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StGB I: Weisungsverstoß in der Führungsaufsicht, oder: Ausreichende Feststellung in den Urteilsgründen?

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Ich stelle heute dann mal wieder StGB-Entscheidungen vor. Alle drei stammen aus der Instanz.

Zunächst berichte ich über den OLG Köln, Beschl. v. 07.01.2025 – 1 ORs 226/24 – zum erforderlichen Umfang der tatsächlichen Feststellungen bei einer Verurteilung wegen Verstoß gegen Weisungen während der Führungsaufsicht. Das OLG hat auf die Sprungrevision des Angeklagten dessen Verurteilung durch das AG aufgehoben:

„2. Das Rechtsmittel hat (vorläufig) Erfolg; es führt gemäß §§ 353, 354 Abs. 2 StPO zur Aufhebung des angefochtenen Urteils samt der Feststellungen und zur Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz.

Der Schuldspruch gem. § 145a StGB – welcher im Verurteilungsfalle richtig auf „Verstoß gegen Weisungen während der Führungsaufsicht in zwei Fällen“ lauten müsste – wird von den getroffenen Feststellungen nicht getragen.

Zum Tatgeschehen hat das Amtsgericht (lediglich) folgendes festgestellt:

„Die Angeklagte steht gemäß Beschluss des Landgerichts Köln vom 30.10.2019 – 121 StVK 281/19 – seit dem 12.12.2019 unter Führungsaufsicht.

Durch Konkretisierungsbeschluss des Landgerichts Köln vom 13.03.2023 ist der Angeschuldigten aufgegeben worden, jeden ersten Montag eines Monats in der Sprechstunde in der Zeit von 14:30 Uhr bis 17:45 Uhr in der Führungsaufsichtsstelle persönlich vorzusprechen. In Kenntnis der Beschlüsse und trotz entsprechender Belehrung über die Konsequenzen etwaigen Verstöße erschien die Angeschuldigte in den Monaten April und Mai 2023 nicht in der Sprechstunde der Führungsaufsichtsstelle.

Wegen Verstoßes gegen Weisungen während der Führungsaufsicht gem. § 145a S. 1 StGB wird bestraft, wer während der Führungsaufsicht gegen eine bestimmte Weisung der in § 68b Abs. 1 StGB bezeichneten Art verstößt und dadurch den Zweck der Maßregel gefährdet.

Die vom Amtsgericht getroffenen Feststellungen sind teilweise lückenhaft und belegen nicht, dass sich die Angeklagte im Sinne von § 145a StGB strafbar gemacht hat.

a) Die Vorschrift des § 145a StGB ist eine Blankettvorschrift, deren Tatbestand erst durch eine genaue Bestimmung der Führungsaufsichtsweisung ausgefüllt wird; erst hierdurch wird die Vereinbarkeit der Norm mit Art. 103 Abs. 2 GG gewährleistet. Voraussetzung ist daher, dass die Weisung rechtfehlerfrei ist (vgl. BGH NStZ 2020, 480). Hierfür muss die Weisung, gegen die die Täterin verstoßen hat, hinreichend bestimmt sein (vgl. nur: Fischer, StGB, 71. Aufl., § 145a Rn 6). Dies ist in den Urteilsgründen darzustellen. In Anbetracht des Gebots aus Art. 103 Abs. 2 GG und des Umstands, dass § 68b Abs. 2 StGB auch nicht strafbewehrte Weisungen zulässt, muss sich zudem aus dem Führungsaufsichtsbeschluss selbst ergeben, dass es sich bei der Weisung, auf deren Verletzung die Verurteilung gestützt werden soll, um eine solche gem. § 68b Abs. 1 StGB handelt, die nach § 145a S. 1 StGB strafbewehrt ist. Dafür ist zwar einerseits eine ausdrückliche Bezugnahme auf § 68b Abs. 1 StGB nicht erforderlich, andererseits wird sie aber ohne weitere Erläuterung regelmäßig nicht ausreichen, um dem Verurteilten die notwendige Klarheit zu verschaffen (zu den vorgenannten Voraussetzungen insgesamt: BGH NStZ 2021, 733).

