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Zwang I: Auskunftsverweigerungsrecht des Zeugen?, oder: Verhältnismäßigkeit von Beugehaft

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Und weiter geht es in der 39 KW. mit StPO-Entscheidungen. Alle drei vorgestellten Entscheidungen haben Zwangsmaßnahmen zum Gegenstand.

Ich beginne mit dem BGH, Beschl. v. 21.08.2024 – StB 39/24 – zur Anordnung von Beugehaft zur Erlangung einer Aussage eines Zeugen, der sich auf ein Auskunftsverweigerungsrecht aus § 55 StPO beruft.

Ergangen ist der Beschluss in einem am OLG Stuttgart anhängigen Verfahren, in dem dem  Angeklagten die mitgliedschaftliche Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland vorgeworfen worden ist. Im Hauptverhandlungstermin am 11.06.2024 wurde der Zeuge A.     vernommen. Er war am 18.12.2023 wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland verurteilt worden; diese Entscheidung war zwischenzeitlich in Rechtskraft erwachsen. Nach der Vernehmung zur Person machte der Zeuge – entgegen dem Hinweis des Vorsitzenden des Staatsschutzsenats – geltend, ihm stehe ein umfassendes Auskunftsverweigerungsrecht zu, und verweigerte Angaben zur Sache.

Nachdem die Festsetzung von Ordnungsmitteln keine Änderung des Aussageverhaltens bewirkt hatte, hat das OLG noch am Tag der Vernehmung auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft mit dem angefochtenen Beschluss gegen den Zeugen Beugehaft von zunächst einer Woche sowie ihre sofortige Vollstreckung angeordnet und ihm die durch seine Weigerung verursachten Kosten auferlegt. Sodann ist der Zeuge in Haft genommen worden. Er hat gegen die Entscheidung – einschließlich „der Aufbürdung von Kosten“ – „sofortige Beschwerde“ erhoben. Mit Beschluss vom 14.06.2024 hat der Staatsschutzsenat dem Rechtsmittel nicht abgeholfen.

Im Hauptverhandlungstermin zur Fortsetzung der Vernehmung am 18.06.2024 hat der Zeuge weiterhin keine Angaben zur Sache gemacht. Das OLG hat daraufhin die angeordnete Beugehaft unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten aufgehoben. Anschließend hat der Zeuge erklärt, dass sich die Beschwerde gegen die Anordnung der Beugehaft „erledigt haben dürfte“, und die Feststellung der Rechtswidrigkeit des angefochtenen Beschlusses beantragt.

Der BGH hat die nunmehr auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Anordnung und Vollstreckung der Beugehaft gerichtete Beschwerde verworfen. Er macht in dem Beschluss zunächst umfnagreiche Ausführungen dazu, dass dem Zeugen ein Verweigerungsrecht aus 3 55 StPO nicht zusteht. Insoweit ordne ich das Selbstleseverfahren an. Zur Beugehaft führt er dann aus:

„b) Auch im Übrigen war die Anordnung und Vollstreckung der Beugehaft rechtmäßig.

aa) Die Maßnahme gemäß § 70 Abs. 2 StPO steht – anders als diejenigen nach § 70 Abs. 1 StPO – im gerichtlichen Ermessen. Dabei sind die Pflicht zur Sachaufklärung sowie der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten (s. BGH, Beschluss vom 10. Januar 2012 – StB 20/11, BGHR StPO § 70 Erzwingungshaft 8 Rn. 9).

bb) Der angefochtene Beschluss war wie schon die Vernehmung des Zeugen von der gerichtlichen Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) gedeckt.

(1) Die Erforschung des wahren Sachverhalts ist das zentrale Anliegen des Strafprozesses. Die Aufklärungspflicht begründet deshalb für die Verfahrensbeteiligten einen unverzichtbaren Anspruch darauf, dass die Beweisaufnahme auf alle Tatsachen sowie alle tauglichen und erlaubten Beweismittel erstreckt wird, die für die Entscheidung von Bedeutung sind (st. Rspr.; s. etwa BGH, Beschluss vom 17. Oktober 1983 – GSSt 1/83, BGHSt 32, 115, 122 f.). Sie kann das Tatgericht nach den Umständen des Falls sogar verpflichten, gegen einen Zeugen, der ohne gesetzlichen Grund die Aussage verweigert, die in der Strafprozessordnung vorgesehenen Zwangs­mittel festzusetzen und zu vollstrecken (vgl. BGH, Urteil vom 15. Ju­li 1998 – 2 StR 173/98, NStZ 1999, 46; Beschluss vom 10. Januar 2012 – StB 20/11, BGHR StPO § 70 Erzwingungshaft 8 Rn. 15).

