Archiv der Kategorie: Ermittlungsverfahren

Verkehrsrecht III: Körperverletzung durch einen Unfall, oder: Gericht ist nicht der „Libero der Anklagebehörde”

Und zum Abschluss des Tages hier dann noch der AG Reutlingen, Beschl. v.  07.10.2022 – 5 Cs 29 Js 20198/22. Das AG hat mit dem Beschluss den Erlass eines Strafbefehls abgelehnt. Es sieht die Voraussetzungen für den Nachweis einer fahrlässigen Körperverletzung (§ 229 StGB) infolge eines Verkehrsunfalls als nicht gegeben an. Der Nachweis sei mit den vorliegenden Beweisn nicht zu führen.

In dem Zusammenhang führt das AG im Hinblick auf eine Pflicht zur Nachermittlungen im Zwischenverfahren aus:

„2. Die bei der Akte befindlichen Lichtbilder lassen nicht ansatzweise auf eine besonders heftige biomechanische Belastung schließen. Im Gegenteil: Der Unfallhergang selbst wird von den unfallaufnehmenden Beamt*innen als „unklar“ beschrieben. Der knappen Unfallaufnahme können kaum irgendwelche Anknüpfungstatsachen entnommen werden, die eine unfallanalytische Beweisaufnahme überhaupt ermöglichten. Die mit dem diagnostizierten Verletzungsbild einhergehenden medizinischen Herausforderungen blieben im Ermittlungsverfahren ebenfalls unbedacht.

a) Es besteht für das Amtsgericht auch keine Rechtspflicht nach § 202 StPO, durch eigene (umfangreiche) Ermittlungen im Zwischenverfahren die Grundlage für den hinreichenden Tatverdacht erst noch zu schaffen. Nach dem Wortlaut des Gesetzes stehen Ermittlungen im Zwischenverfahren im Ermessen des Gerichts. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es sich bei den in § 202 StPO benannten Beweiserhebungen um solche zur einzelnen Ergänzung oder Überprüfung eines im Ermittlungsverfahren grundsätzlich bereits aufgeklärten Sachverhalts handelt. Für Ermittlungen nach § 202 StPO ist dann kein Raum, wenn erst durch eine Ermittlungsanordnung des Gerichts ein hinreichender Tatverdacht geschaffen werden muss (vgl. LG Köln — Beschluss vom 16. November 2011- 110 Qs 19/11).

Das Gericht ist nämlich nicht der „Libero der Anklagebehörde” (KK-Schneider, 7. Aufl. 2013, § 202 StPO Rn. 3; LG Köln — 111 Qs 497/09).

Im Zwischenverfahren kommen eingedenk der strukturellen Aufgabenverteilung zwischen Staatsanwaltschaft und Gericht nur einzelne ergänzende richterlich veranlasste Beweiserhebungen in Betracht. Ermittlungen größeren Umfangs zur Komplettierung des von der Staatsanwaltschaft unzulänglich belegten Anklagevorwurfs sind gesetzlich nicht vorgesehen (KK-Schneider, 7. Aufl. 2013, § 202 StPO Rn. 2; OLG Karlsruhe wistra 2004, 276, 279; OLG Saarbrücken NStZ-RR 2009, 88; OLG Celle StV 2012, 456, 457; LG Berlin NStZ 2003, 504 mit Anm. NStZ 2003, 568; Meyer-Goßner, § 202 Rn 1; Stuckenberg LR Rn 3; Radtke/Hohmann/Reinhart Rn 1; Eisenberg JZ 2011, 672; Beulke Rn 355). Gleichermaßen unstatthaft sind umfangreiche Beweisaufnahmen wie etwa die Vernehmung zentraler Zeugen zur Vorabklärung der Belastbarkeit ihrer Angaben; hierin läge ein von Rechts wegen nicht vorgesehener Vorgriff auf die Hauptverhandlung (Paeffgen SK StPO Rn. 3; Stuckenberg LR Rn. 2).

Das gilt hier umso mehr, als die Einholung zweier Sachverständigengutachtens notwendig wäre (hierzu: Balke: Medizinische Begutachtung in der Verkehrsunfallregulierung, SVR 2019, 246 m.w.N.).

….“

StPO III: Angeklagter hat Wohnsitz im EU-Ausland, oder: Zustellung an Zustellungsbevollmächtigten unwirksam

entnommen wikimedia.org

Und im dritten Posting des Tages dann noch etwas vom LG Heilbronn. Es geht um die Wirksamkeit der Zustellung eines Strafbefehls.

