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Beweiswürdigung II: Das OLG Hamm und „Aussage-gegen-Aussage“

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Über den OLG Hamm, Beschl. v. 30.10.2018 – 5 RVs 143/18 – habe ich ja vor einigen Tagen schon mal berichtet. Da ging es um eine Beweisantragsproblematik. Hier kommt der Beschluss dann noch einmal, und zwar wegen der Ausführungen des OLG zur Aussage-gegen-Aussage:

„2. Auch die auf die erhobene Sachrüge hin vorgenommene materiell-rechtliche Überprüfung des Urteils hat einen durchgreifenden Rechtsfehler zu Lasten der Angeklagten ergeben.

Die im Revisionsverfahren auf eine erhobene Sachrüge hin vom Revisionsgericht vorzunehmende materiell-rechtliche Überprüfung des angefochtenen Urteils erstreckt sich auch auf die Beweiswürdigung des Tatrichters (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 337 StPO Rn. 26).

Die Grundlagen der Prüfung sind dabei die Urteilsurkunde und die Abbildungen, auf welche in dem Urteil gemäß § 267 Abs. 1 S. 3 StPO verwiesen worden ist (Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 337 StPO Rn. 22). Daneben sind nur noch offenkundige und dem Revisionsgericht gerichtsbekannte Tatsachen beachtlich (vgl. Meyer-Goßner7schmitt, a.a.O., § 337 StPO Rn 22). Alle externen Erkenntnisquellen sind dem Revisionsgericht grundsätzlich verschlossen (vgl. BGH NStZ-RR 2012, 216; NJW 1998, 3654; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 337 StPO Rn. 22). Dies gilt grundsätzlich auch für den Inhalt der Verfahrensakte (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, a.a.O., § 337 StPO Rn. 23 m. w. N.).

Die Beweiswürdigung des Tatrichters unterliegt dabei allerdings nur einer eingeschränkten Überprüfung durch das Revisionsgericht. Das Revisionsgericht darf die Beweiswürdigung des Tatrichters nur auf rechtliche Fehler prüfen, sie aber nicht durch seine eigene ersetzen (Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 337 StPO Rn. 26). Die aus Sicht des Revisionsführers falsche Würdigung der Beweise kann daher nicht mit der Revision gerügt werden, wohl aber der Weg dorthin (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 337 StPO Rn. 26 und § 344 StPO Rn. 19).

Die Beweiswürdigung muss aber wenigstens die Grundzüge der Überlegungen des Tatrichters und die Möglichkeit des gefundenen Ergebnisses sowie die Vertretbarkeit des Unterlassens einer weiteren Würdigung aufzeigen. Es stellt demnach einen Rechtsfehler dar, wenn die Gründe des angefochtenen Urteils so beschaffen sind, dass sie dem Revisionsgericht nicht die Möglichkeit einer Nachprüfung geben (vgl. OLG Hamm Beschluss vom 23. Februar 2017, Az. III – 2 RVs 6/17, und Beschluss vom 22. April 2010, Az. III – 2 RVS 13/19 (NStZ-RR 2010, 348); Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 337 StPO Rn. 26). Insbesondere die Ausführungen zur Beweiswürdigung müssen die Tatsachenfeststellungen für das Revisionsgericht plausibel und nachvollziehbar machen.

Rechtsfehlerhaft im oben genannten Sinne ist die Beweiswürdigung aber insbesondere auch dann, wenn der Tatrichter seiner Pflicht zur erschöpfenden Würdigung der Beweise nicht nachgekommen ist, wenn die Beweiswürdigung in sich widersprüchlich, lückenhaft oder unklar ist oder gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt oder wenn der Tatrichter überspannte Anforderungen an die für eine Verurteilung erforderliche Gewissheit gestellt hat (vgl. OLG Hamm Beschluss vom 23. Februar 2017, Az. III – 2 RVs 6/17, und Beschluss vom 29. April 2014, Az. III – 4 RVs 35/14; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 337 StPO Rn. 26a und 27).

