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StGB III: Schriftsatz mit pornografischen Abbildungen, oder: Strafbarkeit des Anwalts wegen „Verbreitung….“?

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Und als dritte Entscheidung dann noch das AG Köln, Urt. v. 15.03.2023 – 539 Ds 155/20. Es geht um die Strafbarkeit wegen Verbreitung pornographischer Schriften durch einen Rechtsanwalt durch Übersendung eines Schriftsatzes.

Nach den Feststellungen des AG hat der angeklagte Rechtsanwalt im Rahmen eines gegen ihn geführten Verfahrens vor dem Anwaltsgericht für den Bezirk der Rechtsanwaltskammer Köln wegen eines Verstoßes gegen das Sachlichkeitsgebot nach § 42b BRAO  einen Schriftsatz an das Gericht, welcher mit mehreren pornographischen Fotografien versehen war. So waren u.a. auf zwei Abbildungen Gesichter von Frauen zu sehen, die Spermaflüssigkeit im Gesicht und im Mund verteilt haben und auf acht weiteren Fotos ist der Geschlechtsverkehr zwischen einer Frau und einem Mann dargestellt. Eine Übermittlung der Darstellungen war weder veranlasst noch war der Angeklagte hierzu aufgefordert worden.

Das AG hat den Angeklagten deswegen wegen wegen Verbreitung pornographischer Schriften gemäß §§ 184 Abs. 1 Nr. 6, 11 Abs. 3 StGB zu einer Geldstrafe verurteilt:

„Mit Übersendung des Schriftsatzes vom 09.09.2019 hat der Angeklagte pornographische Schriften in den Machtbereich eines anderen, nämlich der Mitglieder der zur Verhandlung über das Verfahren 2 AnwG 21/1510 EV 115/15 berufenen zweiten Kammer des Anwaltsgerichts Köln und der damit befassten Justizangehörigen gelangen lassen, ohne von ihnen, sei es ausdrücklich oder konkludent, hierzu aufgefordert worden zu sein. Ein mutmaßliches Einverständnis genügt nicht (Münchener Kommentar zum StGB/Hörnle, 21. Aufl. 2021, § 184 Rn. 66 m.w.N.), sodass es auf dessen Vorliegen nicht ankommt.

Die in dem Schriftsatz vorhandenen Abbildungen zeigen überwiegend auf die Erregung eines sexuellen Reizes abzielende pornographische Darstellungen. Unter pornographischen Darstellungen versteht man solche Darstellungen, die unter Ausklammerung sonstiger menschlicher Bezüge ’sexuelle Vorgänge in grob aufdringlicher oder vergröbernder Weise in den Vordergrund rücken und die in ihrer Gesamttendenz ausschließlich oder überwiegend auf sexuelle Stimulation angelegt sind, sowie dabei die im Einklang mit allgemeinen gesellschaftlichen Wertevorstellungen gezogenen Grenzen eindeutig überschreiten. Maßgeblich ist zunächst inhaltlich die Verabsolutierung sexuellen Lustgewinns und die Entmenschlichung der Sexualität, das bedeutet, dass der Mensch durch die Vergröberung des Sexuellen „auf ein physiologisches Reiz-Reaktions-Wesen reduziert“ wird (Schönke/Schröder/Eisele, 30. Aufl. 2019, StGB § 184 Rn. 8 m.w.N.). Ferner kann formal die vergröbernde, aufdringliche, übersteigerte, „anreißerische“ oder jedenfalls plump-vordergründige — im Gegensatz zu einer ästhetisch stilisierten — Art der Darstellung Indiz für den pornografischen Charakter sein. Alleine das Vorliegen einer Nacktaufnahme führt somit nicht zwingend zur Einordnung als Pornographie. Maßgeblich ist vielmehr die objektive Gesamttendenz der Darstellung. Die subjektive Motivation des Verfassers ist nicht von Bedeutung. Eine Darstellung ist nur dann als pornografisch zu werten, wenn sie die in Einklang mit allgemeinen gesellschaftlichen Wertvorstellungen gezogenen Grenzen des sexuellen Anstandes eindeutig überschreitet (Schönke/Schröder/Eisele, 30. Aufl. 2019, StGB § 184 Rn. 8).

Soweit der Angeklagte bereits in seinem Schriftsatz vom 09.09.2019 anmerkt, dass die Bilder frei im Internet verfügbar sind, ist dies unerheblich. Sinn und Zweck von § 184 Abs. 1 Nr. 6 StGB ist der Schutz vor ungewollter Konfrontation mit sexuellen In-halten. Normzweck ist damit der Schutz der Privatsphäre und des Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung des Empfängers und nicht der Schutz der abgebildeten Personen (Münchener Kommentar zum StGB/Hörnle, § 184 Rn. 8).

Dem Angeklagten war auch bei der Übersendung bewusst, eine Grenze überschritten zu haben, da er sich im Verlauf des Schriftsatzes für die drastischen Darstellungen entschuldigt. Sodann folgen weitere Bilder.

Der Angeklagte hat auch seinen Schriftsatz nicht derart gekennzeichnet, dass die Empfänger des Schriftsatzes die Konfrontation mit den Abbildungen hätten vermeiden können. Zwar hat der Angeklagte in dem Schriftsatz darauf hingewiesen, dass die Abbildungen Beispiele für sexistische Darstellungen seien, es bestand jedoch weder eine Veranlassung solche Abbildungen zu übermitteln, da die Ausführungen auch ohne Beispielbilder durch Be- und Umschreibungen nachvollziehbar darzustellen gewesen wären, noch konnte der Leser des Schriftsatzes erkennen, dass pornographische Bilder folgen würden.

Soweit der Angeklagte meint, bei dem Schriftsatz vom 09.09.2019 handele es sich lediglich um eine „Verteidigungsschrift“ zur Wahrnehmung berechtigter Interessen, im Sinne des § 193 StGB und nicht um eine „pornographische Schrift“, vermag das Gericht dieser Rechtsauffassung nicht zu folgen. Es trifft zu, dass die Abbildungen nicht isoliert, sondern im Kontext der inhaltlichen Stellungnahme des Angeklagten sowie im Kontext des Verfahrens vor dem Anwaltsgericht zu bewerten sind. Damit ist der Schutzbereich der Meinungsfreiheit als auch des Rechts auf Wahrnehmung berechtigter Interessen und eigener Verteidigung eröffnet. Infolgedessen hat eine Abwägung dieser mit dem von dem Schutzbereich des § 184 StGB umfassten Rechtssubjekt zu erfolgen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass eine polemische, mitunter sogar diffamierende Sprache zur Verdeutlichung der eigenen Position im jeweiligen Einzel-fall durchaus zulässig sein kann. Das gilt insbesondere für Äußerungen gegenüber Maßnahmen der öffentlichen Gewalt. Der Betroffene darf nicht auf das zur Kritik not-wendige Maß beschränkt werden (BVerfG, Beschluss vom 09.02.2022 — 1 BvR 2588/22; Beschluss vom 19.05.2020 — BvR 2397/19; Beschluss vom 14.06.2019 — 1 BvR 2433/17; Beschluss vom 10.10.1995 — 1 BvR 1476/91). Hieraus folgt jedoch keineswegs, dass der Meinungsfreiheit und dem Recht auf Wahrnehmung eigener Interesse keine Grenzen gesetzt wären. Vielmehr treten diese Rechte insbesondere bei herabsetzenden Äußerungen, die als Formalbeleidigungen der Schmähung zu bewerten sind, hinter dem Ehrschutz zurück, BVerfG, a.a.O.).

Unter Heranziehung dieser Grundsätze und deren entsprechende Anwendung auf die hiesige Konstellation überwiegt das Schutzbedürfnis der Empfänger des Schriftsatzes vom 09.09.2019 gegenüber den Interessen des Angeklagten. Es ist anzunehmen, dass es dem promovierten und als Rechtsanwalt praktizierenden Angeklagten möglich und zumutbar gewesen wäre, seine Argumente durch Umschreibung der übersandten pornographischen Darstellungen in das Verfahren einfließen zu lassen und lediglich diejenigen Bilder zu übersenden, welche nicht dem Tatbestand des § 184 Abs. 1 Nr. 6 StGB unterfallen. Dass ihm der Unterschied bewusst gewesen ist, konnte zum einen von ihm als praktizierender Rechtsanwalt erwartet werden zum anderen hat er dies durch die in dem Schriftsatz vom 09.09.2019 enthaltenen Formulierungen deutlich gemacht.

