Archiv der Kategorie: Urteilsgründe

Strafzumessung III: Ohne Impfpass im Kreistag, oder: Bewusste riskierte Nachteile

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Und im dritten Posting dann noch einmal der  OLG Hamm, Beschl. v. 27.04.2023 – 3 RVs 16/23. Den hatte ich schon zweimal vorgestellt, einmal zum Stichwort: Impfpassfälschung (vgl. hier: Corona I: Gefälschter Impfpass vor Kreistagssitzung, oder: Gebrauch unrichtiger Gesundheitszeugnisse) und einmal zur Frage der Durchsuchung (vgl. Durchsuchung III: Und nochmals Anfangsverdacht, oder: Einmal reicht es, einmal nicht…..).

Während das OLG hinsichtlich der materiellen Frage und auch hinsichtlich der Rechtmäßigkeit der Durchsuchung nichts zu „meckern“ hatte, hat ihm die Strafzumessung des LG nicht gefallen. Insoweit hatte die Revision daher Erfolg:

3. Der Strafausspruch hingegen hält rechtlicher Überprüfung nicht stand, so dass die Sachrüge insoweit Erfolg hat.

Die Zumessungserwägungen des Tatgerichts enthalten eine Reihe von Lücken, Widersprüchen und Ungenauigkeiten. Jedenfalls in der Gesamtschau kann der Senat deshalb nicht mit der erforderlichen Sicherheit ausschließen, dass das Tatgericht entscheidende Gesichtspunkte übersehen oder falsch gewertet hat, unter deren zutreffender Berücksichtigung es zu einer milderen Strafe gelangt wäre. Im Einzelnen:

Der Auffassung der Strafkammer,

„zugunsten des Angeklagten sprach nicht mehr das erstinstanzliche Geständnis, denn im Rahmen der Berufungsverhandlung hatte er zunächst keine Angaben zur Sache gemacht, sondern vielmehr die objektiven Umstände erst im Rahmen des letzten Wortes beiläufig erklärt, wobei nicht klar war, ob er dies bewusst tat…“

vermag der Senat nicht zu folgen. Die Begründung steht im Widerspruch zur Beweiswürdigung in den Urteilsgründen. Danach hat der Angeklagte bereits nach Vernehmung der Zeugin H. deren Angaben zum Tatgeschehen bestätigt. Unklar ist auch, warum es sich beim Einräumen der objektiven Tatumstände „erst im Rahmen des letzten Wortes“ nicht um ein Geständnis handeln soll. Soweit das Tatgericht die Frage aufwirft, ob sich um ein „bewusstes“ Geständnis gehandelt hat, erschließt sich dem Senat nicht, wie Tatumstände „unbewusst“ eingeräumt werden können oder welchen konkreten Anlass die Strafkammer zu Zweifeln an der inhaltichen Qualität des Geständnisses hatte. Da das Landgericht seine offenbar vorhandenen Bedenken auch nicht ausgeräumt hat, handelt es sich hierbei letzlich um eine Vermutung. Ebenso wie es nicht zulässig ist, lediglich vermutete Umstände strafschärfend zu bewerten, können bloße Vermutungen auch nicht das Gewicht strafmildernder Umstände einschränken (BGH, Beschluss vom 21. September 1995 – 4 StR 529/95 -, juris).

Die naheliegende Überlegung, dem Geständnis schon deshalb nur geringes strafmilderndes Gewicht beizumessen, weil die betreffenden Tatsachen bereits anderweitig bewiesen waren, hat das Landgericht hingegen nicht angestellt (vgl. ausführlich Kinzig, in: Schönke/Schröder, a. a. O., § 46, Rn. 41b, m. w. N.).

b) Die Argumentation der Strafkammer,

„zu seinen Gunsten wurde nicht gewertet, dass er seine politischen Ämter bzw. weiteren Tätigkeiten durch das Bekanntwerden des Vorwurfs nicht mehr weiter ausüben konnte, denn letztlich beruhte das auf seinem eigenen, rechtswidrigem Tun“

kann ebenfalls keinen Bestand haben. Bereits aus § 60 StGB folgt, dass wirtschaftliche, berufliche oder soziale Folgen der Tat, die den Täter selbst treffen, bei der Strafzumessung zu berücksichtigen sind, auch wenn sie den Schweregrad des § 60 StGB nicht erreichen (Fischer, Strafgesetzbuch, 69. Auflage 2022, § 46, Rn. 34d). Nach den getroffenen Feststellungen hat der Angeklagte infolge der Tat nicht nur seine politischen Ämter, sondern auch Einkünfte in Höhe von rund 40.000 € jährlich verloren.