Die Staatsanwaltschaft führt seit Januar 2021 ein Strafverfahren gegen den Angeklagten wegen des Verdachts des unerlaubten Entfernens vom Unfallort gegen den Angeklagten. Im Zuge dessen benannte der Angeklagte am 24.01.2021 im Rahmen einer „Niederschrift über eine Sicherheitsleistung“ eine „Frau T., U-Str., AG S.“ als Zustellungsbevollmächtigte für den Gerichtsbezirk S. Wegen der Einzelheiten der „Benennung“ verweise ich auf den verlinkten Volltext.

Auf Antrag der Staatsanwaltschaft erläßt das AG dann am 17.04. 2021 einen Strafbefehl über ein am 24. 01.2021 vom Angeklagten begangenes unerlaubtes Entfernen vom Unfallort. Am selben Tag verfügte der zuständige Richter die Zustellung des Strafbefehls in russischer und lettischer Sprache an die Zustellungsbevollmächtigte, die den Empfang der übersetzten Strafbefehle am 04.06.2021 für beide Sprachen bestätigte.

Am 24.06.2021 legitimierte sich die Verteidigerin und erhob zugleich Einspruch gegen den Strafbefehl. Nach erhaltener Akteneinsicht beantragte die Verteidigerin durch Schreiben vom 02.07.2021 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Zugleich erhob sie nochmals Einspruch gegen den Strafbefehl. Die Staatsanwaltschaft beantragte daraufhin am 02.09.2021, dem Angeklagten unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs im Urteil vom 14.05.2020 (Aktenzeichen C-615/18) Wiedereinsetzung zu gewähren. Mehrere daraufhin verfasste Sachstandsanfragen von Staatsanwaltschaft „(vom 13. Oktober 2021, 11. November 2021, 13. Januar 2022, 10. Februar 2022 und 09. März 2022) und der Verteidigerin (vom 24. September 2021) blieben vom Gericht ohne nennenswerte Reaktion. Erst am 2. März 2022 wurde die „Akte im Schrank beim Richter lose aufgefunden“. Auf weitere Anfragen der Staatsanwaltschaft vom 13. April 2022 und 20. April 2022 per Email erging letztlich am 23. Mai 2022 die angefochtene Entscheidung, mit der der Einspruch des Angeklagten als auch dessen Wiedereinsetzungsantrag als unzulässig verworfen wurden. Dieser Beschluss wurde der Zustellungsbevollmächtigten am 24. Mai 2022 und der Verteidigerin am 15. Juni 2022 zugestellt.

Mit Schreiben hat die Verteidigerin sofortige Beschwerde eingelegt und hatte damit beim LG mit dem LG Heilbronn, Beschl. v. 14.11.2022 – 2 Qs 91/22 – Erfolg

„Die sofortige Beschwerde ist nach §§ 411 Abs. 1, 46 Abs. 3, 311 Abs. 2 StPO zulässig und in der Sache erfolgreich. Der Einspruch des Angeklagten gegen den Strafbefehl des Amtsgerichts S. vom 17. April 2021 ist mangels wirksamer Zustellung desselben nicht verfristet, sodass es auf eine Wiedereinsetzung vorliegend nicht ankommt.

1. Eine wirksame Zustellung des Strafbefehls an einen Zustellungsbevollmächtigten wäre nach § 132 StPO zur Sicherung der Durchführung des Strafverfahrens dann möglich, wenn der Beschuldigte, der einer Straftat dringend verdächtig ist, im Geltungsbereich dieses Gesetzes keinen festen Wohnsitz oder Aufenthalt hat, aber die Voraussetzungen eines Haftbefehls nicht vorliegen. Zuständig für diese Anordnung, die ausweislich der Niederschrift von Amtsanwältin H. angeordnet wurde, ist nach § 132 Abs. 2 StPO indes der Ermittlungsrichter, nur bei Gefahr im Verzuge sind auch die Staatsanwaltschaft und ihre Ermittlungspersonen (§ 152 des Gerichtsverfassungsgesetzes) hierfür zuständig. Der Akte lässt sich nicht ansatzweise entnehmen, aus welchem Grund eine Eilzuständigkeit vorgelegen haben soll. Überdies ist weder ersichtlich, ob der gemäß § 162 Abs. 1 StPO zuständige Richter kontaktiert wurde bzw. aus welchem Grund dies unterlassen wurde. In Betracht käme hierbei beispielsweise, dass der Beschuldigte nicht gegen seinen Willen festgehalten werden kann und daher die mit Verzögerungen verbundene richterliche Anordnung meist zu spät käme (KK-StPO/Schultheis, 8. Aufl. 2019, StPO § 132 Rn. 7). Die Anordnung der Bestellung eines Zustellungsbevollmächtigten durch die Staatsanwaltschaft ist daher rechtswidrig und hat die Unwirksamkeit einer späteren Zustellung an den Bevollmächtigten zur Folge (LG Dresden NStZ-RR 2013, 286), weil sie auf einer groben Verkennung der Voraussetzungen des Richtervorbehalts beruht (KK-StPO/Schultheis, 8. Aufl. 2019, StPO § 132 Rn. 7).