Ein Tatbestandsausschluss analog § 184b Abs. 5 S. 1 Nr. 3 StGB liegt nicht vor. Es mangelt bereits an einer vergleichbaren Interessenlage. Die Regelung des § 184b Abs. 5 S. 1 Nr. 3 StGB berechtigt nur zur Verschaffung und zum Besitz verfahrens-gegenständlicher Abbildungen (Münchener Kommentar zum StGB/Hörnle, 4. Auflage 2012, § 184b Rn. 50). Sinn und Zweck ist die effektive Verteidigung des Angeklagten. Eine Berechtigung zur Beschaffung und zum Besitz von Abbildungen, die nicht Gegenstand des Verfahrens sind, besteht nicht. Gleiches gilt für die Besitzverschaffung an Dritte. Die Besitzverschaffung an Dritte innerhalb des von § 184b Abs. 5 StGB genannten Personenkreises ist nach der Regelungskonzeption eines umfassenden Verkehrsverbots bezüglich kinderpornographischer Schriften auch dem Strafverteidiger nur erlaubt, soweit dies zur Wahrnehmung seiner Verteidigungsaufgabe erforderlich ist (BGH, Urteil vom 19.03.2014 — 2 StR 445/13, NStZ 2014, 514, 515). Die von dem Angeklagten übersendeten Abbildungen waren nicht streitgegenständlich. Im Übrigen wird auf die vorstehenden Ausführungen Bezug genommen.

Andere zu einem Tatbestandausschluss oder einer Rechtfertigung führende Gründe liegen nicht vor…..“

StGB II: Beihilfe des Notars zur Insolvenverschleppung, oder: Strafbarkeit „berufstypischer Handlungen“

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Als zweite Entscheidung stelle ich dann den LG Lübeck, Beschl. v.  27.03.2023 – 6 Qs 33/22 720 Js 4897/20 – vor. In ihm nimmt das LG zur Frage der Beihilfe eines Notars zur Insolvenzverschleppung Stellung.

Die Staatsanwaltschaft hat Anklage gegen einen Rechtsanwalt und Notar erhoben, dem sie zur Last legt, einem anderen zu dessen vorsätzlich begangener rechtswidriger Tat – einer Insolvenzverschleppung gemäß § 15a Abs. 1 S. 1, Abs. 4 Nr. 1 InsO – Hilfe geleistet zu haben. Nach den Ausführungen in der Anklage habe der Angeklagte in seiner Funktion als Notar am 20.9.2017 den Geschäftsanteilskaufvertrag mit der Urkundennummer 367/2017 über den Verkauf und die Abtretung von Gesellschaftsanteilen, die Geschäftsführerabberufung und -neubestellung sowie die Sitzverlegung der pp. beurkundet. Dabei habe er gewusst, dass die bei diesen Beurkundungen beteiligten Personen (u.a. pp. und pp.) mit der Übernahme der Gesellschaftsanteile und der Geschäftsführung der pp. den Zweck verfolgten, diese einer ordnungsgemäßen insolvenzrechtlichen Abwicklung zu entziehen. Trotz Zahlungsunfähigkeit der pp, am 31.10.2017 hätten pp und pp. innerhalb von drei Wochen keinen Insolvenzantrag gestellt, obwohl sie dazu verpflichtet gewesen seien. Das AG Lübeck hatte am 19.3.2021 einen Strafbefehl gegen pp. erlassen u.a. wegen vorsätzlicher Insolvenzverschleppung in Bezug auf die pp. Darin ging das AG davon aus, dass die pp. spätestens am 31.10.2017 zahlungsunfähig gewesen sei.

Das AG hat den die Eröffnung des Hauptverfahrens aus tatsächlichen Gründen abgelehnt, da keine ausreichenden tatsächlichen Anhaltspunkte zur Begründung eines hinreichenden Tatverdachts in Bezug auf die Begehung einer Straftat gemäß § 15a Abs. 1 S. 1, Abs. 4 Nr. 1 InsO, § 27 StGB vorlägen. Die ermittelten Umstände begründeten keine Beihilfehandlung des Angeklagten. So liege weder eine berufsuntypische Handlung des Angeklagten vor noch sei er in die Planungen von pp. und pp. einbezogen gewesen. Bei den Beurkundungen am 20.9.2017 habe der Angeklagte nicht erkannt, dass das Handeln von pp. und pp. auf die Begehung einer Insolvenzverschleppung gerichtet gewesen sei.

Das sieht das LG – mit der StA, die Beschwerde eingelegt hat, anders:

„…..

b) Weiterhin besteht der hinreichende Verdacht einer vom Angeklagten begangenen strafbaren Beihilfehandlung.

aa) Beihilfehandlung ist das Fördern einer vorsätzlich und rechtswidrig begangenen Straftat. Die Beihilfe muss nicht zur unmittelbaren Tatausführung geleistet werden. Ausreichend ist das Hilfeleisten zu einer vorbereitenden Handlung. Der Haupttäter muss in diesem Zeitpunkt noch nicht zur Tat entschlossen sein (BGH vom 8.11.2011 – 3 StR 310/11).

Im Fall einer „neutralen“ bzw. „berufstypischen“ Handlung, also einer Handlung, die äußerlich betrachtet keinen oder zumindest nicht ausschließlich einen deliktischen Bezug hat, liegt im konkreten Einzelfall nur dann eine Beihilfehandlung vor, wenn der Handelnde weiß, dass das Handeln des Haupttäters ausschließlich auf die Begehung einer Straftat abzielt oder wenn das von ihm erkannte Risiko strafbaren Verhaltens des von ihm Unterstützten derart hoch war, dass er sich „die Förderung eines erkennbar tatgeneigten Täters angelegen sein“ ließ (BGH vom 19.12.2017 ? 1 StR 56/17). Es handelt sich um ein Problem des subjektiven Tatbestands: Die Einordnung der die Haupttat fördernden Handlung als sog. „berufstypische Handlung“ steht ihrer Qualifizierung als objektive Beihilfehandlung nicht entgegen. Ob diese Handlung strafbar ist, hängt jedoch von der im jeweiligen Einzelfall zu prüfenden Kenntnis des handelnden Berufsträgers ab.

Diese Grundsätze gelten auch für Notare (so auch BGH vom 14.7.2000 – 3 StR 454/99). Denn Handlungen von Notaren sind in der Regel objektiv „neutral“, können jedoch Straftaten im Sinne des § 27 StGB fördern. Daher sind auch sie anhand der für diese Fallgruppe geltenden Grundsätze zu bewerten.

Die im jeweiligen Einzelfall bestehende Kenntnis des Notars kann durch Feststellung von Indizien belegt werden. Hierbei kommen insbesondere in Betracht (vgl. dazu auch BGH vom 8.4.2019 – NotSt (Brfg) 5/18; BGH vom 23.11.2015 – NotSt (Brfg) 4/15):

–  Übertragung sämtlicher Geschäftsanteile an einen Dritten,

–  Änderung der Firmierung,

–   wiederholter Wechsel in der Person des Geschäftsführers,

–   (mehrere) Sitzverlegung(en) der Gesellschaft an einen entfernt gelegenen Ort oder ins Ausland,

–   wiederholte Vereinbarung von Beurkundungsterminen durch eine nicht unmittelbar an der jeweiligen Beurkundung beteiligte Person, bei der erkennbar unerfahrene oder ungeeignete Personen zum Geschäftsführer bestellt werden,

–   Einstellung der werbenden Tätigkeit im Zusammenhang mit der Übertragung der Anteile und/oder Sitzverlegung,

–   Unerreichbarkeit des neuen Geschäftsführers und/oder Verweis auf eine „Wirtschaftsberatungsgesellschaft“,

–  mangelnde Kooperation des neuen Geschäftsführers,

–   Geschäftsführerstellung der als Geschäftsführer zu bestellenden Person bei einer Vielzahl weiterer Gesellschaften,

–  Fehlen von Geschäftsunterlagen und Aktiva.

bb) Der Angeklagte ist hinreichend verdächtig, mit der am 20.9.2017 vorgenommenen Beurkundung des Geschäftsanteilskaufvertrags mit der Urkundennummer 367/2017 über u.a. die Abtretung von Gesellschaftsanteilen der pp. eine von pp. und pp. zu begehende Insolvenzverschleppung gefördert zu haben, obwohl er wusste, dass deren Handeln auf die Begehung einer solchen Straftat abzielte.