Besonders strenge Anforderungen an die tatrichterliche Beweiswürdigung werden gestellt, wenn eine sogenannte „Aussage-gegen-Aussage“ Konstellation vorliegt und die Entscheidung allein davon abhängt, welcher Aussage das Gericht folgt (vgl. BGH Urteil vom 19. Juli 1989, Az. 2 StR 182/89 — zitiert nach juris, m.w.N.; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 261 Rn. 11a und § 267 Rn. 12a, jeweils m.w.N.). In diesem Fall müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, dass das Gericht alle Umstände, welche geeignet sind, die Entscheidung zu Gunsten oder zu Ungunsten des Angeklagten zu beeinflussen, erkannt, in seine Überlegungen einbezogen und in einer Gesamtschau gewürdigt hat (vgl. BGH a.a.O.; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O. § 261 Rn. 11a, m.w.N.).

An diesen Anforderungen ist das angefochtene Urteil zu messen, da eine „Aussage gegen-Aussage“ Konstellation auch anzunehmen ist, wenn der Angeklagte — wie hier — zu den Tatvorwürfen schweigt. Es wird ihnen indes nicht gerecht.

Soweit die Kammer in den Urteilsgründen ausführt, sie sei sich bewusst, dass an die Glaubwürdigkeit des ehemaligen Mitangeklagten F    und die Glaubhaftigkeit seiner Aussage erhöhte Anforderungen zu stellen sind (vgl. Blatt 12 des Urteils), ermöglicht dies dem Senat eine revisionsrechtliche Überprüfung nicht. Da dem Senat die Verfahrensakte als Erkenntnisquelle verschlossen ist (s.o.), hätte es der Darlegung bedurft, ob der ehemalige Mitangeklagte R. wegen seiner Beteiligung an den hier gegenständlichen Tatvorwürfen bereits verurteilt oder freigesprochen worden ist. Vorliegend erlaubt allein die Formulierung im Rahmen der rechtlichen Würdigung „Hingegen kann eine Anstiftung der Angeklagten zur gewerbsmäßigen Untreue des Zeugen P.        [..]“ den Schluss auf eine vorsätzliche rechtswidrige Haupttat des Zeugen P. i.S.d. § 26 Abs. 1 StGB und mithin auf eine Verurteilung. Es wäre jedoch neben dem Verfahrensgang insbesondere das Aussageverhalten des Zeugen R. in den Blick zu nehmen gewesen. Denn das Landgericht hätte sich mit der nicht fern liegenden Gefahr auseinandersetzen müssen, dass der frühere Mitangeklagte sich durch sein Aussageverhalten Vorteile im Hinblick auf seine eigene Verurteilung / Freisprechung verspricht und auch ggfs. einen nicht Geständigen zu Unrecht belastet (vgl. BGH a.a.O., m.w.N.).

Die so aufgezeigten Darstellungsmängel führen zu einer Urteilsaufhebung. Denn es ist dem Senat aus vorstehenden Erwägungen nicht möglich, die landgerichtliche Annahme, der zufolge die Bekundungen des Zeugen R. „in sich nachvollziehbar und widerspruchsfrei“ waren, zu überprüfen. In einer erneuten Berufungshauptverhandlung wird die Strafkammer daher den Verfahrensgang beginnend mit der Kenntniserlangung der Strafverfolgungsbehörden von dem verfahrensgegenständlichen Sachverhalt bis hin zu einer Verurteilung des nunmehrigen Zeugen R. sowie das jeweilige Aussageverhalten in die Hauptverhandlung einzuführen und entsprechend zu würdigen haben.

Beweiswürdigung I: Zweifelssatz und Aussage-gegen-Aussage

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Und auch nicht mehr ganz taufrisch ist das BGH, Urt. v. 25.04.2018 – 2 StR 194/17.

Das ist allerdings auch erst später auf der Homepage des BGH eingestellt worden. Es geht um Beweiswürdigung, Zweifelssatz und Aussage-gegen-Aussage:

„1. Die Beweiswürdigung unterliegt keinen rechtlichen Bedenken.