2. Der Einspruch des Angeklagten wäre darüber hinaus aufgrund der Vorgaben der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs auch nicht verfristet.

Aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in der Rechtssache C-615/18 (UY) ergibt sich, dass die im Recht der Mitgliedstaaten festgelegten Modalitäten der Unterrichtung über den Tatvorwurf nicht das unter anderem mit Art. 6 der RL 2012/13 verfolgte Ziel beeinträchtigen dürfen, das, wie sich auch aus dem 27. Erwägungsgrund der Richtlinie ergibt, darin besteht, Personen, die der Begehung einer Straftat verdächtigt oder beschuldigt werden, die Vorbereitung ihrer Verteidigung zu ermöglichen und ein faires Verfahren zu gewährleisten (EuGH, Urteil vom 14.05.2020 – C-615/18 (UY) Rn. 49 m.w.N.). Dieses Ziel verlangt jedoch ebenso wie die Notwendigkeit der Vermeidung jeder Diskriminierung zwischen den im Anwendungsbereich des betreffenden nationalen Gesetzes wohnhaften Beschuldigten und den nicht dort wohnhaften Beschuldigten, die allein verpflichtet sind, für die Zustellung gerichtlicher Entscheidungen einen Bevollmächtigten zu benennen, dass der Beschuldigte über die volle Frist von zwei Wochen verfügt, um gegen einen Strafbefehl wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Einspruch einzulegen (EuGH a.a.O., Rn. 50, m.w.N.). Daher muss der Beschuldigte ab dem Zeitpunkt, zu dem er von einem solchen Strafbefehl tatsächlich Kenntnis erlangt hat, so weit wie möglich in die gleiche Lage versetzt werden, als sei ihm der Strafbefehl persönlich zugestellt worden, und er muss insbesondere über die volle Einspruchsfrist verfügen (EuGH a.a.O., Rn. 51). Mit dem Grundsatz des fairen Verfahrens ist es nicht zu vereinbaren, den Angeklagten auf die Möglichkeit einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu verweisen, da in diesem Fall die zweiwöchige Einspruchsfrist in eine einwöchige Frist zur Anbringung eines Wiedereinsetzungsantrags halbiert würde. Die mit einem Wiedereinsetzungsantrag verbundenen Nachweispflichten sind ebensowenig mit den Anforderungen vereinbar, die sich aus Art. 6 der RL 2012/13 ergeben (EuGH a.a.O., Rn. 55 und 57).

Soll die unmittelbare Richtlinienwirkung bei fehlender oder – wie vorliegend gegeben – mangelhafter Umsetzung tatsächlich zum Zuge kommen, muss ein umfassender Anwendungsvorrang des Unionsrechts bestehen (Frenz, Handbuch Europarecht Band V, § 4 Rn. 1131, 1133 m.w.N.). Die Pflicht, entgegenstehende nationale Vorschriften unangewendet zu lassen, besteht zudem unabhängig von der Evidenz des Verstoßes gegen das Europarecht (Burger DVBl. 2011, 985 (988)). Da dem Angeklagten nach deutschem Recht (§ 410 Abs. 1 StPO) eine Frist von zwei Wochen zugebilligt wird, binnen derer er schriftlich oder zu Protokoll der Geschäftsstelle Einspruch einlegen kann, muss aufgrund des Vorrangs des Europarechts eben diese – im Gegensatz zum Wiedereinsetzungsverfahren – an keinerlei besondere Nachweispflichten gekoppelte Einspruchseinlegung auch für den Beschuldigten bis zu zwei Wochen nach seiner Kenntnisnahme von dem Strafbefehl möglich sein. Er darf aufgrund der Darlegungs- und Nachweiserfordernisse sowie der kürzeren Frist nicht auf die Möglichkeit eines Wiedereinsetzungsantrags verwiesen werden.

Bei Anwendung dieser Maßstäbe ist von einer fristgerechten Einspruchseinlegung auszugehen. Da ein konkreter Zugangsnachweis an den Beschuldigten nicht vorhanden ist und dieser (deshalb unwiderlegbar) vorgetragen hat, erst am 22. Juni 2021 Kenntnis von dem Strafbefehl erhalten zu haben, erfolgte die bereits 2 Tage später am 24. Juni 2021 erfolgte Einspruchseinlegung innerhalb der zweiwöchigen Frist des § 410 Abs. 1 StPO.