(1) Die vom Angeklagten am 20.9.2017 vorgenommene Beurkundung trug zum Gelingen der mit hinreichender Wahrscheinlichkeit von pp. und pp. begangenen Insolvenzverschleppung bei. Denn ohne die Beurkundung des Vertrags über die Abtretung der Gesellschaftsanteile der pp. an pp. wäre der diesem bekannte pp. nicht zum Geschäftsführer bestellt worden und der diesem bekannte pp. hätte nicht die Stellung eines faktischen Geschäftsführers erlangen können. Es ist unerheblich, dass der Angeklagte die Beurkundung am 20.9.2017 vor der Begehung der Insolvenzverschleppung vornahm. Denn das Hilfeleisten zu einer vorbereitenden Handlung ist ausreichend.

(2) Der Angeklagte ist hinreichend verdächtig, im Zeitpunkt der Beurkundung am 20.9.2017 Kenntnis davon gehabt zu haben, dass diese der Vorbereitung einer Insolvenzverschleppung diente.

Dieser hinreichende Verdacht ergibt sich insbesondere aus den folgenden auf die Vorbereitung einer „Firmenbestattung“ hindeutenden Indizien:

Der Angeklagte beurkundete in der Zeit von Februar 2013 bis September 2017 Gesellschaftsanteilsübertragungen, Geschäftsführerwechsel und Sitzverlegungen für sechs unterschiedliche Unternehmen (Fallakten III, IV, VI, VII, VIII, IX). Hierbei war jeweils die gleiche Personengruppe wie bei der Beurkundung am 20.9.2017 beteiligt (u.app. , pp. undpp. ). Im Rahmen dieser Beurkundungen war pp. Ansprechpartner für den Angeklagten und in der Regel auch bei der jeweiligen Beurkundung anwesend. Dies war auch dann der Fall, wenn pp. an der jeweiligen Beurkundung nicht unmittelbar beteiligt war – weder als Erwerber von Geschäftsanteilen, (einzutragender) Geschäftsführer oder als Vertreter solcher Personen. In den Notarakten befinden sich auch keine Fotokopien der Personalausweise vonpp. , pp. , pp. undpp. , obwohl diese Personen an diversen Beurkundungen beteiligt waren.

Bei vier vor dem 20.9.2017 in Bezug auf unterschiedliche Unternehmen vorgenommenen Beurkundungen (Fallakten II, III, VII, VIII) traten die in Südamerika lebenden pp.  und pp. als neue Gesellschafter in Erscheinung. pp. wurde dabei u.a. von pp. (Vollmachtschreiben vom 31.3.2017, Asservat 2/3) und pp. bzw. Dr. pp. (Vollmachtschreiben vom 4.6.2017, Fallakte VII, Bl. 18) vertreten. Die sich auf diesen Vollmachtschreiben befindlichen Unterschriften des pp. weichen in ihrem Schriftbild nicht unerheblich voneinander ab.

Der Angeklagte beurkundete in der Zeit von Februar 2013 bis zum 20.9.2017 sechs Sitzverlegungen unterschiedlicher Unternehmen an die Anschriften pp. 17, A. und pp. 9b, A.. Hierbei handelte es sich um die Wohnanschriften von pp. bzw. pp. Aus dem Vorblatt der Notarakte in Bezug auf die pp. ergibt sich, dass dem Angeklagten die Anschrift pp., pp. als Wohnanschrift des pp. bekannt war. Weiterhin ergibt sich aus der beurkundeten Sitzverlegung der pp. a die Anschrift pp., pp. am 19.4.2017, dass dem Angeklagten diese Anschrift als Wohnanschrift des neubestellten Geschäftsführers der pp. , bekannt war.

Dem Angeklagten war im Zeitpunkt der Beurkundung am 20.9.2017 bekannt, dass die bei den vorangegangenen Beurkundungen im Zusammenhang mit der Personengruppe um pp. beteiligten Personen nach den Beurkundungen nur schwer oder nicht mehr erreichbar gewesen waren. Dies ergibt sich u.a. aus den diversen Versuchen des Angeklagten, bei den beteiligten Personen seine Zahlungsforderungen einzutreiben (vgl. etwa Beweismittel 2/1), sowie aus der Mitteilung des Amtsgerichts Lübeck vom 25.8.2016, nach der das Amtsgericht dem neu eingetragenen Geschäftsführer der pp. die Vorschussrechnung nicht habe übermitteln können und Anzeichen für eine wirtschaftliche Neugründung der Gesellschaft bestünden (Beweismittel 2/1).

Schließlich informierte die Verkäuferin der Geschäftsanteile der pp., in deren Auftrag der Angeklagte im Jahr 2016 Beurkundungen vorgenommen hatte, den Angeklagten am 30.12.2016 darüber, dass die auf der Käuferseite beteiligten Personen, u.a. pp. und pp., noch vor dem Abschluss des Beurkundungsverfahrens im Namen der pp. Warenbestellungen in Höhe von ca. 83.000 € getätigt, jedoch nicht bezahlt hätten (Beweismittel 2/1).

Der Umstand einer am 20.9.2017 fehlenden oder für den Angeklagten nicht erkennbaren Insolvenzreife der pp. steht aufgrund der vorstehenden Indizien einem hinreichenden Tatverdacht nicht entgegen. Dasselbe gilt für die Vorgänge um die „Kaufpreiszahlung“ für den Erwerb der Gesellschaftsanteile der pp.

Indes können Indizien, die sich aus nach dem 20.9.2017 vom Angeklagten vorgenommenen Beurkundungen ergäben (vgl. Anklageschrift, S. 19 f., Fallakten I, V), keine Kenntnis des Angeklagten am Tattag des 20.9.2017 begründen. Denn gemäß § 16 Abs. 1 S. 1 StGB muss der Tatvorsatz im Zeitpunkt der zum Taterfolg führenden Handlung, hier der Beurkundung am 20.9.2017, vorliegen (BGH vom 7.9.2017 ? 2 StR 18/17).

Die aufgrund der vorstehenden Indizien mit hinreichender Wahrscheinlichkeit bestehende Kenntnis des Angeklagten von einer bevorstehenden Straftat bezog sich auf eine von pp. und pp. zu begehende Insolvenzverschleppung in Bezug auf die pp.  Denn diese Indizien begründen den hinreichenden Verdacht einer Kenntnis des Angeklagten von der Vorbereitung einer „Bestattung“ der pp.. Im Rahmen einer „Firmenbestattung“ ist die Begehung von Straftaten gemäß § 15a Abs. 1 S. 1, Abs. 4 Nr. 1 InsO vorhersehbar. Der Angeklagte musste am 20.9.2017 keine bestimmte Vorstellung von den Einzelheiten der zu begehenden Insolvenzverschleppung haben.“

StGB I: Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, oder: Entkleidung einer Frau im Beisein männlicher Beamter

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Ich stelle heute dann StGB-Entscheidungen vor, die eins gemeinsam haben: Es handelt sich um nicht alltägliche Fallgestaltungen.

Schon etwas älter ist die erste Entscheidung, die ich vorstelle. Es handelt sich um den BayObLG, Beschl. v. 07.12.2022 – 206 StRR 296/22. Das LG hatte die Angeklagte wegen eines Geschehens, das noch in der „Corona-Zeit“ liegt wegen Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit Beleidigung in Tatmehrheit mit tätlichem Angriff auf Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung in Tateinheit mit drei tateinheitlichen Fällen der Beleidigung“ verurteilt.

Dagegen die Revision der Angeklagten, die nur teilweise Erfolg hatte. Das BayObLG hat nämlich die Revision wegen eines Teils des Berufungsurteils verworfen, insoweit bitte selbst lesen. Wegen eines weiteren Teils hatte sie hingegen Erfolg. Insoweit geht es um die Frage der Strafbarkeit wegen tätlichen Angriffs gegen Vollstreckungsbeamte (§ 113 StGB) durch Widerstandshandlungen einer weiblichen Person, die aufgrund polizeirechtlicher Vorschriften zur Durchsetzung einer Platzverweisung in Gewahrsam genommen und in eine Haftzelle verbracht wurde, gegen ihre Entkleidung, die nach zunächst erfolglosen Maßnahmen weiblicher Polizeibeamtinnen unter Anwendung unmittelbaren Zwangs unter Beteiligung mehrerer männlicher Polizeibeamter bis auf den Slip durchgeführt wurde. Dazu das BayObLG:

„Die Revision erweist sich hingegen als begründet, soweit das Verhalten der Angeklagten im zweiten Teilkomplex des Gesamtgeschehens zu einer Verurteilung geführt hat. Das Berufungsurteil weist insoweit durchgreifende Darstellungs- und Erörterungsmängel auf.