a) Das Tatgericht ist nicht schon dann aufgrund des Zweifelssatzes an der Verurteilung eines Angeklagten gehindert, wenn „Aussage gegen Aussage“ steht und keine weiteren belastenden Indizien vorliegen (vgl. BGH, Urteil vom 29. Juli 1998 – 1 StR 94/98, BGHSt 44, 153, 158). Wird die Tat vom mutmaßlichen Opfer in einer Zeugenaussage geschildert, kann der Angeklagte auf dieser Grundlage verurteilt werden, wenn das Tatgericht von der Glaubhaftigkeit der Aussage dieses einzigen Belastungszeugen überzeugt ist. Der Tatrichter muss sich dabei bewusst sein, dass die Aussage dieses Zeugen einer besonderen Glaubhaftigkeitsprüfung zu unterziehen ist, zumal der Angeklagte in solchen Fällen wenige Verteidigungsmöglichkeiten besitzt. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, dass der Tatrichter alle Umstände, welche die Entscheidung beeinflussen können, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat (vgl. Senat, Beschluss vom 10. Januar 2017 – 2 StR 235/16, StV 2017, 367, 368 mwN). Aus den Urteilsgründen muss sich ergeben, dass die einzelnen Beweisergebnisse nicht nur isoliert gewertet, sondern in eine umfassende Gesamtwürdigung eingestellt wurden (vgl. Senat, Urteil vom 22. April 2015 – 2 StR 351/14). Hierbei sind das Gewicht und Zusammenspiel der einzelnen Indizien in einer Gesamtschau zu bewerten (vgl. Senat, Beschluss vom 20. Juli 2016 – 2 StR 59/16, NStZ-RR 2016, 382; Beschluss vom 4. April 2017 – 2 StR 409/16, StV 2018, 193, 194).

b) Den danach an die Sachdarstellung und die Beweiswürdigung zu stellenden Anforderungen genügt das angefochtene Urteil.

Insbesondere sind keine Lücken in der Beweiswürdigung oder Erörterungsmängel zu verzeichnen. Das sachverständig beratene Landgericht hat nicht übersehen, dass die Äußerungen der Nebenklägerin nach erstmaliger Erhebung von Missbrauchsvorwürfen wechselnd waren, was es jedoch mit den jeweiligen Gegebenheiten in der Familie erklärt hat. Auch hat es erkannt, dass die Nebenklägerin durch verschiedene Personen aus dem familiären Umfeld, Mitarbeitern des Jugendamts und Sachverständigen im familiengerichtlichen Verfahren sowie im Strafverfahren vielfach mit dem Thema des sexuellen Missbrauchs konfrontiert war. Es hat aber eine suggestive Beeinflussung mit der Folge der Erinnerungsverfälschung rechtsfehlerfrei ausgeschlossen. Rechtlich nicht zu beanstanden ist auch, dass das Landgericht dem Aussageverhalten des Bruders der Nebenklägerin im Ergebnis keine Beweisbedeutung beigemessen hat. Die Aussageentstehung und -entwicklung, die Aussagemotivation der Nebenklägerin sowie die Qualität ihrer Angaben hat das Landgericht berücksichtigt. Daraus hat es Hinweise auf die Glaubhaftigkeit der den Angeklagten belastenden Angaben gewonnen, die einzelne Glaubhaftigkeitsbedenken wegen Inkonstanz in Teilbereichen der Angaben sowie Beurteilungsunsicherheiten wegen zwischenzeitlicher Aktenlektüre der Nebenklägerin zurücktreten lassen. Dagegen ist rechtlich nichts zu erinnern.“

OWi III: Die Einlassung des Betroffenen gehört ins Urteil, oder: Sonst lückenhaft

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Und die dritte Entscheidung des heutigen Tages befasst sich ebenfalls mit den Urteilsgründe. Auch sie bringt nichts Neues, sondern zeigt einen Fehler auf, der ebenfalls häufig gemacht wird. es wird nämlich im OWi-Urteil die Einlassung des Betroffenen nicht mitgeteilt. das beanstandet das OLG Saarbrücken im OLG Saarbrücken, Beschl. v. 24.01.2019 – Ss BS 107/2018 (76/18) -, über den der Kollege Gratz ja schon vor einiger Zeit berichtet hat:

1. Zwar sind an die Gründe eines tatrichterlichen Bußgeldurteils keine übertrieben hohen Anforderungen zu stellen. Gleichwohl gilt für sie gemäß § 46 Abs. 1 OWiG die Vorschrift des § 267 StPO sinngemäß und damit für ihren Inhalt grundsätzlich nichts anderes als im Strafverfahren. Auch die Gründe eines Bußgeldurteils müssen so beschaffen sein, dass dem Rechtsbeschwerdegericht die Nachprüfung einer richtigen Rechtsanwendung ermöglicht wird (vgl. OLG Bamberg, Beschl. v. 02.04.2015 – 2 Ss OWi 251/15, juris Rn. 13; Senatsbeschluss vom 5. November 2015 – Ss (BS) 76/2015 (44/15 OWi) -, Zfsch 2016, 352 ff. und juris; OLG Karlsruhe, Beschl. v. 15.09.2016 – 2 (7) SsBs 507/16, juris Rn. 8; Göhler/Seitz/Bauer, OWiG, 17. Aufl., § 71 Rn. 42; KK-OWiG/Senge, 5. Aufl., § 71 Rn. 106). Das gilt auch für die Beweiswürdigung, weil das Rechtsbeschwerdegericht nur so in den Stand versetzt wird, die Beweiswürdigung des Tatrichters auf Lücken, Unklarheiten, Widersprüche sowie auf Verstöße gegen Denkgesetze und gesicherte Erfahrungssätze zu überprüfen (vgl. OLG Karlsruhe, a. a. O.; Göhler/Seitz/Bauer, a. a. O., § 71 Rn. 43; KK-OWiG/Senge, a. a. O., § 71 Rn. 107). Die den Tatsachenfeststellungen zugrunde liegende Beweiswürdigung muss daher im Regelfall erkennen lassen, ob und wie sich der Betroffene eingelassen hat, ob und warum der Richter der Einlassung folgt oder ob und inwieweit er die Einlassung als widerlegt ansieht; schweigt der Betroffene oder bestreitet er die Tat, müssen die Urteilsgründe die tragenden Beweismittel wiedergeben und sich mit ihnen auseinandersetzen (vgl. Senatsbeschluss vom 5. November 2015, a. a. O.; OLG Karlsruhe, a. a. O.; Göhler/Seitz/Bauer, a. a. O., § 71 Rn. 43; KK-OWiG/Senge, a. a. O., § 71 Rn. 107 m. w. N.). Das Fehlen einer zumindest gestrafften Darstellung der Einlassung des Betroffenen in den Urteilsgründen sowie gegebenenfalls einer Beweiswürdigung, die sich mit den tragenden Beweismitteln und deren Ergebnissen auseinandersetzt, begründet auch im Bußgeldverfahren in aller Regel einen sachlich-rechtlichen Mangel des Urteils (vgl. OLG Bamberg, a. a. O.; Senatsbeschluss vom 5. November 2015, a. a. O.; KK-OWiG/Senge, a. a. O., § 71 Rn. 107 m.w. N.).

2. Diesen Anforderungen genügen die Gründe des angefochtenen Urteils – wie die Verteidigerin in ihrer Gegenerklärung vom 10. Januar 2019 zutreffend ausgeführt hat – nicht. Aus der – überflüssigen formelhaften (vgl. Senatsbeschluss vom 5. November 2015, a. a. O.; Meyer-Goßner/Schmitt, a. a. O., § 267 Rn. 12a) – Aufzählung der verwendeten Beweismittel eingangs der Gründe des angefochtenen Urteils lässt sich zwar entnehmen, dass sich der Betroffene eingelassen hat (“ … auf Grund der Einlassung seitens d. Betroffenen“). Nicht mitgeteilt wird jedoch der Inhalt dieser Einlassung. Im weiteren Verlauf der – Feststellungen, Beweiswürdigung und rechtliche Wertungen vermischenden – Urteilsgründe heißt es lediglich, dass seitens des Betroffenen keine konkreten Messfehler oder Unregelmäßigkeiten vorgebracht worden seien, sondern sich der Vortrag auf – nicht näher ausgeführte – „entscheidungsunerhebliche abstrakte Einwände gegen die Messung in Form der ,gutachterlichen Sachstandsbewertung‘ der VUT vom 22.05.2018“ beschränkt habe. Abgesehen davon, dass die Einwände des Betroffenen gegen die Messung zumindest in gestraffter Form hätten dargestellt werden müssen, lassen die Gründe des angefochtenen Urteils jegliche Ausführungen dazu vermissen, wie sich der Betroffene im Übrigen zum Tatvorwurf eingelassen hat. Insbesondere hat das Amtsgericht seine Überzeugung von der Fahrereigenschaft des Betroffenen ausdrücklich auf einen Vergleich der Gesichtsmerkmale des in der Hauptverhandlung anwesenden Betroffenen mit dem sich in der Akte befindenden Messbild gestützt, ohne mitzuteilen, ob und wie sich der Betroffene insoweit eingelassen hat. Dementsprechend fehlt auch jedwede Auseinandersetzung mit einer (möglichen) Einlassung des Betroffenen. Es kann daher nicht ausgeschlossen werden, dass sich der Betroffene bezüglich des ihm zur Last gelegten Geschwindigkeitsverstoßes substantiiert verteidigt hat und der Tatrichter die Bedeutung der Betroffeneneinlassung verkannt oder sie rechtlich unzutreffend gewürdigt hat (vgl. OLG Karlsruhe, a. a. O., juris Rn. 9).“