3. Die Kammer regt aufgrund der erheblich verzögerten Bearbeitung des Verfahrens durch das Amtsgericht S. an, eine Einstellung des Verfahrens nach § 153a StPO in Erwägung zu ziehen.“

Termin II: Ermessensausübung beim Terminieren, oder: Anspruch auf den Verteidiger des Vertrauens

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In der zweiten Entscheidung, dem OLG Stuttgart, Beschl. v. 14.09.2022 – 4 Ws 403/22 – geht es um Terminierungsfragen und die Ausübung des Vorsitzendenermessen bei der Terminierung.

Ergangen ist der Beschluss in einem gegen den Angeklagten pp. sowie gegen zwei weitere Angeklagte laufenden Verfahrens wegen des Verdachts des bewaffneten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge u. a. geführt. Das LG hat nach Eingang Anklageschrift am 29.07.2022 mit der Pflichtverteidigerin des Angeklagten, Rechtsanwältin E sowie mit den Verteidigern der beiden Mitangeklagten mögliche Hauptverhandlungstermine abgestimmt.

Vor dem Eingang der Anklageschrift beim LG hatte sich am 25.07.2022 Rechtsanwalt B. gegenüber der Staatsanwaltschaft für den Angeklagten pp. legitimiert und Akteneinsicht beantragt. Eine Weiterleitung des Schriftsatzes an das LG im Nachgang zur Anklage durch die Staatsanwaltschaft ist nicht erfolgt. Auch wurden weder Rechtsanwalt B. noch der Angeklagte auf die bereits erhobene Anklage hingewiesen. Infolgedessen blieb Rechtsanwalt B. bei der Abstimmung der möglichen Hauptverhandlungstermine mit den Verfahrensbeteiligten unberücksichtigt.

Mit Verfügung vom 22.08.2022 hat der Vorsitzende für den Fall der Eröffnung des Hauptverfahrens Hauptverhandlungstermine auf den 8. , 14. und 17.11. sowie weitere Fortsetzungstermine bestimmt. Tags darauf hat sich Rechtsanwalt B. telefonisch an die Geschäftsstelle des Landgerichts gewandt und in der Folge per Fax seine verfügbaren Termine übermittelt. Am 24.08.2022 hat der Vorsitzende Rechtsanwalt B. mitteilen lassen, dass die Kammer für den Fall der Eröffnung des Hauptverfahrens bereits vor dem Erhalt seines Schreibens vom Vortag Termine bestimmt habe. Sein Legitimationsschreiben habe sich nicht bei der Akte befunden. Ebenfalls am 24.08.2022 hat das LG die Anklage zur Hauptverhandlung zugelassen.

Gegen die Terminsverfügung des Vorsitzenden hat der Angeklagte Beschwerde eingelegt. Die hatte beim OLG Erfolg. Das OLG sieht die Beschwerde als zulässig an – insoweit bitte selbst lesen. Zur Begründung führt es aus:

„2. Die Beschwerde ist auch begründet. Der Vorsitzende hat das ihm im Rahmen der Terminierung zustehende Ermessen nicht ausgeübt. Die Terminsverfügung ist deshalb rechtsfehlerhaft.

a) Zwar liegt die Terminshoheit beim Vorsitzenden (§ 213 StPO). Sowohl der Angeklagte als auch der Verteidiger haben keinen allgemeinen Rechtsanspruch auf die Anberaumung eines „Wunschtermins“, und aus seinem Recht, sich in einem Strafverfahren von einem Rechtsanwalt seines Vertrauens verteidigen zu lassen, folgt auch nicht, dass bei jeder Ver-hinderung des gewählten Verteidigers eine Hauptverhandlung gegen den Angeklagten nicht durchgeführt werden könnte (BGH, NStZ 2007, 163, 164). Der Angeklagte hat im Falle einer Verhinderung seines Verteidigers auch kein Recht, die Aussetzung einer Hauptverhandlung zu verlangen (§ 228 Abs. 2 StPO). Die Entscheidung des Vorsitzenden ist überdies nur eingeschränkt dahingehend überprüfbar, ob die rechtlichen Grenzen des ihm eingeräumten Ermessens eingehalten und ob das ihm zustehende Ermessen rechtsfehlerfrei ausgeübt wurde.

b) Eine rechtsfehlerfreie Ermessensausübung setzt voraus, dass der Vorsitzende neben der Belastung des Gerichts auch berechtigte Wünsche der Prozessbeteiligten, insbesondere des Verteidigers, berücksichtigt. Insbesondere muss er sich ernsthaft bemühen, dem Recht des Angeklagten, sich von einem Rechtsanwalt seines Vertrauens vertreten zu lassen (Art. 6 Abs. 3c EMRK, § 137 Abs. 1 Satz 1 StPO), soweit wie möglich Geltung zu verschaffen und einem nachvollziehbaren Begehren dieses Verteidigers bezüglich der Terminierung im Rahmen der zeitlichen Möglichkeiten der Strafkammer und anderer Verfahrensbeteiligter sowie des Gebots der Verfahrensbeschleunigung Rechnung zu tragen (BGH, Beschluss vom 21. März 2018 — 1 StR 415/17).