1. Ein Schuldspruch wegen tätlichen Angriffs gegen Vollstreckungsbeamte setzt, was das Landgericht im Ansatz zutreffend gesehen hat, in entsprechender Anwendung des § 113 Abs. 3 StGB die Rechtmäßigkeit der vorgenommenen Diensthandlung voraus (Fischer, StGB, 69. Aufl. 2022, § 114 Rn. 6). Auf der Grundlage der Urteilsfeststellungen fehlt es hieran, wie die Revision zu Recht beanstandet. Auch die Generalstaatsanwaltschaft schließt sich dem in ihrer Stellungnahme vom 21. September 2022 im Ergebnis an; soweit die Ausführungen der Generalstaatsanwaltschaft die Entkleidung der Angeklagten in der Haftzelle betreffen, nimmt der Senat hierauf ergänzend zu den nachfolgenden Ausführungen Bezug.

a) Der von der Angeklagten geleistete tätliche Widerstand richtete sich ausweislich der Feststellungen nicht gegen ihre Ingewahrsamnahme als solche gemäß Art. 17 PAG in der zur Tatzeit geltenden, von der aktuellen Rechtslage abweichenden Fassung vom 25. Mai 2018 bis 31. Juli 2021. Gegen ihre Verbringung zur Polizeidienststelle hat sich die Angeklagte nicht gewehrt. Tätlichen Widerstand leistete sie vielmehr erst gegen die ihr in der Haftzelle erteilte Aufforderung, sich (offensichtlich: vollständig oder nahezu vollständig) zu entkleiden, sowie gegen ihre zwangsweise Entkleidung, vorgenommen durch zwei Polizeibeamtinnen, die dabei von männlichen Beamten unterstützt wurden (UA S. 8), wobei der Senat anmerkt, dass in den Urteilsfeststellungen lediglich das Hinzukommen eines männlichen Beamten (POM …) geschildert wird, während sich aus den Aussagen der Zeugen eine Unterstützung durch drei männliche Beamte ergibt (UA S. 14, S. 15), von welchen einer sogar den BH der Angeklagten geöffnet hat (UA S. 15).

b) Ob die Ingewahrsamnahme der Angeklagten nach Art. 17 PAG gerechtfertigt war, begegnet zwar Bedenken, eine abschließende Entscheidung ist aber auf der Grundlage der insoweit lückenhaften Feststellungen weder möglich noch ist sie erforderlich. Selbst wenn eine etwaige weitere Sachverhaltsaufklärung durch den neuen Tatrichter die Beurteilung erlauben würde, dass die Ingewahrsamnahme als solche rechtmäßig war, stellt dies kein Präjudiz für die Rechtmäßigkeit der Entkleidungsanordnung dar. Die Frage der Anordnung der Ingewahrsamnahme und deren Vollzug sind grundsätzlich voneinander zu scheiden (BVerfG, Beschluss vom 13. Dezember 2005, 2 BvR 447/05, juris Rn. 61). Auch wenn die Anordnung der Ingewahrsamnahme rechtmäßig ist, kann sich eine einzelne Maßnahme während des Vollzugs als rechtwidrig erweisen (BVerfG a.a.O.).

c) Die Maßnahme der Entkleidung, gegen die die Angeklagte Widerstand leistete, stellt einen gravierenden, jedenfalls durch die festgestellten Tatsachen nicht zu rechtfertigenden Grundrechtseingriff dar und war damit rechtswidrig.

(1) Maßnahmen, die mit einer Entkleidung verbunden sind, stellen allgemein einen schwerwiegenden Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht nach Art. 2 GG dar (VG Augsburg, Urteil vom 10. Dezember 2021, Au 8 K 20.1952, juris Rn. 28; BVerfG, Beschluss vom 4. Februar 2009, 2 BvR 455/08, juris Rn. 25 für eine mit einer Entkleidung verbundene Durchsuchung). Neben dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht ist auch die Menschenwürde, Art. 1 GG, tangiert. Die Maßnahme einer Entkleidung kann allenfalls dann gerechtfertigt sein, wenn sie zum Schutz der in Gewahrsam genommenen Person selbst oder zum Schutz der Beamten vor Gefahren für Leib und Leben im Einzelfall geboten erscheinen (VG Augsburg a.a.O.).

(2) Der Senat kann den Feststellungen keine tatsächlichen Umstände entnehmen, die die Entkleidung der Angeklagten hätten rechtfertigen können.

aa) Nach den Angaben der als Zeugin vernommenen Polizeibeamtin pp. habe sich die Anordnung auf „Vorschriften der HVOPol“ gestützt (UA S. 8, 14); eine konkrete Bestimmung wurde dabei von ihr nicht genannt. Weiter nach Aussage der Zeugin – der sich die Berufungskammer ohne weitere Erörterung kritiklos angeschlossen hat (UA S. 17) –, seien „in einem BH meistens Metallbügel verarbeitet, die man leicht entnehmen könne und die dann gefährlich sein könnten“ (UA S.17).

Auf diese Behauptungen und Wertungen lässt sich die Maßnahme indessen nicht stützen. Nr. 3 Abs. 1 der Haftvollzugordnung der Polizei (HVPol), die zur Tatzeit in Geltung war (Fassung vom 5. April 1978) und inzwischen außer Kraft ist (seit 1. Mai 2022) ordnete an, dass ein Polizeihäftling sachlich, gerecht und unter Achtung der Menschenwürde zu behandeln sei. Gemäß der auch vom Landgericht herangezogenen Nr. 16 Abs. 1 der HVPol waren Gegenstände des Polizeihäftlings, die u.a. zur Schädigung von Leben und Gesundheit verwendet werden konnten, zu beschlagnahmen; beispielhaft waren Messer, Werkzeuge, Gürtel, Hosenträger u.a. genannt. Nach Nr. 16 Abs. 2 der HVPol war ein Polizeihäftling auf die nach Abs. 1 sicherzustellenden Gegenstände gründlich zu durchsuchen.

Von einer Entkleidung ist in der Verordnung nicht die Rede. Selbst wenn unterstellt wird, dass in einen BH Metallbügel eingearbeitet sein können – worauf sich die Annahme, dies sei „meistens“ der Fall, stützt, ist nicht dargelegt und dürfte auch tatsächlich nicht zutreffen – erschließt sich dem Senat nicht, warum zur Feststellung, ob ein solcher BH von der Angeklagten getragen wurde, deren vollständige Entkleidung notwendig gewesen sein sollte, insbesondere auch der Bekleidung des Unterkörpers, wobei in den Feststellungen nicht einmal mitgeteilt wird, worin diese Kleidung bestand und ob von dieser irgendeine Gefahr ausgehen konnte. Dass es bedeutend mildere Maßnahmen zur Feststellung, ob der BH der Angeklagten im konkreten Fall tatsächlich so beschaffen war, dass er als Werkzeug zur Schädigung von Leben oder Gesundheit hätte verwendet werden können (z.B. Abtasten durch eine weibliche Beamtin unter der Oberbekleidung, ggf. Ablegen des BH unterhalb der Kleidung durch die Angeklagte), liegt auf der Hand. Feststellungen, wonach solche milderen Eingriffe im konkreten Fall nicht möglich gewesen wären, sind nicht getroffen. Die vollständige Entkleidung der Angeklagten – das Gericht teilt in den Feststellungen nicht mit, ob und welche Kleidungsstücke die Angeklagte anbehalten durfte, lediglich aus einer Zeugenaussage ergibt sich, dass sie wenigstens ihren Slip habe anbehalten dürfen (UA S. 15) – stellt sich im Hinblick darauf als grob unverhältnismäßig und als schwerwiegender Eingriff in das Persönlichkeitsrecht der Angeklagten dar.

bb) Dass eine, wie von einer Zeugin geschildert, etwaige „allgemeine Anordnung des Polizeipräsidiums“ und „eine seit Jahren bewährte Praxis“ (UA S. 17) nicht geeignet sind, einen derart gravierenden Eingriff wie das vollständige Entkleiden einer in Polizeigewahrsam genommenen Person unabhängig von den Umständen des konkreten Einzelfalls zu rechtfertigen, bedarf keiner weiteren Erörterung. Derartige Faktoren können fehlende gesetzliche Eingriffsgrundlagen nicht ersetzen.

cc) Feststellungen dazu, dass sich die Entkleidung der Angeklagten aus anderen Gründen als zum Zweck der Sicherstellung eines etwaig getragenen Büstenhalters mit eingearbeiteten Bügeln als erforderlich erwiesen habe, sind nicht getroffen. Im Übrigen unterlassen es die Urteilsgründe zudem, mitzuteilen, ob und welche Art von BH von der Angeklagten tatsächlich getragen wurde.

