauptung, Einwanderung stelle „naturgemäß eine Gefahr für kulturelle Werte an dem Ort dar, an dem die Einwanderung“ stattfinde, und den Verweis darauf, dass die bestehende „Gefahr für die deutsche Kultur und Rechtsordnung sowie menschliches Leben“ „nicht von der Hand zu weisen“ sei. In hervorgehobenem Maße gilt es auch für die Passagen der Urteilsbegründung, in denen das Verwaltungsgericht ausführt, es handele sich bei der Wendung „Migration tötet“ um eine empirisch zu beweisende Tatsache, und im Folgenden ihm vermeintlich bekannte Einzelfälle von Asylsuchenden anführt, die im Nachhinein wegen Mordes, anderer Tötungsdelikte oder sonstiger schwerer Straftaten verurteilt wurden. Diese Einzelfälle nimmt das Verwaltungsgericht sodann als Beleg dafür, dass Migration etwas mit Tod und Menschenverachtung zu tun haben könne und dass Zuwanderer durchaus in der Lage seien, Tötungsdelikte und Kapitalverbrechen in Deutschland zu begehen. Damit verengt das Verwaltungsgericht den weitergreifenden Begriff der Migration auf die Gruppe der Asylsuchenden – die indes auf dem zu beurteilenden Wahlplakat keine Erwähnung fand – und stellt aus dieser Gruppe die später mit schweren Straftaten straffällig gewordenen Personen als prägend nicht nur für die Gruppe der Asylsuchenden, sondern für den gesamten Bereich der Migration dar. Vor diesem Hintergrund kommt es zu der Wertung, dass für den Fall, dass der deutsche Staat „einmal in die Handlungsunfähigkeit abrutschen“ sollte, „das Recht zum Widerstand aus Art. 20 Abs. 4 GG ohnehin <griffe>“. Hinzu kommt schließlich der Umstand, dass die Ausführungen zum Anhörungsmangel im Urteil vom 9. August 2019 – die die Entscheidung für sich genommen tragen würden – nur etwa 15% der Urteilsgründe zur Unbegründetheit der Klage umfassen, während die vom Beschwerdeführer zur Begründung seiner Besorgnis der Befangenheit herangezogenen Passagen etwa 85% umfassen. Damit steht es dem genannten Urteil gleichsam auf die Stirn geschrieben, dass der Richter, der es abgefasst hat, Migration für ein grundlegendes, die Zukunft unseres Gemeinwesens bedrohendes Übel hält.

Die genannten und zahlreiche weitere Passagen waren offensichtlich geeignet, Misstrauen des Beschwerdeführers gegen die Unparteilichkeit des abgelehnten Richters zu begründen, insbesondere weil der Beschwerdeführer vor diesen Richter als ein Asylsuchender hätte treten müssen, der Anfang 2016 in das Bundesgebiet eingereist ist und sich daher als Teil jener „Zuwanderungsbewegung nach Deutschland ab dem Jahr 2014/2015“ angesprochen sehen durfte, die nach Auffassung des Verwaltungsgerichts im Urteil vom 9. August 2019 zu einer Veränderung innerhalb der Gesellschaft geführt habe, die sowohl zum Tode von Menschen geführt habe als auch geeignet sei, auf lange Sicht zum „Tod“ der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu führen. Das Verwaltungsgericht hat in dem angegriffenen Beschluss den Vortrag des Beschwerdeführers zu diesen Aspekten in sachlich nicht mehr nachvollziehbarer Verkennung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG fehlgewichtet.

Der Umstand, dass das Verwaltungsgericht durch den vom Beschwerdeführer abgelehnten Richter inzwischen der Klage des Beschwerdeführers teilweise – soweit die Klage auf Verpflichtung zur Zuerkennung subsidiären Schutzes gerichtet ist – stattgegeben hat, steht dem nicht entgegen. Maßgeblich für die Entscheidung über den Befangenheitsantrag ist die Lage, wie sie sich im Entscheidungszeitpunkt, also vor der Sachentscheidung, darstellt. Im Übrigen ist das Urteil zwar hinsichtlich der Zuerkennung subsidiären Schutzes rechtskräftig geworden, da insoweit kein Rechtsmittel eingelegt worden ist. Soweit die Klage indes abgewiesen worden ist, beruht dies auf der Entscheidung eines Richters, dessen Verhalten begründeten Anlass zur Besorgnis der Befangenheit gegeben hat. In diesem Umfang ist das Verfahren noch beim Verwaltungsgerichtshof anhängig und bedarf der Entscheidung unter Wahrung der Gewährleistung aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG……“