Von dieser Verpflichtung wurde der Vorsitzende vorliegend nicht deshalb frei, weil der Angeklagte in der Hauptverhandlung durch seine Pflichtverteidigerin vertreten sein wird. Die terminliche Verfügbarkeit von Rechtsanwalt B, ist deshalb nicht irrelevant, zumal dessen Mandatierung als Wahlverteidiger auch Anlass gibt, eine Aufhebung der Bestellung gemäß § 143a Abs. 1 Satz 1 StPO zu prüfen.

c) Ein derartiges Bemühen des Vorsitzenden ist vorliegend weder bei der Bestimmung der Hauptverhandlungstermine noch hinsichtlich des nachfolgenden Schreibens von Rechtsanwalt B. noch im Rahmen der Entscheidung über die Nichtabhilfe ersichtlich. Auch erscheint eine anderweitige Terminierung nicht von vornherein ausgeschlossen, nachdem die übrigen Verteidiger an den von Rechtsanwalt B. vorgeschlagenen Hauptverhandlungsterminen jedenfalls nicht allesamt und nicht durchgängig verhindert sind.

aa) Dabei hat der Senat nicht übersehen, dass die Verhinderungen von Rechtsanwalt B. bei der Anberaumung der Hauptverhandlungstermine vom Vorsitzenden nicht berücksichtigt werden konnte, da ihm der Legitimierungsschriftsatz vom 25. Juli 2022 zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht vorlag und eine ordnungsgemäße Ermessensausübung schon deshalb nicht möglich war. Dies ist indes weder dem Angeklagten noch Rechtsanwalt B, der von der zwischenzeitlich erfolgten Erhebung der Anklage keine Kenntnis hatte und seine Verteidigungsanzeige deshalb zwingend an die Staatsanwaltschaft richten musste, anzulasten.

Vielmehr hätte es der Staatsanwaltschaft oblegen, die Verteidigungsanzeige im Nachgang zur Anklageschrift unmittelbar an das Landgericht weiterzuleiten. Dies ist aus ersichtlich nicht vom Angeklagten oder dessen Verteidigung zu vertretenden Gründen nicht erfolgt. Auch bestand ersichtlich keine Verpflichtung für Rechtsanwältin E. die Strafkammer von der Mandatierung eines zweiten Verteidigers zu informieren und so das Versäumnis der Staatsanwaltschaft auszugleichen.

bb) Es ist jedoch auch nicht erkennbar, dass die berechtigten Belange des Angeklagten im Hinblick auf eine Vertretung (auch) durch Rechtsanwalt B. in der Hauptverhandlung im weiteren Verlauf des Verfahrens oder im Rahmen der Nichtabhilfeentscheidung Berücksichtigung gefunden hätten. Stattdessen wird dort lediglich ausgeführt, dass eine nachträgliche Berücksichtigung der von Rechtsanwalt B. mitgeteilten freien Termine nicht möglich gewesen wäre und die Sache eilbedürftig sei, obwohl die Hauptverhandlung erst in knapp zwei Monaten beginnen soll. Ein deutlich früherer Beginn wurde nicht erwogen, bei den Verteidigern wurden Termine erst ab dem 31. Oktober 2022 abgefragt.

Zudem hätten etwa am 7. November 2022 sämtliche Verteidiger zur Verfügung gestanden, Rechtsanwältin E. und Rechtsanwalt U jeweils ganztags, Rechtsanwalt K zumindest vormittags. Dennoch ist nicht ersichtlich, dass eine anderweitige Terminierung auch nur erwogen wurde, eine Ermessensausübung fand weiterhin nicht statt. Dies zwingt zur Aufhebung der Terminsverfügung im Umfang der Anfechtung.

3. Für das weitere Verfahren weist der Senat darauf hin, dass der Vorsitzende trotz der nunmehr erfolgten Terminsaufhebungen nicht gezwungen ist, mit der Hauptverhandlung erst Ende November oder gar zu einem noch späteren Zeitpunkt zu beginnen. Auch ist es aufgrund der Entscheidung des Senats nicht von vornherein ausgeschlossen, erneut Hauptverhandlungstermine auf den 8., 14. und 17. November 2022 anzuberaumen.