Allerdings wird die für die erneute Entscheidung zuständige Strafkammer in den Blick zu nehmen haben, dass Nachteile, die der Täter bewusst riskiert hat oder die sich ihm aufdrägen mussten, in der Regel keine Milderung veranlassen (BGH, Urteil vom 12. Januar 2016 – 1 StR 414/15 -; Urteil vom 20. Juli 2005 – 2 StR 168/05 -; beide juris). Es spricht einiges dafür, dass ein politischer Mandatsträger, der bei Ausübung seines Mandats eine Straftat begeht, mit dem Verlust oder der Aufgabe seiner politischen Ämter rechnen muss.

c) Auch der strafschärfend von der Strafkammer berücksichtigte Gesichtspunkt,

„dass er [der Angeklagte] als gewählter Volksvertreter eine Vorbildfunktion innehatte, der er nicht gerecht geworden war“,

trägt nicht. Zwar ist denkbar, dass das Verhalten des Angeklagten Nachahmer findet, zumal in der Presse über die Tat berichtet wurde. Ungewiss ist allerdings, ob ein solcher Effekt bei „gewählten Volksvertretern“ in höherem Maße als bei anderen Straftätern auftritt, so dass generalpräventive Strafzwecke bei Straftaten von Abgeordneten eine schärfere Sanktion erfordern als bei gleichartigen Taten von Tätern, die keine Abgeordneten sind. Umgekehrt entspricht es dem Wesen einer repräsentativen Demokratie, dass Abgeordnete mit unterschiedlichsten Einstellungen und Verhaltensweisen in parlamentarische Gremien gewählt werden; auch deshalb erscheint es dem Senat widersprüchlich und bedenklich, an Straftaten „gewählter Volksvertreter“ andere rechtliche Maßstäbe anzulegen als an das Verhalten sonstiger Straftäter.

d) Schließlich gibt die Formulierung

„…zumal der Angeklagte sich mit seiner Tat ausweislich der Presseberichterstattung brüstete und von Reue auch in der Berufungshauptverhandlung kein Ansatz zu erkennen war“

Anlass zu der Befürchtung, die Strafkammer könnte die fehlende Reue strafschärfend herangezogen haben. Fehlende Unrechtseinsicht und Reue sind indes für sich allein kein Strafschärfungsgrund. Strafschärfend kann ein solches Verhalten nur gewertet werden, wenn es nach der Art der Tat und nach der Persönlichkeit des Täters auf Rechtsfeindschaft, Gefährlichkeit und die Gefahr künftiger Rechtsbrüche schließen läßt (BGH, Beschluss vom 9. Juni 1983 – 4 StR 257/83 -, juris; Fischer, a. a. O., § 46, Rn. 51). Dies erscheint nach den bislang getroffenen Feststellungen eher fernliegend, zumal der Angeklagte bislang nicht vorbestraft ist.

Strafzumessung II: Verringerung des Schuldumfangs, oder: Keine Änderung bei der Strafhöhe?

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Als zweite Entscheidung dann das KG, Urt. v. 21.12.2022 – (3) 121 Ss 165/22 (67/22) – über das ich schon einmal wegen der auch entschiedenen Verfahrensfrage berichtet habe (vgl. StPO I: Ist der Grundsatz der Öffentlichkeit verletzt? oder: Zentraler Aushang im Eingangsbereich reicht).