OWi II: Die Identifizierung des Motorradfahrers aufgrund eines SV-Gutachtens, oder: Lückenhafte Beweiswürdigung

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Bei der zweiten Entscheidung, die ich vorstelle, handelt es sich um den OLG Hamm, Beschl. v. 27.1.2018 – 4 RBs 391/18 -, der sich zu den Anforderungen an die Urteilsgründe verhält, wenn das AG den Betroffenen aufgrund eines anthropologischen Sachverständigengutachtens als Fahrer identifiziert. Das OLG beanstandet die Beweiswürdigung des AG. Das, was es ausführt ist nichts Neues, aber: Es wird immer wieder falsch gemacht.

Das angefochtene Urteil weist durchgreifende, auf die Sachrüge hin beachtliche, Rechtsfehler in der Beweiswürdigung auf.

Grundsätzlich ist die Beweiswürdigung Sache des Tatrichters. Das Revisions- bzw. Rechtsbeschwerdegericht kann nur eingreifen, wenn sie rechtsfehlerhaft ist, insbesondere wenn sie Widersprüche oder erhebliche Lücken aufweist oder mit Denkgesetzen oder gesicherten Erfahrungssätzen nicht vereinbar (OLG Hamm, Beschluss vom 08. Juni 2017 – III-4 RVs 64/17 –, Rn. 15, juris m.w.N.).

„Die Beweiswürdigung im angefochtenen Urteil ist hinsichtlich der Täteridentifizierung lückenhaft.

Das Amtsgericht stützt seine Überzeugungsbildung in einer Zusammenschau im Wesentlichen darauf, dass die sichergestellte Motorradbekleidung nebst Helm mit der vom Täter auf dem Messfoto getragenen Bekleidung übereinstimme, wobei es keine Anhaltspunkte dafür gebe, dass die Kleidung verliehen worden sein oder von einer anderen Person getragen worden sein könnte, und dass ein anthropologisches Gutachten der Sachverständigen ergeben habe, dass eine Identität des Betroffenen mit dem Täter „maximal möglich“ sei. Ferner stimme der Betroffene von der Statur und Größe her deutlich mit dem Fahrer auf dem Messfoto überein.

Soweit es um die Bekleidung und den Helm als Identifizierungsmerkmale geht, führt noch nicht zur Lückenhaftigkeit und Aufhebung, dass zunächst unklar bleibt, bei wem die Bekleidung sichergestellt wurde und was sie mit dem Betroffenen zu tun hat. Auf S. 4 UA (bzgl. des Helms) bzw. auf S. 5 UA (bzgl. der Bekleidung) wird mitgeteilt, dass diese bei dem Betroffenen sichergestellt wurde und dass es weitere Fotos von ihm gibt, die ihn mit dieser Bekleidung zeigen. Auch liegt auf S. 5 UA ein noch hinreichender Verweis i.S.v. §§ 71 OWiG; 267 Abs. 1 S. 3 StPO auf das Messfoto Bl. 44 d. A. vor. Dieses ist auch von guter Qualität.