Denn der Vorsitzende ist lediglich gehalten, sich nach Kräften zu bemühen, eine Verteidigung aller Angeklagter durch die jeweils von ihnen gewünschten Verteidiger zu gewährleisten. Sollte es trotz solcher – bislang gegenüber Rechtsanwalt B. nicht erfolgter – Bemühungen nicht gelingen, Terminkollisionen zu beheben und Alternativtermine abzustimmen, an denen alle vier an dem Verfahren beteiligten Verteidiger zur Verfügung stehen, ohne dass dies zu Verfahrensverzögerungen führen würde, wird im Rahmen der Ermessensausübung insbesondere das Beschleunigungsgebot zu berücksichtigen sein. Dieses steht nicht zur Disposition des Angeklagten (OLG Stuttgart, NStZ 2016, 436). Insoweit wird der Vorsitzende auch bemüht sein — sollte der Senat nach Abschluss der noch ausstehenden Haftprüfung gemäß § 121 Abs. 1, § 122 StPO Haftfortdauer anordnen — eine nochmalige Vorlage nach neun Monaten Untersuchungshaft zu vermeiden.

Darüber hinaus kann im Rahmen der Ermessensausübung berücksichtigt werden, ob an den in Betracht kommenden Hauptverhandlungstagen bei mehreren Verteidigern Terminkollisionen vorliegen oder etwa nur bei einem Verteidiger, zumal wenn dessen Mandant anderweitig anwaltlich vertreten ist.

Soweit an möglichen Terminstagen bereits anderweitige, ebenfalls dem Beschleunigungs-gebot unterliegenden Haftsachen anberaumt sind, kann dies im Rahmen der Ermessens-ausübung ebenfalls in die Erwägungen einbezogen werden.“

Irgendwie hat man den Eindruck, dass der Vorsitzende „nicht so richtig wollte“, wie es das OLG gern gesehen hätte.

StPO III: Und nochmals/wieder das Encro-Chat-Problem, oder: Das LG Frankfurt/Oder „neigt zu“..

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Und zum Schluss des Tages dann noch einmal etwas zu Encro-Chat, dem verfahrensrechtlichen Dauerbrenner, der ja . wenn die Akten schon da sind – wegen der Vorlage durch das LG Berlin (vgl. LG Berlin, Beschl. v. 19.10.2022 – (525 KLs) 279 Js 30/22 (8/22) inzwischen auch den EuGH beschäftigt. Man kann nur hoffen, dass der bald entscheidet, damit endlich – so oder so – Klarheit herrscht.

Inzwischen habe ich von der Kollegin Dr. Matthies, aus Frankfurt (Oder) den LG Frankfurt/Oder, Beschl. v. 27.10.2022 – 24 Qs 80/22 – zugeschickt bekommen. Er ist in einem Encro-Chat-Verfahren – Vorwurf Verstoß gegen § 29a BtMG – im Rahmen einer Haftbeschwerde ergangen. Das LG hat einen vom AG ergangenen Haftbefehl aufgehoben, weil kein dringender Tatverdacht vorliege. Das begründet das LG anhand der Erkenntnisse aus den Encro-Chats.

In einem „obiter dictum“ nimmt das LG dann allgemein zur Verwertbarkeit von Encro-Chat-Erkenntnissen Stellung:

„Kam es somit, wie gezeigt, auf die Verwertbarkeit der sogenannten Encro-Chat-Daten nicht an, dürfte sich nach Auffassung der Kammer im Rahmen der weiteren Ermittlungen kein hinreichender oder gar dringender Tatverdacht gegen den Beschuldigten erbringen lassen, soweit dieser-lediglich-aus Erkenntnissen aus den sogenannten Encro-Chats bestehen sollte.

Die Kammer neigt dazu, sich im Falle der Entscheidungserheblichkeit der Auffassung des Landgerichts Berlin [( 525 Kls) 254 Js 592/20 [10/21] und der wohl herrschenden Meinung in der Literatur (vgl. Derin/Singelnstein, NStZ 2021, 449; dies., StV 2022, 130; Erhard/Lödden, StraFo 2021, 366; Gebhard/Michalke, NJW 2022, 655; Nadeborn/Albrecht, NZWiSt 2021, 420; Sommer, StV Spezial 2021, 67) anzuschließen und von einer Unverwertbarkeit der Encro-Chats auszugehen.

Einer Darstellung der Vielzahl der gegen die Verwertung der Daten sprechenden Gründe bedarf es im Rahmen eines obiter dictum nicht.