Dem genügt das Urteil des Amtsgerichts nicht. Die — nach den getroffenen Feststellungen — die Führungsaufsicht begründenden und die Weisungen näher ausformenden Beschlüsse der Strafvollstreckungskammer des Landgerichtes Köln vom 30. Oktober 2019 und vom 3. März 2023 werden in den Urteilsgründen – anders, als es sich zumindest dringend empfiehlt (BGH NStZ-RR 2023, 369) – nur auszugsweise mitgeteilt. Während sich aus den Feststellungen insoweit zwar noch eine hinreichend bestimmte Weisung als solche erkennen lässt, kann jedoch nicht abschließend geprüft werden, ob in dem sie anordnenden Beschluss unmissverständlich klargestellt ist, dass der Verstoß gegen diese Weisung auch strafbewehrt ist. Soweit die Urteilsgründe die Beschlüsse wiedergeben, kann ihnen dies nicht entnommen werden, da lediglich festgestellt wird, dass die Angeklagte „über die Konsequenzen etwaige] Verstöße“ belehrt worden sei. Wann eine Belehrung wie konkret über welche Konsequenzen erfolgt sein soll, bleibt indes im Ungewissen. Die Feststellungen erfahren insoweit auch keine Ergänzung durch die Beweiswürdigung, in welcher „auf den in der Hauptverhandlung verlesenen Beschluss des Landgerichts Bonn [gemeint ist wohl: Köln], BI. 3 ff. d.A.“ Bezug genommen wird. Um den Inhalt einer Urkunde zum Gegenstand der Urteilsgründe zu machen, bedarf es der Wiedergabe des Urkundeninhalts; die bloße Wiedergabe der Blattzahlen ist insoweit unbehelflich (MüKo-StPO/Wenske, 2. Aufl., § 267 Rn. 264). Ein Verstoß gegen eine strafbewehrte Weisung nach § 68b Abs. 1 StGB kann durch die getroffenen Feststellungen mithin nicht belegt werden.

b) Zudem setzt § 145a StGB als konkretes Gefährdungsdelikt (Fischer, StGB, 71. Aufl., § 145a Rn. 22; BeckOK StGB/Heuchemer, 63. Ed., § 145a Rn. 1) voraus, dass durch den Weisungsverstoß eine Gefährdung des Maßregelzwecks eintritt; dies ist dann der Fall, wenn sich die Gefahr weiterer Straftaten erhöht oder die Aussicht ihrer Abwendung verschlechtert hat. Dazu bedarf es eines am Einzelfall orientierten Wahrscheinlichkeitsurteils, das neben dem sonstigen Verhalten der Angeklagten auch die konkrete spezialpräventive Zielsetzung der verletzten Weisung in den Blick nimmt (BGH NStZ-RR 2018, 309; BGH StV 2020, 22; OLG Naumburg StV 2020, 30).

Sowohl zu dem Zweck der Führungsaufsicht als auch zur Gefährdung desselben durch das — alleine festgestellte — zweimalige Fernbleiben der Angeklagten von Gesprächsterminen in der Führungsaufsichtsstelle, verhält sich das Urteil des Amtsgerichts überhaupt nicht, sodass die Feststellungen auch insoweit lückenhaft sind und eine Verurteilung nicht zu tragen vermögen.

c) Schließlich tragen die Feststellungen auch den subjektiven Tatbestand des § 145a S. 1 StGB nicht.