Heute also noch ein mal wegen der Strafzumessung. Die hat das KG nicht beanstandet:

„2. Auch mit seiner Sachrüge dringt der Angeklagte nicht durch. Die nach wirksamer Berufungsbeschränkung einzig zur Überprüfung stehende Rechtsfolgenentscheidung der Strafkammer ist frei von Rechtsfehlern.

a) Obwohl die Strafkammer trotz hinzugetretener Strafmilderungsgründe auf dieselbe Strafe wie das Amtsgericht erkannt hat, begegnen die Zumessungserwägungen zur verhängten Geldstrafe keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

aa) Die Bewertung der Tat und die Strafzumessung in der ersten Instanz sind zwar kein Maßstab für die Strafzumessung im Berufungsverfahren, weshalb eine Herabsetzung der Strafe im Fall der Verringerung des Schuldumfangs bzw. des Hinzutretens neuer Milderungsgründe nicht zwingend ist. Im Regelfall ist in so gelagerten Fällen aber eine Begründung dafür erforderlich, weil der Angeklagte einen Anspruch darauf hat zu erfahren, warum er trotz Hinzutretens erheblicher Strafmilderungsgründe gleich hoch bestraft wird wie in der Vorinstanz (vgl. BGH NJW 1983, 54 und NStZ-RR 2013, 113; Senat, Beschluss vom 7. Juli 1997 – (3) 1 Ss 124/97 (52/97) – m.w.N., juris; KG, Beschluss vom 14. Juli 2020 – (4) 161 Ss 33/20 (43/20) -, juris; OLG Brandenburg, Beschluss vom 22. November 2021 – 1 OLG 53 Ss 97/21 -, juris; OLG München NJW 2009, 160; OLG Bamberg NStZ-RR 2012, 138 m.w.N).

bb) Allerdings ist eine Begründung bei Verhängung einer identischen Strafe trotz wesentlicher Veränderung der für die Strafzumessung relevanten Gesichtspunkte ausnahmsweise entbehrlich, wenn eine Gefährdung der spezialpräventiven Wirkung ausgeschlossen erscheint, weil etwa die durch den Vorderrichter verhängte Strafe offensichtlich im unteren Bereich des Vertretbaren gelegen hatte (vgl. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 7. April 2016 – 2 (6) Ss 110/16 -, juris; OLG Hamm NStZ-RR 2009, 368; KG, OLG Bamberg und OLG Brandenburg jeweils a.a.O.).

So liegt der Fall hier. Angesichts einer Schadenshöhe von über 3.000,- Euro bewegt sich die verhängte Geldstrafe, insbesondere unter Berücksichtigung dessen, dass dem Angeklagten die Fahrerlaubnis – trotz Vorliegens eines Regelfalls nach § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB – nicht entzogen worden ist, am unteren Ende des gerade noch Vertretbaren.

b) Ebenso wenig weisen Haupt- und Nebenstrafe in ihrer Gesamtheit Rechtsfehler zulasten des Angeklagten auf.

aa) Verhängt ein Gericht neben einer Geld- oder Freiheitsstrafe als Hauptstrafe ein Fahrverbot nach § 44 StGB als Nebenstrafe, hat es zu berücksichtigen, dass zwischen beiden eine Wechselwirkung besteht (vgl. OLG Dresden DAR 2022, 577). Die Nebenstrafe darf nur verhängt werden, wenn die Hauptstrafe allein den mit der Nebenstrafe verfolgten spezialpräventiven Zweck nicht erreichen kann und beide zusammen die Tatschuld nicht überschreiten. Das Urteil muss daher erkennen lassen, dass sich das Tatgericht dieser Beziehung bewusst gewesen ist und die Haupt- und Nebenstrafe aufeinander abgestimmt hat (vgl. Senat DAR 2007, 594; OLG Koblenz DAR 2018, 452; OLG Stuttgart NZV 2016, 292; OLG Hamm NZV 2004, 598).