Allerdings dürfte dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, Art. 82 Abs. 1 AEUV, der auf dem gegenseitigen Vertrauen der Mitgliedstaaten darauf, dass ihre jeweiligen nationalen Rechtsordnungen in der Lage sind, einen gleichwertigen und wirksamen Schutz der auf Unionsebene und insbesondere in der Charta anerkannten Grundrechte zu bieten, der Boden entzogen sein, wenn französische Gerichte nun zu dem Ergebnis kommen, dass die Beweiserhebung illegal war.

Eine solche Entwicklung scheint sich abzuzeichnen: In seiner Entscheidung vom 11.10.2022 hat der französische Kassationsgerichtshof in der Sache Nr. 21-85.148 festgestellt, dass die Vorlage einer sogenannten Aufrichtigkeitsbescheinigung der gesammelten Encro-Chat-Daten eine zwingende Bedingung für die Gültigkeit der Maßnahme ist und-da offenkundig eine solche Bescheinigung nicht vorliegt-das Urteil aufgehoben und an eine andere Kammer in Metz zurückverwiesen. Der Kassationsgerichtshof hat dabei festgestellt, dass die Encrochat-Daten ohne eine solche Aufrichtigkeitsbescheinigung illegal und unzulässig sind.

Sollten im Ergebnis die französischen Gerichte die eigenen Entscheidungen bezüglich der Erhebung der Daten aufheben, liegt es auf der Hand, dass diese Daten auch im deutschen Strafverfahren nicht verwertet werden können.“

Also ein sog. Neigungsbeschluss 🙂 .

Kleiner Hinweis für die Leser des Volltextes: Das ist leider etwas mühsam wegen der vielen Anonymisierungen. Ich hoffe zudem, ich habe beim Übertragen keinen Fehler gemacht. Aber letztlich kommt es darauf hier ja auch nicht an.

StPO II: Vage Umstände und Auskunftsverweigerung, oder: „Man möchte heiraten“ = Verlöbnis?

entnommen openclipart.org

In der zweiten Entscheidung dem KG, Beschl. v. 11.07.2022 – 3 Ws 176/22 – 121 AR 134/22 – geht es um die Voraussetzungen eines Auskunftsverweigerungsrechts wegen einer früheren Aussage.

Ergangen ist die Entscheidung in einem Haftbeschwerdeverfahren. Dem Angeklagten wird vorgeworfen,  gemeinschaftlich mit einem gesondert verfolgten und bereits abgeurteilten D. ein Vergehen der gefährlichen Körperverletzung zum Nachteil des C. begangen zu haben. Wegen dieses Vorwurfs ist Haftbefehl ergangen. Gegen den hat der Angeklagte Haftbeschwerde eingelegt. Das KG äußert sich im Rahmen seiner Ausführungen zum dringenden Tatverdacht zum Auskunftsverweigerungsrecht (§ 55 StPO) und Zeugnisverweigerungsrecht (§ 52 StPO) einer Zeugin:

„1. Der Angeklagte ist der vorgeworfenen Tat dringend verdächtig.

Nach dem gegenwärtigen Verfahrensstand ist noch davon auszugehen, dass der Angeklagte durch seine frühere Lebensgefährtin X. belastet wird. Die Zeugin hatte zunächst von einem (angeblich bestehenden) Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch gemacht, den Angeklagten aber schwer belastet, nachdem sie von diesem mit dem Tode bedroht worden war. Die hierbei geäußerten Bekundungen waren detailreich und nach vorläufiger Würdigung überzeugend und glaubhaft. Wegen des Inhalts der Zeugenaussage und ihrer Bewertung wird auf den dem Beschwerdeführer bekannten Senatsbeschluss vom 2. Mai 2022 (3 Ws 101/22) verwiesen.

Die Erklärung, die Rechtsanwalt B. unter dem 31. Mai 2022 als Bevollmächtigter der Zeugin abgegeben hat, ändert an dieser Bewertung nichts.

a) Unbehelflich ist zunächst die Ankündigung, die Zeugin werde vom Auskunftsverweigerungsrecht des § 55 StPO Gebrauch machen, weil der Rechtsanwalt „nicht ausschließen“ könne, „dass Frau X. in ihrer polizeilichen Vernehmung am 15. März 2022 nicht die Wahrheit mitgeteilt hat“.