Nach § 15 StGB ist ein vorsätzliches Handeln erforderlich, wobei ein bedingter Vorsatz ausreicht. Die Täterin muss wissen, dass eine bestimmte Weisung gegen sie ergangen ist; dass sie im Augenblick der Tat an die Weisung denkt, ist nicht notwendig. Das Vorsatzerfordernis erstreckt sich auch darauf, dass der Weisungsverstoß den Zweck der Maßregel gefährdet. Die Täterin muss also wissen und zumindest billigend in Kauf nehmen, dass sie durch ihren Weisungsverstoß wieder in die Gefahr der Begehung weiterer Straftaten geraten könnte. Ein bedingter Vorsatz ist auch dann möglich, wenn die Täterin hofft, jener Versuchung widerstehen zu können. Jedoch können die subjektiven Tatbestandsvoraussetzungen dann fehlen, wenn die Täterin aus einer besonderen, nachvollziehbaren Situation heraus der Weisung keine Folge leistet. Es kommt insbesondere in Betracht, dass der bewusste Weisungsverstoß aus anerkennenswerten Motiven — wenn schon nicht mit einer Rechtfertigung, z.B. bei der Nothilfe — erfolgt und damit einhergeht, dass die Täterin die Gefährdung des Maßregelzwecks nicht billigend in Kauf nimmt (MüKoStGB/Groß/Anstötz, 4. Aufl., § 145a Rn. 18).

Auch hierzu fehlen Feststellungen in dem angegriffenen Urteil. Insbesondere nach der im Urteil wiedergegebenen Einlassung der Angeklagten, nach der sie aufgrund ihrer COPD-Erkrankung häufig Angstzustände habe und nicht vor die Tür gehen könne (S. 2, 7 des Urteils), hätte sich hier eine Auseinandersetzung mit der Frage aufgedrängt, ob vorliegend auch ein nicht strafbarer fahrlässiger Verstoß gegen die erteilte Weisung oder eine vorsätzliche Terminsversäumnis, allerdings ohne Inkaufnahme einer – ebenfalls bislang nicht festgestellten (s.o.) – Maßregelgefährdung in Betracht kommt.“

KiPo III: Strafzumessung beim sexuellen Missbrauch, oder: Lange Zeit zwischen den Taten und dem Urteil

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Und dann noch als dritte Entscheidung der BGH, Beschl. v. 14.01.2025 – 4 StR 302/24. Es ist zwar nicht ein „KiPo-Fall“, aber es geht u.a. um schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes. Der BGH beanstandet die Strafzumessung des Landgerichts.

„1. Während die rechtliche Nachprüfung des Urteils aufgrund der Revisionsrechtfertigung zum Schuldspruch keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben hat, hält der Strafausspruch rechtlicher Prüfung nicht stand. Das Landgericht hat bei der Begründung der Zumessung der Einzelstrafen den langen zeitlichen Abstand zwischen den Taten und dem Urteil nicht berücksichtigt.

a) Nach den getroffenen Feststellungen beging der zum Zeitpunkt des erstinstanzlichen Urteils 85-jährige Angeklagte die 17 Taten, die sämtlich den (schweren) sexuellen Missbrauch von Kindern zum Gegenstand haben, im Zeitraum von 2013 bis zum ersten Quartal 2018; er ist danach nicht mehr straffällig geworden.

b) Eine vom Täter – wie hier der Fall ? nicht verschuldete lange Zeitspanne zwischen Tat und Urteil ist auch in Fällen des sexuellen Missbrauchs von Kindern ein bestimmender Strafzumessungsgesichtspunkt (vgl. BGH, Urteil vom 4. Oktober 2017 – 2 StR 219/15 Rn. 16 f.; Beschluss vom 12. Juni 2017 – GSSt 2/17, BGHSt 62, 184, 192); vor allem dann, wenn der Angeklagte seither nicht mehr straffällig geworden ist (vgl. BGH, Beschluss vom 1. Juni 2022 – 6 StR 191/22 Rn. 3). Dies hätte das Landgericht in den Fällen II. 2. d) und II. 2. e) der Urteilsgründe bei der Prüfung eines minder schweren Falls des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern nach § 176a Abs. 4 StGB (i. d. Fassung vom 21. Januar 2015) und im Übrigen bei der konkreten Strafzumessung der jeweiligen Einzelstrafen berücksichtigen müssen.