bb) Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil gerecht. Das Landgericht hat sich nicht nur gründlich und differenziert mit der Frage auseinandergesetzt, ob eine Maßregel nach §§ 69, 69a StGB (Entziehung der Fahrerlaubnis nebst Anordnung einer Sperrfrist für die Neuerteilung einer Fahrerlaubnis) geboten ist oder ob die Nebenstrafe der Anordnung eines Fahrverbots nach § 44 StGB ausreichend ist. Der Gesamtheit der Urteilsgründe ist zudem (noch) mit ausreichender Klarheit zu entnehmen, dass sich die Strafkammer der Wechselwirkung zwischen Haupt- und Nebenstrafe bewusst war, indem sie insbesondere die Kriterien der Strafzumessung im engeren Sinn im Rahmen der Erörterungen zur Anordnung des Fahrverbots einer nochmaligen Würdigung unterzogen hat (UA S. 4: “Wegen der Unbestraftheit des Angeklagten sowie der übrigen oben erwähnten für ihn sprechenden Umstände konnte jedoch ausnahmsweise von der Entziehung der Fahrerlaubnis abgesehen werden.”). Einer ausdrücklichen Klarstellung bedurfte es deshalb nicht.“

Strafzumessung I: „Taten unter Observation…“, oder: Das allein ist kein Strafmilderungsgrund

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Und dann heute drei Strafzumessungsentscheidungen.

Zum Warmwerden hier zunächst der BGH, Beschl. v. 26.04.2023 – 5 StR 122/23 – mit folgenden „ergänzenden“ Ausführungen des BGH:

„Ergänzend bemerkt der Senat:

Soweit das Landgericht bei der Strafzumessung in den Fällen II.4 und II.5 strafmildernd berücksichtigt hat, „dass die Taten unter laufender Observation begangen wurden, so dass zumindest eine Einschreitemöglichkeit der Ermittlungspersonen der Staatsanwaltschaft bestanden hätte“, erweist sich dies als rechtsfehlerhaft, da allein eine Observation und die deshalb denkbare Möglichkeit eines Einschreitens der Ermittlungsbehörden für sich genommen keinen Strafmilderungsgrund begründet (vgl. BGH, Urteile vom 7. Februar 2022 – 5 StR 542/20, NJW 2022, 1826, 1827 …; vom 22. Juni 2022 – 5 StR 9/22 und vom 6. Januar 2022 – 5 StR 2/21, NStZ-RR 2022, 140, 141). Zudem erklärt sich die Annahme des Landgerichts, die „Rechtsgutsgefährdung bezüglich des Eigentums der Restauranteigentümer“ sei hier „geringer als in unbeobachteten Fällen“, angesichts des Umstands, dass die den Tatort observierenden Polizeikräfte das Eindringen in die Räume der Restaurants in beiden Fällen nicht wahrgenommen hatten und der Angeklagte deswegen die Taten unbemerkt ausführen konnte, nicht im Ansatz. All dies beschwert ihn jedoch nicht.“

OWi II: Nochmals Verhängung der Regelgeldbuße, oder: Feststellungen zu den wirtschaftlichen Verhältnissen?

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Die zweite Entscheidung kommt heute vom OLG Saarbrücken. Das hat im OLG Saarbrücken, Beschl. v. 08.05.2023 – 1 Ss (OWi) 8/23 – u.a. zur Frage der Erforderlichkeit von näheren Feststellungen zu den wirtschaftlichen Verhältnissen des Betroffenen bei Verhängung einer Regelgeldbuße Stellung genommen.

Vom AG war wegen eines Verstoßes gegen § 24a Abs. 2 StVG eine Geldbuße in Höhe von 600,- EUR festgesetzt und ein Fahrverbot von drei Monaten verhängt worden, ohne Feststellungen zu den wirtschaftlichen Verhältnissen des Betroffenen zu treffen.