Die Lückenhaftigkeit der Beweiswürdigung ergibt sich aber aus Folgendem: Nach den Urteilsgründen (UA S. 3) ist die bei dem Betroffenen sichergestellte Motorradkleidung aus schwarzem Leder gefertigt. Bei dem Messfoto, welches der Senat bei seiner Beurteilung aufgrund der Verweisung zu Grunde legen kann, handelt es sich um eine Aufnahme in schwarz-weiß. Dort erscheint die Hose des Fahrers zwar schwarz, der obere Teil der Bekleidung aber deutlich heller (heller Grauton). Insoweit erschließt sich für das Rechtsbeschwerdegericht nicht, wie das Amtsgericht zu der Überzeugung kommt, dass die sichergestellte Motorradbekleidung mit der auf dem Foto übereinstimmt. Ein solcher Schluss erscheint zwar nicht ausgeschlossen, etwa aufgrund unterschiedlichen Reflektionsverhaltens, unterschiedlichem Material etc. Er hätte aber der Darlegung bedurft.  Ähnliches gilt für die auf der sichergestellten Motorradbekleidung erkennbaren Schriftzüge „E“ auf Brust und an den Unterarmen. Das Amtsgericht führt dazu zwar aus, dass diese Schriftzüge nicht zwangsläufig erkennbar sein müssten, weil die Reflektion von weißem Leder (Schriftzüge) deutlich geringer ausfalle als von weißem Kunststoff (die stark reflektierenden Teile an Helm und Motorrad), und das Messfoto im Bereich der Schriftzüge eine leichte Aufhellung aufweise. Dabei hat sich das Amtsgericht aber nicht mit dem Umstand auseinandergesetzt, dass ausweislich des Fotos Bl. 166 d.A., auf das es verwiesen hat, unmittelbar oberhalb des Brustschriftzuges offenbar abgesetzte Taschen mit Reisverschlüssen erkennbar sind und die dünne strichartige Aufhellung im Brustbereich des Fahrers, welche auf dem Messfoto erkennbar ist, auch hiervon stammen kann. Diese Aufhellung erscheint zudem deutlich schmaler als der Schriftzug.

Auch soweit das anthropologische Sachverständigengutachten betroffen ist, ist die Beweiswürdigung lückenhaft. Nach ständiger obergerichtlicher und höchstrichter-licher Rechtsprechung muss der Tatrichter, der ein Sachverständigengutachten eingeholt hat und ihm Beweisbedeutung beimisst, auch dann, wenn er sich dem Gutachten des Sachverständigen, von dessen Sachkunde er überzeugt ist, anschließt, in der Regel die Ausführungen des Sachverständigen in einer in sich geschlossenen (wenn auch nur gedrängten) zusammenfassenden Darstellung unter Mitteilung der zugrundeliegenden Anknüpfungstatsachen und der daraus gezogenen Schlussfolgerungen im Urteil wiedergeben, um dem Rechtsmittelgericht die gebotene Nachprüfung zu ermöglichen (OLG Hamm, Beschluss vom 22. Juni 2017 – 4 RBs 216/17 –, Rn. 3, juris m.w.N.). Das Amtsgericht beschränkt sich hier auf die Mitteilung des Ergebnisses der Sachverständigen, dass diese (offenbar wegen des getragenen Helms) nur eine stark eingeschränkte Anzahl auswertbarer Merkmale gefunden habe und in welchen Merkmalen sie eine Übereinstimmung zwischen Messfoto und Betroffenem sie gefunden hat. Insoweit beschränken sich die Urteilsgründe auf eine bloße Wiedergabe der Ausführungen der Sachverständigen ohne eigene (vgl. § 261 StPO) Beweiswürdigung des Gerichts (vgl. OLG Hamm a.a.O.). Entsprechende Ausführungen hätten sich hier um so mehr aufgedrängt, als die von der Sachverständigen beschriebenen Merkmale auf dem Messfoto Bl. 44 aufgrund der geringen Größe des Fotos und des vom Täter getragenen Helms mit heruntergeklappter Visierscheibe, nicht erkannt werden können. Möglicherweise mögen diese Merkmale auf einer etwaigen Vergrößerung erkennbar seien. Ob die Sachverständige eine solche bei ihrer Beurteilung zu Grunde gelegt hat wird aber in den Urteilsgründen – welche die auf die Überprüfung auf die Sachrüge hin allein maßgebliche Überprüfungsgrundlage für das Rechtsbeschwerdegericht sind – nicht mitgeteilt. Auch wird darin nicht auf eine solche Vergrößerung verwiesen.“