c) Die Einzelstrafen können deshalb nicht bestehen bleiben. Der Senat kann nicht ausschließen, dass sich der Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten auf die Höhe der Einzelstrafen ausgewirkt hat. Die Aufhebung der Einzelstrafen zieht die Aufhebung des Gesamtstrafenausspruchs nach sich. Die Feststellungen sind von der Aufhebung nicht betroffen (§ 353 Abs. 2 StPO). Ergänzende Feststellungen, die zu den getroffenen nicht in Widerspruch stehen, sind zulässig.

2. Der Senat weist darauf hin, dass die neu zur Entscheidung berufene Strafkammer bei der Bemessung der Einzelstrafen und der Gesamtstrafe das fortgeschrittene Alter des Angeklagten mehr als bislang auch im Hinblick auf die Wirkung der Strafe auf sein zukünftiges Leben in den Blick zu nehmen haben wird (vgl. BGH, Urteil vom 27. April 2006 – 4 StR 572/05 Rn. 13).“

KiPo I: Sichverschaffen jugendpornografischer Inhalte, oder: „aufreizend geschlechtsbetonte Körperhaltung“

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Heute stelle ich drei Entscheidungen zu „Kipo-Verfahren“ vor.

Ich starte mit dem BGH, Urt. v. 20.11.2024 – 2 StR 170/24. Das LG hatte den Angeklagten u.a. wegen Unternehmens des Sichverschaffens jugendpornographischer Inhalte verurteilt.

Dazu hatte das LG folgende Feststellungen getroffen:

„Zu einem nicht näher bestimmbaren Zeitpunkt im Mai 2022 forderte der Angeklagte eine andere, ebenfalls etwa 15 Jahre alte Geschädigte in Kenntnis ihres jugendlichen Alters zur Übersendung von Nacktaufnahmen auf. Dieser Aufforderung kam die Geschädigte nach und übersandte eine Videodatei, in welcher ihre unbekleideten Brüste im Fokus der Kamera stehen. Der Angeklagte speicherte sich dieses Video ab (Fall II.11 der Urteilsgründe).“

Auf die Revision des Angeklagten hat der BGh insoweit aufgehoben und frei gesprochen:

„a) Die hinsichtlich Fall II.11 der Urteilsgründe erfolgte Verurteilung wegen Unternehmens des Sichverschaffens jugendpornographischer Inhalte gemäß § 184c Abs. 3 StGB wird von den Feststellungen nicht getragen; denn diese ergeben nicht, dass die Handlung des Angeklagten sich auf einen jugendpornographischen Inhalt bezog.

aa) Nach § 184c Abs. 3 StGB macht sich strafbar, wer es unternimmt, einen jugendpornographischen Inhalt, der ein tatsächliches Geschehen wiedergibt, abzurufen oder sich den Besitz an einem solchen Inhalt zu verschaffen, oder wer einen solchen Inhalt besitzt. Ein jugendpornographischer Inhalt liegt vor, wenn er sexuelle Handlungen von, an oder vor einer jugendlichen Person, die Wiedergabe einer ganz oder teilweise unbekleideten jugendlichen Person in aufreizend geschlechtsbetonter Körperhaltung oder die sexuell aufreizende Wiedergabe der unbekleideten Genitalien oder des unbekleideten Gesäßes einer jugendlichen Person zum Gegenstand hat. Die Aufnahme des nur unbekleideten Körpers der Person erfüllt für sich diese Voraussetzungen noch nicht (BGH, Beschluss vom 21. November 2023 – 4 StR 72/23, u.a. Rn. 12; vgl. auch BGH, Beschluss vom 3. Dezember 2014 – 4 StR 342/14, BGHR StGB § 184b Abs. 1 Kinderpornographische Schrift 1 Rn. 5).