(2) Hinzu kommt schließlich noch, dass die Entkleidung der Angeklagten – bei andauerndem Widerstand ihrerseits – unter Hinzuziehung männlicher Beamter stattgefunden hat, wobei sich zudem ein offener Widerspruch zwischen den Feststellungen (UA S. 8: PHM … sei „in die Zelle gekommen, um zu helfen“) und der erhobenen Beweise (UA S. 14): PHM … [männlich] habe sich zusammen mit PHM … [männlich] und PHM … [männlich] in die Zelle begeben, danach sei der Körper der Angeklagten fixiert worden. Schließlich habe der männliche Beamte … den BH-Verschluss geöffnet (UA S. 15).

Die Beteiligung männlicher Beamter an der Entkleidung der Angeklagten beinhaltet zunächst einen eklatanten Verstoß gegen Nr. 16 Abs. 4 HVPol, welcher anordnet dass, bei der körperlichen Durchsuchung von Frauen Männer nicht einmal anwesend sein durften, was nach dem Gesetzeszweck nicht nur für die Durchsuchung des Körpers, sondern auch für eine Durchsuchung gemäß Nr. 16 Abs. 2 HVPol nach Gegenständen im Sinne der Nr. 16 Abs. 1 HVPol zumindest dann gelten musste, wenn diese Durchsuchung in der Bekleidung vorgenommen wurde oder gar mit deren fast vollständiger Entfernung vom Körper der Betroffenen verbunden war. Zudem liegt gleichzeitig ein Verstoß gegen Art. 21 Abs. 3 PAG in der zur Tatzeit geltenden Fassung vom 24. Juli 2017, insoweit gleichlautend mit der geltenden Fassung, vor, wonach Personen nur von Personen gleichen Geschlechts oder Ärzten durchsucht werden durften. Dies ist nur dann anders, wenn die sofortige Durchsuchung zum Schutz gegen eine Gefahr für Leib oder Leben erforderlich ist. Dafür, dass diese Voraussetzungen vorgelegen hätten, ergibt sich aus den Feststellungen nicht im Ansatz ein Hinweis. Ob ein BH, der als gefährlicher Gegenstand hätte missbraucht werden können, getragen wurde, hätte sich, wie dargelegt, durch Maßnahmen deutlich geringerer Eingriffsintensität als durch das fast vollständige Entkleiden der Angeklagten unter Beteiligung dreier männlicher Beamter feststellen lassen, ggf. sogar unter Festhaltung der bekleideten Angeklagten durch männliche Beamte und Überprüfung der Beschaffenheit des BHs unter der Oberbekleidung durch eine weibliche Beamtin.

d) Soweit die Angeklagte gegen die Maßnahme des zwangsweisen Entkleidens tätlichen Widerstand geleistet hat, kann sie sich somit wegen deren jedenfalls auf der Grundlage der Feststellungen des Berufungsurteils bestehenden Rechtswidrigkeit weder wegen eines tätlichen Angriffs gegen Vollstreckungsbeamte nach § 114 StGB noch – vom Berufungsgericht ohnehin übersehen – wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte nach § 113 StGB schuldig gemacht haben. Der Schuldspruch wird vom Revisionsgericht aufgehoben.“

Klima I: Festkleben auf Straßen zum Klimaschutz, oder: BayObLG sagt, das ist als Nötigung strafbar

entnommen wikimedia commons Author Jan Hagelskamp1

Und dann auf in die 21. KW., und zwar mit „Klima-Entscheidungen“.

Zunächst stelle ich hier die nächste obergerichtliche Entscheidungen zur Frage der Rechtfertigung des Festklebens auf Straßen zum Klimaschutz vor. Zur Frage der Rechtfertigung hatte sich ja bereits vor einiger Zeit das OLG Celle im OLG Celle, Beschl. v. 29.07.2022 – 2 Ss 91/22 – geäußert. Nun habe ich hier den BayObLG, Beschl. v. 21.04.2023 – 205 StRR 63/23.

Es handelt sich um einen „Normalfall“. Der Angeklagte hatte sich auf der Fahrbahn einer Straße in München mit Sekundenkleber festgeklebt und dadurch im Zusammenwirken mit weiteren Personen eine unbekannte, größere Anzahl von Autofahrern am Weiterfahren gehindet oder zur Umfahrung der blockierten Straße gezwungen. Das AG hat den Angeklagten wegen Nötigung schuldig gesprochen. Seine Revision dagegen blieb erfolglos:

„3. Die Sachrüge ist ebenfalls unbegründet. Die umfassende Nachprüfung des Urteils durch den Senat deckt aufgrund der erhobenen Sachrüge keinen durchgreifenden Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten auf:

a) Die Tat stellt in objektiver und subjektiver Hinsicht eine Nötigung im Sinne von § 240 Abs. 1 StGB dar. Insoweit wird Bezug genommen auf die zutreffenden und nicht ergänzungsbedürftigen Ausführungen der Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Zuschrift vom 20. März 2023, die von der Revision auch nicht in Frage gestellt werden.

b) Die Tat des Angeklagten ist verwerflich im Sinne von § 240 Abs. 2 StGB. Insoweit ist ergänzend zu den Ausführungen der Generalstaatsanwaltschaft zu bemerken:

i) Die Tat des Angeklagten ist nicht gerechtfertigt:

(1) Gerechtfertigte Nötigungen können nicht verwerflich im Sinne von § 240 Abs. 2 StGB sein. Daher ist die Verwerflichkeit nur dann zu prüfen, wenn kein allgemeiner Rechtsfertigungsgrund eingreift (Fischer, StGB, 70. Aufl. 2023, § 240 Rn. 38a) (a) Die Tat des Angeklagten ist nicht nach Art. 20 Abs. 4 GG gerechtfertigt:

(i) Gemäß Art. 20 Abs. 4 GG haben alle Deutschen gegen jeden, der es unternimmt, die in Art. 20 GG niedergelegte Ordnung zu beseitigen, das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist. Das Widerstandsrecht kann gegen jeden ausgeübt werden, der es unternimmt diese Ordnung zu beseitigen (Dürig/Herzog/Scholz/Grzeszick GG Art. 20 Rn. 17). Andere Abhilfe darf jedoch nicht möglich sein. Diese als „Subsidiaritätsklausel“ verstandene Beschränkung gestaltet das Widerstandsrecht zu einem äußersten und letzten Notmittel. Hintergrund der Einschränkung ist das staatliche Gewaltmonopol als Grundpfeiler moderner Staatlichkeit. Die legitime Anwendung physischer Gewalt soll deshalb erst dann in private Hände gegeben werden, wenn der Staat die verfassungsmäßige Ordnung nicht hinreichend schützen kann. (Grzeszick a.a.O Rn. 23).

(ii) Letzteres ist jedenfalls nicht der Fall. Es liegt derzeit keine Konstellation vor, in der die verfassungsmäßige Ordnung der Bundesrepublik Deutschland gefährdet ist und die staatlichen Organe, aus welchen Gründen auch immer, nicht mehr in der Lage sind, die verfasste Ordnung selbst hinreichend zu schützen. Vielmehr ist der Staat in seiner Handlungsfähigkeit nicht eingeschränkt. Anders als der Angeklagte hält die gesetzgeberische Mehrheit im Parlament, die vom Angeklagten gewünschten gesetzgeberischen Aktivitäten zumindest derzeit nicht für erforderlich. Auf der Grundlage der Überzeugungen des Angeklagten ließe sich die Situation schlagwortartig zusammenfassen: Der Staat kann zwar die verfasste Ordnung schützen; er ergreift aber nicht die vom Angeklagten für nötig erachteten Maßnahmen.

(iii) Daneben ist auch nicht erkennbar, dass der Angeklagte seine „Widerstandshandlung“ gegen denjenigen richtete, der es unternahm, die in Art. 20 GG niedergelegte Ordnung zu beseitigen. Nach Auffassung des Angeklagten stellt die Klimakrise eine Gefahr für die verfassungsmäßige Ordnung dar. Dieser Gefahr werde mangels staatlicher Gegenmaßnahmen nicht entsprechend begegnet. Ausgehend vom Ansatzpunkt des Angeklagten kämen als Adressat seiner Widerstandshandlung daher nur die Regierung und die Mitglieder der gesetzgebenden Körperschaften in Betracht. Gegen die konkret von seiner Tat betroffenen Autofahrer war daher schon aus diesem Grund kein „Widerstand“ nach Art. 20 GG zulässig.