Freispruch, weil Täter nicht erkannt, oder: So hätten wir gern das Urteil

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Schon etwas älter ist der OLG Bamberg, Beschl. v. 10.07.2018 – 3 Ss OWi 870/18, der zu den Anforderungen an ein freisprechendes Bußgeldurteil wegen Nichterkennens des Betroffenen durch das Tatgericht aufgrund eines Lichtbildabgleichs Stellung nimmt. Das AG hatte den Freispruch des Betroffenen ein wenig knapp begründet, was dann zur Aufhebung geführt hat. Denn:

„1. Kann sich ein Gericht nicht von der Täterschaft eines Betr. überzeugen, ist zunächst der ihm zur Last gelegte Vorwurf aufzuzeigen. Sodann muss in einer geschlossenen Darstellung dargelegt werden, welchen Sachverhalt das Gericht als festgestellt erachtet. Erst auf dieser Grundlage ist zu erörtern, aus welchen Gründen die für einen Schuldspruch erforderlichen zusätzlichen Feststellungen nicht getroffen werden können. Dies hat so vollständig und genau zu geschehen, dass das Rechtsbeschwerdegericht in der Lage ist nachzuprüfen, ob der Freispruch auf rechtlich bedenkenfreien Erwägungen beruht (st.Rspr., vgl. nur BGH, Urt. v. 24.05.2017 – 2 StR 219/16; 16.06.2016 – 1 StR 50/16  [jeweils bei juris]; 18.05.2016 – 2 StR 7/16 = wistra 2016, 401 und vom 05.02.2013 – 1 StR 405/12 = NJW 2013, 1106 = NStZ 2013, 334; OLG Bamberg, Beschl. v. 13.02.2017 – 3 Ss OWi 68/17 = BA 54, 208; Urt. v. 12.11.2014 – 3 OLG 8 Ss 136/14 = OLGSt StPO § 267 Nr 27, jew. m.w.N.). Lassen sich ausnahmsweise überhaupt keine Feststellungen treffen, was im vorliegenden Verfahren aber von vornherein fern liegt, so ist auch dies in den Urteilsgründen unter Angabe der relevanten Beweismittel darzulegen (vgl. BGH, Urt. v. 10.07.1980 – 4 StR 303/80 = NJW 1980, 2423 = MDR 1980, 949; OLG Bamberg, Beschl. vom 28.09.2017 – 3 Ss OWi 1330/17 [bei juris]).

2. Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil nicht gerecht. Denn es wird nicht mitgeteilt, welche Feststellungen getroffen werden konnten. Vielmehr beschränkt sich das Tatgericht auf die bloße Schilderung eines Geschwindigkeitsverstoßes und den Hinweis, es könne nicht festgestellt werden, wer der Fahrer gewesen sei, der Betr. sei es jedenfalls nicht gewesen. In diesem Zusammenhang fehlt bereits die Mitteilung, ob und ggf. wie der Betr. sich zu dem Tatvorwurf eingelassen hat. Ferner wären vor allem Feststellungen dazu erforderlich gewesen, ob der Betr. ggf. Eigentümer, Besitzer oder Halter des Fahrzeugs war, mit dem der Geschwindigkeitsverstoß begangen wurde. Denn gerade diesen Umständen käme im Rahmen der gebotenen, vom AG allerdings unterlassenen Gesamtwürdigung der Umstände des Einzelfalls durchaus ein beachtlicher Indizwert insbesondere unter Berücksichtigung einer etwaigen Einlassung und deren Plausibilität zu (OLG Bamberg a.a.O.). Aufgrund dieses Darstellungsmangels kann der Senat schon im Ansatz nicht prüfen, ob nicht auch Indizien vorhanden sind, die bei der erforderlichen Gesamtschau für eine Täterschaft des Betr. gesprochen hätten. Das AG blendet diese Gesichtspunkte aber von vornherein völlig aus und verstellt sich so den Blick auf eine sorgfältige, dem Tatrichter obliegende Beweiswürdigung, bei der im Rahmen einer Gesamtschau alle für und gegen die Täterschaft des Betr. sprechenden Umstände zu berücksichtigen wären….“

Und wie es geht bzw. zu gehen hat, teilt das OLG dem AG dann mit:

3. Von dieser Gesamtwürdigung war das AG auch nicht etwa deshalb enthoben, weil es zu der Überzeugung gelangt war, dass der Betr. nicht der Fahrer gewesen sei, zumal die diesem Ergebnis zugrunde liegende Beweiswürdigung für sich genommen ebenfalls grundlegende Rechtsfehler aufweist. Das AG hat seine Überzeugung auf einen Abgleich des Betr. mit den Messbildern, auf die es gemäß § 46 I OWiG i.V.m. § 267 I 3 StPO in den Urteilsgründen verwiesen hat, gestützt. Sein Ergebnis, dass der Betr. nicht der Fahrer gewesen sei, hat es aber allein damit begründet, dass auf den Messbildern zwar lediglich die Augenpartie und der Mund „uneingeschränkt“ und der „noch erahnbare“ Haaransatz „bedingt“ erkennbar gewesen seien; diese stimmten jedoch mit der Erscheinung des Betr. nicht überein. Hinzu komme, dass der Betr. Brillenträger sei, während der Fahrer auf dem Messfoto keine Brille trage. Allein aufgrund dieser Feststellungen ist das AG zu der Erkenntnis gelangt, dass der Betr. als Fahrer „auszuschließen“ sei. Diese Begründung ist von vornherein nicht tragfähig, weil die Beweiswürdigung auch insoweit lückenbehaftet ist.

a) Das AG zieht schon nicht in Erwägung, dass eine Aussage über die Identität des Betr. mit dem Fahrer bzw. deren positiver Ausschluss, zu dem das AG gelangt ist, deswegen auf einer unsicheren Tatsachenbasis beruht, weil auf den Lichtbildern nach eigener Einschätzung des AG nur wenige Teile des Gesichtes erkennbar sind.

b) Ebenso ist es nicht haltbar, wenn das AG lediglich auf wenige Merkmale (Augenpartie und Nase sowie den nach eigener Einschätzung lediglich „erahnbaren“ Haaransatz) abhebt. Die vom AG gezogene Schlussfolgerung, auf Grund dieser Merkmale sei der Betr. als Fahrer auszuschließen, stellt schon einen Verstoß gegen Denkgesetze dar, weil sich aus einem nur „erahnbahren“ Merkmal nach der Logik ein verlässlicher Schluss auf die Nichtidentität verbietet.

c) Ungeachtet dieser Unzulänglichkeiten ist die Beweiswürdigung aber auch deshalb lückenhaft, weil das AG überhaupt nicht in seine Überlegungen einstellt, dass die vermeintlichen, aufgrund einer bloßen Inaugenscheinnahme konstatierten Abweichungen von Augenpartie und Nase für einen Laien ohne Sachkunde auf dem Gebiet der Anthropologie keine verlässliche Aussage zulassen. Bereits durch technische Einflüsse wie etwa die Brennweite der Kamera, den Abstand zwischen Kamera und Abgebildetem, die Linseneigenschaften, die Beleuchtung und dergleichen mehr kann es für den Betrachter ohne besondere Sachkunde zu scheinbaren Unähnlichkeiten kommen (vgl. hierzu eingehend Buck/Krumholz[Hrsg.]-Rösing, Sachverständigenbeweis im Verkehrs- und Strafrecht, 2. Aufl. S. 302 f.). Ferner können die Ernährung und die Lebensweise ebenso wie Krankheiten zu einer kurzfristigen Beeinflussung der Weichteildicken führen (vgl. Rösing a.O. S. 304). Aber auch den sich geradezu aufdrängenden Gesichtspunkt, dass schon durch geringfügige Veränderungen der Mimik sich vermeintliche Unähnlichkeiten einzelner Gesichtspartien ergeben können, hat das AG nicht bedacht, sondern es ist vorschnell und ohne kritische Hinterfragung dieser Selbstverständlichkeiten zu der Überzeugung gelangt, dass der Betr. nicht der Fahrer gewesen sei. Es hat damit eine Sachkunde für sich in Anspruch genommen, über die es erkennbar nicht verfügte.

d) Schließlich ist der Hinweis darauf, der Betr. sei „Brillenträger“, während der Fahrer auf dem Messfoto keine Brille trage, von vornherein verfehlt. Entgegen der Auffassung des AG kommt dem kein Indizwert zu, weil es sich nicht um ein dauerhaftes Merkmal, sondern um einen äußeren Umstand handelt, der jederzeit veränderbar ist.“