Das hat das OLG nicht – mehr – beanstandet. Es hat abweichende frühere Rechtsprechung aufgegeben:

„Soweit der Senat in früheren Entscheidungen verlangt hat, dass der Tatrichter bei der Bemessung der Geldbuße grundsätzlich die wirtschaftlichen Verhältnisse des Betroffenen aufzuklären und zu diesen im Urteil in nachprüfbarer Weise Feststellungen zu treffen hat, soweit es sich nicht um geringfügige Ordnungswidrigkeiten im Sinne des § 17 Abs. 3 Satz 2 Halbsatz 2 OWiG handelt – eine solche geringfügige Ordnungswidrigkeit lag – auch im Bereich der Verkehrsordnungswidrigkeiten – nach der Rechtsprechung des Senats nur in den Fällen vor, in denen das Tatgericht eine Geldbuße von nicht mehr als 250,- Euro verhängt hatte – (vgl. Senatsbeschlüsse vom 18. Juni 2013 – Ss (B) 58/2013 (51/13 OWi) –, 24. Oktober 2013 – Ss (B) 101/2013 (83/13 OWi) –, 30. Juni 2014 – Ss (B) 44/2014 (34/14 OWi) –, 16. Oktober 2014 – Ss (B) 69/2014 (54/14 OWi) –, 21. März 2017 – Ss BS 11/2017 (6/17 OWi) – und 25. Oktober 2018 – Ss (BS) 77/2018 (54/18 OWi) – jew. m.w.N.), hält der Senat daran nicht länger fest. Dies jedenfalls für die Fälle, in denen – wie hier – keine die Regelgeldbuße nach dem Bußgeldkatalog übersteigende Geldbuße festgesetzt wird und weder aufgrund der Angaben des Betroffenen selbst noch sonst Anhaltspunkte für vom Regelfall abweichende finanzielle Verhältnisse vorliegen, die ausnahmsweise Anlass zu weiterer Sachaufklärung geben.

a) Nach § 17 Abs. 3 Satz 2 Halbsatz 1 OWiG kommen für die Bemessung der Geldbuße – neben der Bedeutung der Ordnungswidrigkeit und dem Vorwurf, der den Täter trifft (§ 17 Abs. 3 Satz 1 OWiG) – auch die wirtschaftlichen Verhältnisse des Betroffenen in Betracht. Diese gesetzgeberische Wertentscheidung macht deutlich, dass den wirtschaftlichen Verhältnissen des Betroffenen für die Bemessung der Geldbuße nur eine untergeordnete Bedeutung zukommt. Dies findet in den Bußgeldregelsätzen, die der Verordnungsgeber aus Gründen der Vereinfachung und Anwendungsgleichheit im Bußgeldkatalog festgelegt hat, dadurch Ausdruck, dass sich ihre Höhe in Übereinstimmung mit § 17 Abs. 3 Satz 1 OWiG an der Bedeutung des Verkehrsverstoßes und dem Tatvorwurf orientiert. Die Regelsätze gehen von gewöhnlichen Tatumständen und durchschnittlichen wirtschaftlichen Verhältnissen aus. Systematisch stellen sie Zumessungsrichtlinien dar, die der Tatrichter bei der Ausübung seines Rechtsfolgeermessens nicht unbeachtet lassen darf. Andernfalls wird er dem Prinzip des Bußgeldkatalogs mit dem Ziel der größtmöglichen Gleichbehandlung gleichartiger Fälle nicht gerecht. Besondere Umstände, die zum Abweichen vom Regelsatz nach oben oder unten führen und die auch in der Person des Betroffenen liegen können, hat der Tatrichter im Einzelfall erst zu erwägen, wenn sich konkrete Anhaltspunkte dafür ergeben. Dies gilt auch für die wirtschaftlichen Verhältnisse des Betroffenen. Die tatrichterliche Aufklärungspflicht setzt demnach erst ein, wenn der Betroffene konkrete Tatsachen vorträgt, die ein Abweichen von der Regel nahelegen, oder solche Anhaltspunkte sonst vorliegen. Andernfalls sind die wirtschaftlichen Verhältnisse des Betroffenen aufgrund der Regel-Ausnahme-Systematik der Bußgeldkatalogverordnung nicht von vornherein Gegenstand der Amtsaufklärung. Demnach obliegt es dem Betroffenen unter der Geltung der Bußgeldkatalogverordnung durch eigenen Sachvortrag die Aufklärungspflicht des Tatrichters auszulösen. Erst dann hat das Tatgericht im Rahmen der Einzelfallabwägung getroffene Feststellungen zum Abweichen vom Regelfall in den Urteilsgründen nachvollziehbar darzustellen, so dass dem Rechtsbeschwerdegericht die Prüfung ermöglicht wird, ob das Tatgericht rechtsfehlerfrei von dem Regelsatz des Bußgeldkatalogs abgewichen ist. Dies bedeutet indes nicht, dass das Tatgericht einseitige und wenig aussagekräftige Angaben des Betroffenen zu seinen wirtschaftlichen Verhältnissen ungeprüft hinzunehmen hat (vgl. KG Berlin, Beschluss vom 27. April 2020 – 3 Ws (B) 49/20 –, juris mit zahlreichen weiteren Nachweisen; OLG Bremen, Beschluss vom 27. Oktober 2020 – 1 SsBs 43/20 –; OLG Braunschweig, Beschluss vom 13. April 2021 – 1 Ss (OWi) 103/20 –, BeckRS 2021, 7676; OLG Köln, Beschluss vom 15. Juli 2022 – III-1 RBs 198/22 –, juris; Krenberger/Krumm, OWiG, 7. Aufl., § 17 Rn. 22b, m.w.N.).