(b) Die Tat des Angeklagten ist nicht nach § 34 StGB gerechtfertigt:

(i) Voraussetzungen für das Eingreifen dieses Rechtfertigungsgrundes ist u.a. das Vorliegen einer Gefahr. Es muss also ein Zustand gegeben sein, in dem aufgrund tatsächlicher Umstände die Wahrscheinlichkeit des Eintritts eines schädigenden Ereignisses besteht. Die Gefahr muss gegenwärtig sein. Dies ist dann der Fall, wenn bei natürlicher Weiterentwicklung der Dinge der Eintritt eines Schadens sicher oder doch höchstwahrscheinlich ist, falls nicht alsbald Abwehrmaßnahmen ergriffen werden (Fischer, StGB, 70. Aufl. 2023, § 34 Rn. 4, 7 m.w. N.). Die bestehende Gefahr darf nicht anders abwendbar sein als durch die Begehung der Tat. Die Tat muss daher geeignet und erforderlich sein, die Gefahr abzuwenden. Es darf zudem kein weniger einschneidendes Abwendungsmittel zur Verfügung stehen (Fischer, StGB, 70. Aufl. 2023, § 34 Rn. 9; BeckOK StGB Momsen/Savic StGB § 34 Rn. 7; Rönnau in Leipziger Kommentar, 13. Aufl. 2019, vor §§ 32 StGB Rn. 134).

(ii) In der vorliegenden Sachverhaltskonstellation scheidet eine Rechtfertigung der Tat des Angeklagten bereits deshalb aus, weil ihm zum Erreichen seines Ziels mildere Mittel zur Verfügung standen und er nicht eine Straftat hätte begehen müssen. Als milderes Mittel zur Einwirkung auf den politischen Meinungsbildungsprozess hätte er beispielsweise hierauf bezogene Grundrechte, nämlich Art. 5 GG (Meinungsfreiheit), Art. 8 (Versammlungsfreiheit), Art. 17 GG (Petitionsrecht) ausüben, bzw. von der Möglichkeit des Art. 21 GG (Freiheit der Bildung politischer Parteien) Gebrauch machen können (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 29 Juli 2022 – 2 Ss 91/22 – juris Rn. 11). Daneben stünde ihm auch noch der Weg offen, dass er und gegebenenfalls weitere Personen im direkten Gespräch oder über sonstige Kommunikationsmittel auf Mitglieder der Regierung und/oder der gesetzgebenden Körperschaften zur Erreichung ihrer Ziele einwirken. Da bereits das Vorhandensein von milderen Mitteln die Anwendbarkeit von § 34 StGB ausschließt, ist der Senat nicht gehalten, die Streitfrage, ob derartige Verkehrsblockaden als Teil eines komplexen und gegebenenfalls längerfristigen Vorgehens geeignet sind, die Gefahren, die sich aus der globalen Erwärmung ergeben können, zu beseitigen (vgl. bejahend MüKoStGB/Erb StGB § 34 Rn. 113; Bönte, HRRS 2021, 164, 168; verneinend: Zieschang in Leipziger Kommentar, 13. Aufl. 2019, § 34 StGB Rn 91; Schönke/Schröder/Perron, 30. Aufl. 2019, StGB § 34 Rn. 19).

(iii) Die Revision meint, im Einzelfall könne eine politisch motivierte Verkehrsblockade nach § 34 StGB gerechtfertigt sein.

1. Die Revision räumt ein, § 34 StGB könne grundsätzlich keine Gesetzesverletzungen rechtfertigen, die darauf angelegt seien, eigenmächtig Maßnahmen durchzusetzen, die einer Entscheidung des demokratisch legitimierten Gesetzgebers bedürften. Denn dies würde abschließende Verfahrensregelungen missachten, die Ausdruck des Mehrheitsprinzips seien. Anders sei dies aber angesichts des existentiellen Risikos der globalen Erwärmung zu sehen. Ähnlich wie in der „notwehrähnlichen Lage“ sei eine Rechtfertigung von vorbeugenden „Widerstandsmaßnahmen“ nach § 34 StGB nicht ausgeschlossen. Eine Straftat könne im Einzelfall nach § 34 StGB gerechtfertigt sein, wenn das Interesse an einer politischen Befassung mit der Gefahrenabwehr das Interesse an der Friedens- und Ordnungsfunktion des Rechts wesentlich überwiegt (RevBegr. S 17f i.V.m Bönte HRRS 2021, 164, 172; RevBegr. Anm. S. 3; Satzger/von Maltitz, ZStW 2021, 1, 31, die die Frage aufwerfen, ob angesichts der elementaren Bedeutung des Klimaschutzes Straftaten „im Namen des Klimaschutzes“ eine gesonderte Behandlung seitens der Rechtsordnung zugesprochen werden kann).

2. Die skizzierte Auffassung der Revision überzeugt nicht.

a) Es ist kein Bedürfnis erkennbar, praeter legem einen weiteren Rechtfertigungsgrund für Verkehrsblockaden zu schaffen, deren Sinn und Zweck es ist, mittelbar Druck auf den Gesetzgeber auszuüben. Wie bereits dargelegt, bestehen im demokratischen Rechtsstaat diverse Möglichkeiten effektiv auf die gesetzgeberischen Körperschaften einzuwirken, um diese zu den gewünschten Maßnahmen zu veranlassen [siehe oben: 3) b) i) (1) (b) (ii) = Seite 9]. Eine „notwehrähnliche“ Sachlage, die dazu drängt, auf den Gesetzgeber mittelbar durch die Begehung von Straftaten einzuwirken, besteht daher nicht. Deshalb ist die Anerkennung eines besonderen Rechtsfertigungsgrund für Taten der vorliegenden Art nicht angezeigt.

b) Mit § 34 StGB hat der Gesetzgeber einen Rechtfertigungsgrund geschaffen, der die Rechtswidrigkeit einer Straftat ausschließt, wenn jemand in einer gegenwärtigen Gefahr für ein Rechtsgut eine Straftat begeht, um die Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden. Zusätzliche Voraussetzungen für die Anwendbarkeit von § 34 StGB sind noch, dass die Gefahr für das Rechtsgut nicht anders abwendbar ist, dass die Tat ein angemessenes Mittel ist, die Gefahr abzuwenden und dass bei Abwägung der widerstreitenden Interessen das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt. Somit sieht die Rechtsordnung bereits positiv einen Rechtfertigungsgrund für Straftaten dann vor, wenn eine Abwägung der beteiligten Interessen erforderlich ist und diese ein wesentliches Überwiegen des geschützten Interesses ergibt. Damit ist aber eine Situation der hier vorliegenden Art vom Gesetzgeber bereits abschließend geregelt. Eine auf den Einzelfall beschränkte Analogie zu § 34 StGB, die lediglich eine Interessenabwägung voraussetzt und auf die weiteren Anwendungsvoraussetzung von § 34 StGB verzichtet oder die Anerkennung eines selbständigen, neu zu schaffenden, Rechtfertigungsgrundes, bei dem es ausschließlich auf die Abwägung ankommt, verbietet sich daher.

c) Die Tat ist auch nicht, sofern man darin überhaupt einen Rechtfertigungsgrund sehen will, durch „zivilen Ungehorsam“ gerechtfertigt:

(i) Unter zivilem oder bürgerlichem Ungehorsam wird – im Unterschied zum Widerstandsrecht gegenüber einem Unrechtssystem – ein Widerstehen des Bürgers gegenüber einzelnen gewichtigen staatlichen Entscheidungen verstanden, um einer für verhängnisvoll und ethisch illegitim gehaltenen Entscheidung durch demonstrativen, zeichenhaften Protest bis zu aufsehenerregenden Regelverletzungen zu begegnen (BVerfG, Urteil vom 11. November 1986 – 1 BvR 713/83 –, juris Rn. 91). Die herrschende Meinung lehnt eine Rechtfertigung von Straftaten durch „zivilen Ungehorsam“ ab.