bb) Daran gemessen tragen die Feststellungen in Fall II.11 der Urteilsgründe die Annahme nicht, die Handlung des Angeklagten habe sich auf einen jugendpornographischen Inhalt bezogen. Denn den Feststellungen lässt sich nicht entnehmen, dass die Geschädigte in aufreizend geschlechtsbetonter Körperhaltung zu sehen oder dies vom Angeklagten beabsichtigt gewesen wäre. Seine Aufforderung bezog sich auf die Übersendung von Nacktaufnahmen, wobei eine aufreizend geschlechtsbetonte Körperhaltung nicht thematisiert wurde. Das übersandte Video zeigte die unbekleideten Brüste, die im Fokus der Kamera standen. Dies stellt keinen jugendpornographischen Inhalt dar.

cc) Da auszuschließen ist, dass in einer neuen Hauptverhandlung weitergehende, die Erfüllung des Tatbestands des § 184c Abs. 3 StGB ergebende Feststellungen getroffen werden könnten, spricht der Senat den Angeklagten im Fall II.11 der Urteilsgründe mit entsprechender Kostenfolge frei.“

Beweise II: Was gehört alles in die Urteilsgründe?, oder: Wie hat sich der Angeklagte eingelassen?

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Und dann habe ich als „Mittagsentscheidung“ hier den BGH, Beschl. v. 30.09.2024 – 6 StR 421/24 -, in dem der BGH mal wieder – wie oft eigentlich schon – beanstandet, dass in den Urteilsgründen die Einlassung des Angeklagten nicht mitgeteilt wird.

„2. Die vom Landgericht getroffenen Feststellungen entbehren einer tragfähigen Beweiswürdigung. Es fehlen Angaben dazu, ob und gegebenenfalls wie sich die Angeklagten zur Sache eingelassen haben.

a) Es entspricht gefestigter Rechtsprechung, dass in den Urteilsgründen wiederzugeben ist, ob und gegebenenfalls wie sich der Angeklagte in der Hauptverhandlung zur Sache eingelassen hat (vgl. etwa BGH, Beschlüsse vom 2. Februar 2021 – 4 StR 471/20, Rn. 4; vom 14. Dezember 2022 ‒ 6 StR 449/22, Rn. 7). Hat er von seinem Schweigerecht Gebrauch gemacht, so ist auch dies mitzuteilen (vgl. BGH, Beschluss vom 30. Dezember 2014 – 2 StR 403/14, NStZ 2015, 299, 300).

b) Diesen Anforderungen wird das Urteil nicht gerecht. Zwar ist den Urteilsgründen zu entnehmen, dass die Feststellungen zu den persönlichen Verhältnissen auf den Angaben der Angeklagten beruhen; auf diejenigen des Angeklagten M. hat die Strafkammer auch ihre Feststellungen zu dessen Stimme und Sprechweise gestützt. Ferner hat der Angeklagte K. in der Hauptverhandlung Angaben bestätigt, die er gegenüber der Jugendgerichtshilfe gemacht hatte, und der Angeklagte M. hat Ausführungen der Sachverständigen zu seinem Lebenslauf bestätigt. Aus diesen von der Strafkammer mitgeteilten Angaben der Angeklagten zu ihren persönlichen Verhältnissen kann der Senat aber nicht den sicheren (Umkehr-)Schluss ziehen, dass sich die Angeklagten nicht zur Sache eingelassen haben (vgl. BGH, Beschlüsse vom 13. August 2020 ‒ 4 StR 629/19, Rn. 5; vom 12. Dezember 2019 – 5 StR 444/19, NStZ 2020, 625, Rn. 5; vom 30. Dezember 2014 – 2 StR 403/14, NStZ 2015, 299, 300).

c) Angesichts der schwierigen Beweislage vermag der Senat ein Beruhen des Urteils auf diesem Rechtsfehler nicht auszuschließen (vgl. BGH, Beschluss vom 12. Dezember 2019 – 5 StR 444/19, NStZ 2020, 625, Rn. 6). Die Feststellungen unterliegen insgesamt der Aufhebung (§ 353 Abs. 2 StPO).“

Beweise I: Isolierte Wiedergabe der Zeugenaussagen, oder: Welche Angaben welches Zeugen für welche Tat?