Hierfür spricht auch, dass eine unbedingte Aufklärungspflicht das Tatgericht bei einem zu seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen schweigenden Betroffenen zu – ggf. mit schwerwiegenden Grundrechtseingriffen einhergehenden – Maßnahmen wie der Durchsuchung der Wohn- oder Geschäftsräume nach Einkommensnachweisen des Betroffenen anhalten dürfte, die zur Bedeutung des Vorwurfs und der Höhe der Geldbuße außer Verhältnis stünden (vgl. OLG Braunschweig, a.a.O.; KG Berlin, Beschluss vom 12. März 2019 – 3 Ws (B) 53/19 –, Rn. 14, juris).

Eine über die bloße Darlegungslast hinausgehende Beweislast wird dem Betroffenen hierdurch nicht auferlegt. Denn bei Vorliegen eines hinreichend konkreten Vortrages des Betroffenen zu seinen wirtschaftlichen Verhältnissen hat der Tatrichter diesem wiederum von Amts wegen nachzugehen und sich von dessen Richtigkeit zu überzeugen (vgl. OLG Braunschweig, a.a.O., m.w.N.).

b) Ob diese Grundsätze auch dann gelten, wenn der Tatrichter eine den Regelsatz des Bußgeldkatalogs übersteigende Geldbuße festlegt (vgl. OLG Braunschweig, a.a.O.), braucht der Senat vorliegend nicht zu entscheiden. Ein Fall der Erhöhung einer Regelgeldbuße liegt nicht vor. Zwar legen die Ausführungen in dem angegriffenen Urteil nahe, dass das Amtsgericht wegen der einschlägigen Voreintragung im Fahreignungsregister lediglich die für einen (erstmaligen) Verstoß gegen § 24 a StVG vorgesehene Regelgeldbuße nach Nr. 242 BKat von 500,- EUR angemessen auf 600,- EUR erhöhen wollte. Tatsächlich hat es die nach der Bußgeldkatalogverordnung vorgesehene Regelgeldbuße indes verringert. Nr. 242.1 BKat normiert – sowohl in der im Tatzeitpunkt als auch in der heute geltenden Fassung – für den hier vorliegenden Fall der Eintragung einer – gemäß § 29 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 2b i.V.m. Nr. 2.2.2 der Anlage 13 zu § 40 FeV bislang weder getilgten noch tilgungsreifen – Entscheidung nach § 24a StVG im Fahreignungsregister, deren Vorliegen das Amtsgericht rechtsfehlerfrei festgestellt hat, eine Regelsanktion von 1000,- EUR Geldbuße und drei Monaten Fahrverbot. Da sich dieser Fehler nicht zu Lasten des Betroffenen auswirkt, berührt er den Bestand der ausschließlich vom Betroffenen angefochtenen Entscheidung auch im Übrigen nicht.