(ii) Das Bundesverfassungsgericht hat zur Frage, ob „ziviler Ungehorsam“ speziell eine gezielte und bezweckte Verkehrsbehinderung durch Sitzblockaden rechtfertigen kann, ausgeführt, dies komme zumindest dann nicht in Betracht, wenn Aktionen des zivilen Ungehorsams wie bei Verkehrsbehinderungen in die Rechte Dritter eingreifen, die ihrerseits unter Verletzung ihres Selbstbestimmungsrechts als Instrument zur Erzwingung öffentlicher Aufmerksamkeit benutzt werden. Dabei bliebe zudem außer Acht, dass zum Wesen des zivilen Ungehorsams nach der Meinung seiner Befürworter die Bereitschaft zu symbolischen Regelverletzungen gehört, dass er also per definitionem Illegalität mit dem Risiko entsprechender Sanktionen einschließt als Mittel, auf den öffentlichen Willensbildungsprozess einzuwirken. Angesichts dieser Zielrichtung erschiene es widersinnig, den Gesichtspunkt des zivilen Ungehorsams als Rechtfertigungsgrund für Gesetzesverletzungen geltend zu machen (BVerfG, a.a.O. Rn. 93).

(iii) Dem schließt sich der Senat unter Bezugnahme auf die dargestellte Begründung des Bundesverfassungsgerichts an, wobei zusätzlich noch berücksichtigt wurde, dass ziviler Ungehorsam Rechtsbruch ist, er die innerstaatliche Friedenspflicht verletzt, er gegen das Prinzip der Gleichheit aller vor dem Gesetz verstößt und er sich über das Mehrheitsprinzip hinwegsetzt, das für ein demokratisch verfasstes Gemeinwesen konstituierend ist (vgl. BVerfG, a.a.O Rn 92). Zusätzlich spricht gegen die Anerkennung von „zivilen Ungehorsam“ als Rechtfertigungsgrund folgende Argumentation: Ziviler Ungehorsam ist Protest, der sich gegen eine verfassungsgemäß zustande gekommene Mehrheitsentscheidung – einen fundamentalen Gemeinschaftswert – richtet und diese gestützt auf vorgeblich verallgemeinerungsfähige, aber offenkundig noch nicht mehrheitlich getragene Prinzipien und Wertvorstellungen in Frage stellt. Anstatt für die eigene Meinung auf legale Weise um eine Mehrheit zu werben, setzt der, der zivilen Ungehorsam leistet, die Überlegenheit der eigenen Ansicht voraus und leitet daraus das Recht ab, diese auch mit illegalen Mitteln durchsetzen zu dürfen. Die Annahme einer Rechtfertigung würde bedeuten, ein solches Recht tatsächlich zuzugestehen und damit der Ansicht einer Minderheit ein höheres Gewicht zuzubilligen als der im Rahmen des demokratischen Willensbildungsprozesses entstandenen Entscheidung der Mehrheit. Dies verstieße nicht nur gegen Art. 3 Abs. 3 GG, der die Bevorzugung einer aktiv geltend gemachten politischen Anschauung ausdrücklich verbietet, sondern stellte durch den Verzicht auf die Durchsetzung der Mehrheitsregel auch eine Selbstaufgabe von Demokratie und Rechtsfrieden durch die Rechtsordnung dar (Rönnau in Leipziger Kommentar, 13. Aufl. 2019, Vorbemerkungen zu den §§ 32 ff StGB Rn. 142).

ii) Die Tat des Angeklagten ist verwerflich im Sinne von § 240 Abs. 2 StGB.

(1) Insoweit wird Bezug genommen auf die Zuschrift der Generalstaatsanwaltschaft vom 20. Februar 2023 (dort Seite 9ff).

(2) Das Amtsgericht (UA S. 11f) hat die im Rahmen der Verwerflichkeitsprüfung durchgeführte Abwägung anhand der vom Bundesverfassungsgericht vorgegebenen Abwägungselemente durchgeführt. Insbesondere hat das Amtsgericht den Zweck der Verkehrsblockade nicht als Gesichtspunkt gewertet, der für die Verwerflichkeit spräche (vgl. BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 7. März 2011 – 1 BvR 388/05 –, juris Rn. 39)……“

Das BayObLG liegt mit seiner Argumentation auf der Linie des OLG Celle, begründet das nur etwas „wortreicher“ 🙂 .

Mehr Rechtsprechung zu den Fragen habe ich derzeit nicht. Da gibt es zwar noch das AG Mannheim, Urt. v.  25.04.2023 – 24 Cs 806 Js 31626/22 , das aber keine Besonderheiten enthält. Und: Es gibt zwar auch noch ein AG Frankfurt am Main-Urteil v. 11.05.2023 und ein AG  Tiergarten-Urt. v. 26.04.2023 – beide zum Festkleben an Gemälderahmen. Von denen liegen aber leider bislang die Volltexte noch nicht vor. Daher müssen insoweit derzeit noch die verlinkten Meldungen reichen.

Akteneinsicht I: Ermittlungsakten im Zivilverfahren, oder: Wann und wie sind sie beizuziehen?

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Und heute dann ein Tag mit Entscheidungen zu Akten und/oder Akteneinsicht.

Zunächst eine zivilrechtliche Entscheidung, nämlich das BGH, Urt. v. 16.03.2023 – III ZR 104/21. Folgender Sachverhalt: Der Kläger hatte einen Motorradunfall erlitten und lag im Krankenhaus. Er bat seine Freundin, die Beklagate, ihm Geld von seinem Konto abzuheben. Dazu gab er ihr seine Bankkarte und teilte ihr seine PIN mit. Die Beklagte hat dann 1.500 EUR abgehoben und diese dem Kläger übergeben. In den folgenden fünf Monaten erfolgten 49 weitere Abhebungen vom Konto des Klägers in Höhe von insgesamt rund 43.500 EUR.

Der Kläger erstattete Strafanzeige gegen die Beklagte. Im Ermittlungsverfahren holte die Staatsanwaltschaft Bankauskünfte ein und legte einen Sonderband „Bankauskunft“ an. Der Kläger hat Einsicht in diesen Band abgelehnt. Das Strafverfahren gegen die Beklagte ist nach 3 170 Abs. 2 StPO eingestellt worden.

Der Kläger verlangt von der Beklagten die Erstattung von insgesamt 46.500 EUR und die Feststellung, dass die Forderung auf vorsätzlich begangener unerlaubter Handlung im Sinne des § 302 Nr. 1 InsO beruht. Der Kläger behauptet, die Beklagte habe an Geldautomaten von seinem Postbankkonto mit seiner Bankkarte und seiner PIN Beträge in der genannten Gesamthöhe unberechtigt abgehoben und behalten. Das LG hat die Klage abgewiesen, das OLG hat dem Kläger 12.000 EUR zugesprochen und im Übrigen die Klage abgewiesen. Der Sondeband „Bankauskunft2 ist nicht (mehr) beigezogen worden.

Das rügt der BGH, der aufgehoben und zurückverwiesen hat:

„Diese Ausführungen halten revisionsgerichtlicher Nachprüfung nicht stand.

1. Dass das Berufungsgericht den „Sonderband Bankauskunft“ bei der Staatsanwaltschaft Regensburg nicht beigezogen und verwertet hat, verletzt in entscheidungserheblicher Weise den Anspruch des Klägers aus Art. 103 Abs. 1 GG.

a) Der Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG als grundrechtsgleiches Recht soll sicherstellen, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, welche ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben. In diesem Sinne gebietet Art. 103 Abs. 1 GG die Berücksichtigung erheblicher Beweisanträge. Die Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisangebots verstößt – auch bei Kenntnisnahme des Vorbringens durch den Tatrichter – dann gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn sie im Prozessrecht keine Stütze mehr findet (stRspr, zB Senat, Beschluss vom 7. Juni 2018 – III ZR 210/17, WM 2018, 1252 Rn. 4; BGH, Beschlüsse vom 2. November 2021 – IX ZR 39/20, NJW-RR 2022, 69 Rn. 5 und vom 11. Januar 2022 – VIII ZR 33/20, WM 2022, 347 Rn. 13 f; jew. mwN). Das ist hier der Fall.

b) Das Berufungsgericht hat es mit Recht als erheblich angesehen, ob und in welchem Umfang beziehungsweise wie oft die Beklagte unberechtigte Barabhebungen vom Postbankkonto des Klägers an Geldautomaten vornahm, wofür der Kläger die Darlegungs- und Beweislast zu tragen hat. Es hat jedoch den den formalen Anforderungen der §§ 430, 432 ZPO genügenden Beweisantrag des Klägers vom 26. Juni 2020 (GA 231), den „Sonderband Bankauskunft“ der Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft beizuziehen, in dem sich Auszüge der Konten der Beklagten und ihres Sohnes für den Zeitraum von November 2014 bis Mai 2015 befinden, mit einer Begründung abgelehnt, die im Prozessrecht keine Stütze mehr findet.