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In die neue Woche geht es dann mit zwei Entscheidungen zur Beweiswürdigung.

Ich beginne mit dem OLG Saarbrücken, Beschl. v. 07.11.2024 – 1 Ss 33/24. Das LG hat den Angeklagten wegen wegen Beleidigung in drei tateinheitlichen Fällen in Tateinheit mit Bedrohung in drei tateinheitlichen Fällen in Tatmehrheit mit Beleidigung  verurteilt. Dagegen die Revision, die mit der Sachrüge Erfolg hatte. Das OLG beanstandet die Beweiswürdigung des LG:

„a) Zwar ist die Beweiswürdigung Sache des Tatgerichts (§ 261 StPO), dem allein es obliegt, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen, so dass das Revisionsgericht die Würdigung der wesentlichen beweiserheblichen Umstände grundsätzlich hinnehmen muss (vgl. nur BGH NStZ 1991, 548 m.w.N.; NStZ-RR 2006, 82, 83; Senatsbeschlüsse vom 17. Februar 2022 – Ss 62/21 (1 Ss 1/22) –, 9. November 2022 – Ss 54/22 (37/22) und 4. November 2024 1 Ss 31/24 –). Das Revisionsgericht hat jedoch zu prüfen, ob dem Tatgericht im Rahmen der Beweiswürdigung Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht insbesondere dann der Fall, wenn die Beweiswürdigung lückenhaft, widersprüchlich oder unklar ist oder gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt (st. Rspr., vgl. nur BGH, Urteile vom 20. April 2021 – 1 StR 286/20 -, juris und vom 26. Januar 2021 – 1 StR 376/20 -, juris; Beschluss vom 14. April 2021 – 4 StR 91/21 -, juris, jeweils m.w.N.; Senatsbeschlüsse vom 4. März 2016 – Ss 11/2016 (10/16) -, vom 18. Mai 2016 – Ss 30/2016 (23/16) -, vom 29. November 2022 – Ss 54/22 (37/22) – und vom 4. November 2024 – 1 Ss 31/24 -).

b) Auch in Ansehung dieses eingeschränkten Prüfungsmaßstabs hält die Beweiswürdigung des angefochtenen Urteils hinsichtlich der Verurteilung des Angeklagten wegen Bedrohung in drei tateinheitlichen Fällen (Tat Ziff. III.1. der Urteilsgründe) sachlich-rechtlicher Prüfung nicht stand, da den Urteilsgründen nicht zu entnehmen ist, worauf die Feststellung beruht, der Angeklagte habe sowohl dem Zeugen K.G. als auch den Zeugen M.G. und A.G. durch ein Herumfuchteln mit einem erhoben in der Hand getragenen Schirm in Aussicht gestellt, dass er sie damit schlagen werde (UA S. 4). Das Gericht beschränkt sich auf die isolierte Wiedergabe der Aussagen der vernommenen Zeugen, ohne darzulegen, welche Tatbestandsmerkmale des objektiven und subjektiven Tatbestands es jeweils aufgrund welcher Angaben welches Zeugen für verwirklicht hält. Wie es zur Annahme einer Bedrohung in drei tateinheitlichen Fällen gelangt, die voraussetzen würde, dass sämtliche Drohungsadressaten die Drohung wahrgenommen und deren Sinn verstanden haben (vgl. Eisele in: Schönke/ Schröder, StGB, 30. Aufl., § 241 Rn. 15; Sinn in: MüKo-StGB, 4. Aufl., § 241 Rn. 21), bleibt offen, nachdem keiner der unmittelbaren Tatzeugen Entsprechendes in der Hauptverhandlung bekundet hat. Insbesondere konnten sich weder der Zeuge M.G. (UA S. 13) noch der Zeuge A.G. (UA S. 13 f.) an eine solche Bedrohung erinnern. Der Zeuge K.G. (UA S. 14) hat außer von einem Einsatz des Schirms gegen die Polizei nur von einer Bedrohung zu seinem eigenen Nachteil berichtet. Allein die Angaben der als Vernehmungsbeamtin vernommenen und beim eigentlichen Tatgeschehen nicht anwesenden Zeugin Z. (UA S. 17 f.) belegen die Annahme einer Bedrohung in drei tateinheitlichen Fällen bereits deshalb nicht, weil die Aussagen der Zeugen M.G.K, K.G. und A.G. ihr gegenüber uneinheitlich waren, der Angeklagte nämlich nach Angaben des Zeugen M.G. mit dem Schirm bedrohlich auf alle drei Brüder losgegangen sein soll, während die beiden anderen Zeugen jeweils Bezeichnung seiner Person als „Scheißausländer“ nicht zu bestätigen (UA S. 16). Vielmehr hat er bekundet, der Angeklagten habe ihn als „Scheißkanake“ oder „Dreckskanake“, „vielleicht“ aber auch als „Scheißausländer“ oder „Drecksausländer“ beschimpft oder „alles davon“ gesagt. Es habe inzwischen so viele Vorfälle mit rassistischen Beleidigungen seitens des Angeklagten gegeben, dass es ihm schwerfalle, einzelne Wortlaute einzelnen Daten zuzuordnen.