Diese vagen Ausführungen sind ungeeignet, dem Senat die Überzeugung zu verschaffen, die Zeugin dürfe die Auskunft nach § 55 Abs. 1 StPO verweigern. Denn bloße, nicht durch konkrete Umstände belegte Vermutungen oder die rein denktheoretische Möglichkeit, eine frühere Aussage könne falsch gewesen sein, begründen keinen prozessual ausreichenden Anfangsverdacht für eine strafbare Handlung und folglich auch kein Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO (vgl. BGH NStZ 1999, 415; OLG Hamm NStZ-RR 2015, 49; OLG Köln, Beschluss vom 4. März 2013 – 3 Ws 120/13 -, Beschluss 2013, 8021; OLG Koblenz, StV 1986, 474). Anderenfalls hätte es jeder Zeuge, der einen anderen zunächst be- oder entlastet hat, in der Hand, allein mit dem bloßen Einwand, die ursprüngliche Aussage könnte falsch gewesen sein, jede weitere Auskunft zu verweigern (vgl. Bader in Karlsruher Kommentar, StPO 8. Aufl., § 55 Rn. 9 [unter Hinweis auf BGH NStZ 1999, 415]). Die Aussage vom 15. März 2022, auf welche sich der Rechtsanwalt ausdrücklich bezieht, hat auch nur eine Stoßrichtung, sie belastet den Beschwerdeführer. Keineswegs macht der Rechtsanwalt geltend, die Zeugin habe sich angesichts sich widersprechender Aussagen notwendigerweise strafbar gemacht, weshalb sie nun gar nicht anders agieren könne, als sich zu belasten.

Prägnant und anschaulich formuliert die Staatsanwaltschaft in ihrer Stellungnahme auch, dass sich „die Angaben der Zeugin X. derart in das Ergebnis der Ermittlungen“ einfügen, „dass derzeit keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Zeugin ein Auskunftsverweigerungsrecht gemäß § 55 StPO zusteht“. Dem folgt der Senat.

b) Auch die Ankündigung des (Interessen-) Vertreters der Zeugin, diese werde ein „Zeugnisverweigerungsrecht nach § 52 StPO“ geltend machen, ist nicht geeignet, die bisherige Bewertung der Beweislage nachhaltig zu erschüttern. Die Ankündigung wird mit folgenden beiden Sätzen begründet:

„Darüber hinaus hat sie sich mit Herrn A. ausgesprochen. Man möchte nach der Haftentlassung nun doch wieder heiraten.“

aa) Die Formulierung, „man möchte nach der Haftentlassung nun doch wieder heiraten“, ist gänzlich unverbindlich und erfüllt die Voraussetzungen eines nach § 52 Abs. 1 Nr. 1 StPO bestehenden (und nach § 56 StPO auf Verlangen glaubhaft zu machenden) Verlöbnisses nicht.

aaa) Die Wahl des unpersönlichen Indefinitpronomens „man“ lässt bereits offen, ob es sich um einen Wunsch der Zeugin oder des Angeklagten handelt oder ob es um einen übereinstimmenden Wunsch geht.

bbb) Aber selbst wenn letzteres feststünde, wäre kein Verlöbnis dargelegt. Denn bei einem Verlöbnis handelt es sich um ein (nicht notwendig öffentliches) gegenseitiges und von beiden Seiten ernst gemeintes Eheversprechen (vgl. BGH NJW 1972, 1334). Die vom Rechtsanwalt gewählte Formulierung legt unter keinem Gesichtspunkt nahe, dass es hier um mehr als ein unverbindliches Anliegen geht. Die Unverbindlichkeit wird sprachlich noch dadurch gesteigert, dass ausgeführt wird, die Protagonisten wollten „nun doch wieder heiraten“, als ob der Verwender selbst nicht an die Richtigkeit der Bekundung glaubte, nachdem sich die Beteiligten mehrfach umentschieden hätten. Dass sich zwei Menschen ein ernsthaftes gegenseitiges Eheversprechen gegeben haben, ist der Formulierung jedenfalls nicht zu entnehmen.

ccc) Nicht befassen muss sich der Senat somit zum gegenwärtigen Zeitpunkt damit, ob es sich bei dem – behaupteten – Eheversprechen um eine wirksame und damit strafprozessual zu beachtende Vereinbarung handelt. Zweifel daran könnten sich dadurch ergeben, dass die Zeugin bekundet hat, der Angeklagte habe sie für den Fall einer belastenden Aussage mit dem Tode bedroht. In diesem Zusammenhang könnte auch zu prüfen sein, ob ein polizeilicher Vermerk vom 10. Juni 2022 Bedeutung erlangt. In diesem heißt es, eine Person, der Geheimhaltung zugesichert worden sei, habe angegeben, der Beschwerdeführer beabsichtige, die Zeugin X. zu töten. Dies könnte Zweifel daran begründen, dass die Zeugin ihren Wunsch zu heiraten freiwillig geäußert hat. Gleichzeitig entstünden Zweifel an der Ernstlichkeit des (möglicherweise) vom Angeklagten geäußerten Heiratswunsches.“