aa) Gemäß § 432 Abs. 1 ZPO in Verbindung mit § 474 Abs. 1, § 479 Abs. 4 Sätze 2 und 3 StPO steht einer Partei grundsätzlich die Möglichkeit zur Verfügung, in einem anhängigen Zivilprozess (Teile von) Ermittlungs- beziehungsweise Strafakten beiziehen zu lassen (vgl. BVerfG, [Kammer-]Beschluss vom 12. November 2021 – 1 BvR 576/19, juris Rn. 9). Die Beiziehung der Akten ist zulässig, wenn und soweit sich eine Partei unter Angabe der erheblichen Aktenteile auf diese Akten bezogen hat (vgl. BVerfG, NJW 2014, 1581 Rn. 22; BGH, Urteil vom 12. November 2003 – XII ZR 109/01, NJW 2004, 1324, 1325). § 474 Abs. 1 StPO legt die Gewährung von Akteneinsicht an Gerichte als Regelfall fest; nach dem Willen des Gesetzgebers (vgl. Regierungsentwurf des Strafverfahrensänderungsgesetzes 1999, BT-Drucks. 14/1484, S. 26) ist den Gerichten grundsätzlich Akteneinsicht zu gewähren (vgl. OLG Hamm, BB 2014, 526, 527 und 529). Grundrechte der anderen Partei oder Dritter, insbesondere deren Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung nach Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG, stehen der Aktenbeiziehung und der Einsichtnahme in die beigezogene Akte durch die Gerichte in aller Regel nicht entgegen. Diesen Grundrechten kann vielmehr dadurch Rechnung getragen werden, dass im konkreten Fall das Gericht nach Erhalt der angeforderten Ermittlungs- oder Strafakte unter Berücksichtigung der schutzwürdigen Interessen der anderen Partei und gegebenenfalls Dritter abwägt und so prüft, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang Informationen aus ihr im Zivilverfahren verwertet werden können (vgl. BVerfG aaO Rn. 24 ff und 29); der Zugang zu den Informationen aus der beigezogenen Akte ist gegebenenfalls angemessen zu beschränken (vgl. BVerfG, NJW 2007, 1052).

bb) Ausgeschlossen ist ein Beweisantritt nach § 432 Abs. 1 ZPO nach Absatz 2 der Vorschrift, wenn der Beweisführer die Urkunde nach den gesetzlichen Vorschriften ohne Mitwirkung des Gerichts zu beschaffen imstande ist. Dieser Ausschlusstatbestand ist jedoch nicht erfüllt. Der Kläger hatte einen Antrag auf Einsichtnahme in den Sonderband „Bankauskunft“ der Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft Regensburg gestellt, der von dieser zurückgewiesen wurde. Hiergegen stellte der Kläger Antrag auf gerichtliche Entscheidung zum Amtsgericht Regensburg, den dieses mit der (Haupt-)Begründung zurückwies, die Einsicht in den Sonderband sei zur Durchsetzung der Interessen des Klägers nicht erforderlich.

Dahinstehen kann, ob sich auch aus Absatz 3 der Vorschrift ein Ausschlusstatbestand ergeben kann (dafür zB Feskorn in Zöller, ZPO, 34. Aufl., § 432 Rn. 2; Huber in Musielak/Voit, ZPO, 19. Aufl., § 432 Rn. 4; Seiler in Thomas/Putzo, ZPO, 43. Aufl., § 432 Rn. 1; Krafka in BeckOK-ZPO [1. Dezember 2022], § 432 Rn. 3; Förster in Kern/Diehm, ZPO, 2. Aufl., § 432 Rn. 2; dagegen zB Ahrens in Wieczorek/Schütze, ZPO, 4. Aufl., § 432 Rn. 2; Preuß in Prütting/Gehrlein, ZPO, 14. Aufl., § 432 Rn. 2). Denn dass ein materiell-rechtlicher Vorlegungsanspruch „gegen die Behörde“ besteht, wie es nach § 432 Abs. 3 ZPO erforderlich ist (Förster aaO; Ahrens aaO), ist nicht auszumachen, und zudem hat der Kläger eine Verpflichtung zur Vorlegung nicht auf § 422 ZPO gestützt.

cc) Somit bestehen grundsätzlich keine Hindernisse für eine Aktenbeiziehung nach § 432 Abs. 1 ZPO in Verbindung mit § 474 Abs. 1, § 479 Abs. 4 Sätze 2 und 3 StPO; der vorstehend unter Buchstaben aa beschriebene Anwendungsbereich dieser Vorschriften ist eröffnet. Dass die Voraussetzungen der §§ 422 f ZPO im Verhältnis zur Beklagten nicht vorliegen, ist ohne Belang.

Die demgegenüber vom Berufungsgericht – und soweit ersichtlich von niemandem sonst – vertretene Auffassung, die Vorschriften der §§ 422 f ZPO würden umgangen, wenn die Staatsanwaltschaft unabhängig von den Voraussetzungen dieser Bestimmungen zur Vorlage der in ihrem Besitz befindlichen Unterlagen durch das Zivilgericht aufgefordert werden könnte, weswegen die beantragte Anforderung des „Sonderbandes Bankauskunft“ abzulehnen sei, findet im Prozessrecht keine Stütze. Die Beschränkung der Vorlagepflicht der nicht beweisbelasteten Partei auf die Fälle der §§ 422 f ZPO ist Folge der Beweisführungslast ihres Gegners. Wäre die diese Last nicht tragende Partei gezwungen, ohne die besonderen Voraussetzungen der §§ 422 f ZPO in ihrem Besitz befindliche Urkunden vorzulegen, würde die Beweisführungslast zu ihrem Nachteil verkehrt, denn es besteht der Grundsatz, dass keine Partei gehalten ist, dem beweis(führungs)belasteten Gegner für seinen Prozesssieg das Material zu verschaffen, über das er nicht schon von sich aus verfügt (vgl. BGH, Urteile vom 11. Juni 1990 – II ZR 159/89, VersR 1990, 1254, 1255 und vom 17. Oktober 1996 – IX ZR 293/95, NJW 1997, 128, 129; siehe auch Schreiber in MüKo-ZPO, 6. Aufl., § 422 Rn. 1). Diese Erwägung trifft jedoch nicht zu im Verhältnis zu Dritten, die sich im Besitz einer Urkunde befinden. Maßgeblich für die Vorlagepflicht Dritter gemäß § 429 Satz 1 Halbsatz 1, § 432 Abs. 3 ZPO ist deshalb allein, ob die beweisführungsbelastete Partei im Verhältnis zu ihnen einen Vorlegungsanspruch hat. Ob die Gegenpartei in Ermangelung der Voraussetzungen der §§ 422 f ZPO nicht zur Vorlage einer Urkunde verpflichtet ist, ist demgegenüber in Bezug auf Dritte nicht von Bedeutung.

c) Die (einschränkungslose) Ablehnung des Beweisantrags (GA 231) erweist sich auch nicht als richtig, weil ihm mangels durchgreifenden rechtlichen Interesses des Klägers keine Folge zu leisten wäre.

Da der Kläger vor Gericht zivilrechtliche Ansprüche gegen die Beklagte geltend macht, hat er grundsätzlich ein rechtliches Interesse an der Erlangung der mit der Aktenbeiziehung hierfür verfolgten Informationen (vgl. LG Kassel, NZV 2003, 437). Dem Grundrecht der Beklagten und ihres Sohnes auf informationelle Selbstbestimmung kann im konkreten Fall etwa dadurch Rechnung getragen werden, dass die Einsichtnahme des Klägers in den Sonderband der Ermittlungsakte nach Maßgabe der obigen Ausführungen zu Buchstaben b aa auf (etwaige) zwischen dem 15. November 2014 und dem 31. Mai 2015 vorgenommene Einzahlungen auf die im Beweisantrag (GA 231) genannten Konten beschränkt und die Ermittlungsakte nur in diesem Umfang im vorliegenden Zivilverfahren verwertet wird.

Das rechtliche Interesse des Klägers kann nicht damit in Abrede gestellt werden, dass bloße Ausforschung betrieben würde beziehungsweise eine von vornherein aussichtslose Klage vorläge (vgl. BGH, Beschluss vom 14. Juli 2015 – KVR 55/14, NJW 2015, 3648 Rn. 32). Denn das Berufungsgericht hat es bereits nach dem seinerzeitigen Sach- und Streitstand schon „für nicht unwahrscheinlich“ gehalten, „dass die Beklagte in der Zeit vom 15.11.2014 bis 19.04.2015 mehr Barabhebungen vom Postbankkonto des Klägers vorgenommen hat, als sie im Zivilverfahren zugibt“.