c) Die rechtsfehlerhafte Beweiswürdigung hinsichtlich der Verurteilung des Angeklagten wegen Bedrohung in drei tateinheitlichen Fällen führt hinsichtlich der Tat Ziff. III.1. der Urteilsgründe zur Aufhebung des Schuldspruchs insgesamt, da die – für sich genommen im Schuldspruch rechtsfehlerfreie – tateinheitliche Verurteilung wegen Beleidigung in drei tateinheitlichen Fällen aufgrund der vorliegenden Tateinheit isoliert keinen Bestand haben kann (vgl. BGH, Urteil vom 2. Februar 2005 – 2 StR 468/04 –, juris; Senatsbeschluss vom 4. November 2024 – 1 Ss 31/24 –; Franke in: Löwe- Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 353 Rn. 8). Die Aufhebung des Schuldspruchs zieht auch die der für die Tat verhängten Einzelstrafe sowie des Gesamtstrafenausspruchs nach sich.

d) Der Aufhebung unterliegt auch die Verurteilung des Angeklagten wegen Beleidigung zum Nachteil des Zeugen M G (Ziff. III.2. der Urteilsgründe). Auch insoweit leidet das angefochtene Urteil an einem durchgreifenden Rechtsfehler. Die allein festgestellte Beleidigung des Zeugen als „Scheißausländer“ (UA S. 5) wird durch die Beweiswürdigung nicht belegt. Von der Möglichkeit einer alternativen Tatsachenfeststellung hat das Tatgericht keinen Gebrauch gemacht, und dem Revisionsgericht ist ein Eingriff in die Tatsachenfeststellungen ebenso verwehrt wie eine eigene Beweiswürdigung.

(2) Dass jede der weiteren von dem Zeugen erwogenen Bezeichnungen seiner Person den Tatbestand des § 185 StGB erfüllen würde, ist unerheblich, da das Tatgericht von der Möglichkeit einer alternativen Tatsachenfeststellung (vgl. hierzu Sander in: Löwe-Rosenberg, 27. Aufl., § 261 Rn. 225; Wenske in: MüKo-StPO, 2. Aufl., § 267 Rn. 121 f.) keinen Gebrauch gemacht, sondern allein die – nicht belegte – Bezeichnung des Zeugen als „Scheißausländer“ festgestellt und diese der Verurteilung des Angeklagten zu Grunde gelegt hat.“