c) Gemessen an den vorstehend dargestellten Maßstäben bestand im vorliegenden Fall keine Pflicht des Amtsgerichts, die wirtschaftlichen Verhältnisse des Betroffenen von Amts wegen weiter aufzuklären. Der Senat vermag den Urteilsgründen noch hinreichend zu entnehmen, dass der auf eigenen Antrag vom persönlichen Erscheinen entbundene Betroffene weder im Vorfeld noch in der Hauptverhandlung durch seinen Verteidiger Angaben zu seinen wirtschaftlichen Verhältnissen gemacht hatte, die Anlass zu weiterer Sachaufklärung gaben.“

Verkehrsrecht I: Anforderungen an „Beinaheunfall“, oder: Kollisionsvermeidung duch starke Bremsung

Und heute dann mal – seit längerem – mal wieder – verkehrsrechtliche Entscheidungen.

Zunächst stelle ich – quasi zum Warmwerden – den BGH, Beschl. v. 02.02.203 – 4 StR 293/22 – vor. Thematk: Einer der verkehrsrechtlichen Dauerbrenner, nämlich die Frage nahc dem sog. Beinaheunfall bei § 315c StGB – Gefährdung des Straßenverkehrs.

Das LGte hat den Angeklagten wegen versuchten besonders schweren Raubes in Tatmehrheit mit vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis in Tateinheit mit vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs und mit verbotenem Kraftfahrzeugrennen verurteilt. Die Revision des Angeklagten hatte hinsichtlich der Verurteilung wegen eines Verstoßes gegen § 315c StGB „Erfolg“:

„1. Der Schuldspruch wegen vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs gemäß § 315c Abs. 1 Nr. 2 b), Abs. 3 Nr. 1 StGB im Fall B 2 der Urteilsgründe kann nicht bestehen bleiben, weil die Urteilsgründe nicht ergeben, dass durch den von dem Angeklagten eingeleiteten falschen Überholvorgang eine konkrete Gefährdung von Leib oder Leben eines anderen Menschen oder fremder Sachen von bedeutendem Wert herbeigeführt worden ist.

a) Nach den Feststellungen zu Fall B 2 der Urteilsgründe fuhr der Angeklagte auf die BAB 45 auf und beschleunigte sofort stark auf über 200 km/h, um sich einer Kontrolle durch ihn mit einem Streifenwagen verfolgende Polizeibeamte zu entziehen. Anschließend befuhr er über eine Strecke von mehr als 60 km die BAB 45, wobei er zum Zwecke der Flucht vor dem ihn durchgehend verfolgenden polizeilichen Einsatzfahrzeug stets versuchte, nach den konkreten Gegebenheiten die maximal mögliche Geschwindigkeit zu erreichen und entsprechend der Motorisierung seines Fahrzeugs und der konkreten Verkehrslage „alles aus seinem Fahrzeug herauszuholen“. Dabei überholte er, möglichst unter konstanter Beibehaltung einer Geschwindigkeit von über 200 km/h fahrend, mehrfach andere Verkehrsteilnehmer links und rechts, wobei er andere Fahrzeuge auch unter grober Außerachtlassung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt bedrängte und zum Wechsel auf die rechte Spur nötigte. Im Verlauf der Fahrt musste er u.a. aufgrund einer Baustelle eine Fahrbahnverengung passieren, wobei an der konkreten Stelle eine Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h vorgeschrieben war. Der Angeklagte fuhr an dem stockenden Verkehr vorbei, indem er diesen unter Ausnutzung des Standstreifens rechtsseitig mit einer Geschwindigkeit von 160 km/h überholte. Am Ende des Standstreifens bremste er stark ab und „scherte abrupt und ruckartig“ in gefährlicher Fahrweise nach links vor einem anderen PKW ein. Das Fahrzeug musste „stark abbremsen“ um eine Kollision zu vermeiden.

Anschließend beschleunigte der Angeklagte wiederum stark und zog auf die rechte der nun getrennt verlaufenden Fahrspuren, welche er mit 140 km/h befuhr. Im weiteren Verlauf konnte er infolge der Einspurigkeit der Fahrbahn einen vor ihm fahrenden LKW nicht mehr überholen und fuhr trotz eingeleiteter Vollbremsung auf dessen Anhänger auf, wodurch an diesem ein Schaden in Höhe von 2.814,35 € entstand.

b) Diese Feststellungen tragen die Annahme des objektiven Tatbestandes der Gefährdung des Straßenverkehrs nicht. § 315c Abs. 1 StGB setzt in allen Tatvarianten eine konkrete Gefährdung von Leib oder Leben eines anderen oder fremder Sachen von bedeutendem Wert voraus. Dies ist nach gefestigter Rechtsprechung der Fall, wenn die Tathandlung über die ihr innewohnende latente Gefährlichkeit hinaus in eine kritische Situation geführt hat, in der – was nach allgemeiner Lebenserfahrung auf Grund einer objektiv nachträglichen Prognose zu beurteilen ist – die Sicherheit einer bestimmten Person oder Sache so stark beeinträchtigt wurde, dass es nur noch vom Zufall abhing, ob das Rechtsgut verletzt wurde oder nicht. Erforderlich ist die Feststellung eines „Beinahe-Unfalls“, also eines Geschehens, bei dem ein unbeteiligter Beobachter zu der Einschätzung gelangt, es sei „noch einmal gut gegangen“ (st. Rspr.; vgl. zum Ganzen nur BGH, Beschluss vom 6. Juli 2021 – 4 StR 155/21, juris Rn. 5 mwN).

Hieran gemessen fehlt es an Feststellungen, die einen „Beinahe-Unfall“ in diesem Sinne belegen. Die Urteilsgründe sind auf die Wiedergabe der tatgerichtlichen Wertung beschränkt, dass eine Kollision nur durch eine starke Bremsung habe vermieden werden können. Es fehlt an Darlegungen zu den Abständen zwischen den Fahrzeugen, den von ihnen zum Zeitpunkt des Einscherens gefahrenen Geschwindigkeiten und zur Intensität der zur Vermeidung einer Kollision vorgenommenen Bremsung. Eine den obigen Anforderungen entsprechende kritische Verkehrssituation, in der eine eingetretene konkrete Gefahr durch eine Tathandlung des falschen Überholens nach § 315c Abs. 1 Nr. 2 b) StGB verursacht wurde, kann den Urteilsfeststellungen nicht entnommen werden.

c) Der Senat schließt aus, dass in einem zweiten Rechtsgang noch entsprechende Feststellungen getroffen werden können, und lässt die tateinheitlich erfolgte Verurteilung wegen vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs daher entfallen. Damit verbleibt es im Fall B 2 bei der insoweit rechtsfehlerfreien Verurteilung wegen verbotenen Kraftfahrzeugrennens gemäß § 315d Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2, Abs. 4 StGB in Tateinheit mit vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis.“

Hatte die Revision wirklich „Erfolg“? Na ja, denn: Es ist nur der Schuldspruch wegen § 315c StGB entfallen. Im Übrigen:

„2. Trotz der Änderung des Schuldspruchs kann die im Fall B 2 verhängte Einzelstrafe bestehen bleiben. Das Landgericht hat gegen den Angeklagten wegen dieser Tat eine Einzelstrafe von einem Jahr und zwei Monaten verhängt, die es – rechtsfehlerfrei – gemäß § 52 Abs. 2 StGB dem Strafrahmen des § 315d Abs. 4 StGB entnommen hat. Angesichts der gewichtigen, in die Strafzumessungsbegründung der Strafkammer eingestellten strafschärfenden Umstände (erhebliche und auch einschlägige Vorstrafen; Tat unter laufender Führungsaufsicht begangen; verbotenes Kraftfahrzeugrennen mit Unfallfolge und über eine Distanz von mindestens 60 km) kann der Senat ausschließen, dass der rechtsfehlerhafte Schuldspruch nach § 315c Abs. 1 Nr. 2 b), Abs. 3 Nr. 1 StGB sich bei der Strafzumessung zum Nachteil des Angeklagten ausgewirkt hat.“

Ich bin immer erstaunt, was die Strafsenate so alles ausschließen können. Wenn man beim BGH ist, kann man das aber wahrscheinlich……