Welche Beweiserhebungen in der Hauptverhandlung geboten sind, unterliegt dabei in erster Linie der Beurteilung des erkennenden Gerichts, zumal die Aufklärungspflicht in einer Wechselbeziehung mit der tatrichterlichen Überzeugung steht (vgl. LR/Becker, StPO, 27. Aufl., § 244 Rn. 46 mwN).

(2) Gemessen an diesen Maßstäben ist das Vorgehen des Oberlandesgerichts frei von Bedenken. Insbesondere hat sich der Staatsschutzsenat – entgegen der in der Beschwerderechtfertigung geäußerten Ansicht – nicht von vorneherein mit der Verlesung der Gründe des gegen den Zeugen ergangenen rechtskräftigen Urteils sowie der Vernehmung von Ermittlungspersonen begnügen müssen. Denn das Tatgericht ist nicht gehindert, sondern vielfach, wenn nicht gar in der Regel gehalten, sich um ein sachnäheres Beweismittel zu bemühen, selbst wenn es ohne die Beweiserhebung aufgrund bereits genutzter sachfernerer Beweismittel die (unter Vorbehalt stehende) Überzeugung vom Tatvorwurf gewonnen hat (vgl. BVerfG, Beschluss vom 20. Dezember 2012 – 2 BvR 659/12, NStZ-RR 2013, 115 f.; BGH, Beschluss vom 8. April 2003 – 3 StR 92/03, NStZ 2004, 50; LR/Becker, StPO, 27. Aufl., § 244 Rn. 66 mwN); im Anschluss an die Rechtskraft des gegen den Zeugen ergangenen Urteils hat das Oberlandesgericht dementsprechend dessen Einvernahme in der Hauptverhandlung betrieben. Darüber hinaus hätten konkretisierende Angaben des Beschwerdeführers zur Stellung und Tätigkeit des Angeklagten im Komitee M.         ohne Weiteres Bedeutung für die Strafzumessung gewinnen können.

cc) Die angefochtene Entscheidung wahrt den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.

Da das Gesetz keine speziellen materiellen Voraussetzungen zum Schutz des Freiheitsgrundrechts vorsieht, hat das Verhältnismäßigkeitsprinzip besondere Relevanz. Danach muss die Beugehaft nach den Umständen des Falls unerlässlich sein und darf zur Bedeutung nicht außer Verhältnis stehen, welche der Strafsache als solcher sowie der Aussage für den Ausgang des Verfahrens zukommt (s. BVerfG, Beschluss vom 25. Januar 2007 – 2 BvR 26/07, BVerfGK 10, 216, 225; BGH, Beschlüsse vom 4. August 2009 – StB 32/09, BGHR StPO § 70 Erzwingungshaft 7 Rn. 7; vom 10. Januar 2012 – StB 20/11, BGHR StPO § 70 Erzwingungshaft 8 Rn. 9).

Das Oberlandesgericht hat zu Recht angenommen, dass eine Aussage des Zeugen zur Sache ohne Beugehaft nicht zu erlangen war. Gemäß den aufgezeigten Maßstäben hat es zudem – entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers – zutreffend auf das Gewicht der dem Angeklagten angelasteten Straftat abgestellt. Überdies hat es davon ausgehen dürfen, dass trotz fortgeschrittener Beweisaufnahme Angaben des Zeugen den Ausgang des Strafverfahrens noch beeinflussen können (vgl. BGH, Beschluss vom 4. August 2009 – StB 32/09, BGHR StPO § 70 Erzwingungshaft 7 Rn. 9). Nach der maßgeblichen Ex-ante-Sicht genügt es hierfür grundsätzlich, dass die Nutzung des sachnäheren Beweismittels das bisher gewonnene Beweisergebnis voraussichtlich untermauern wird. Wie ausgeführt (s. oben bb] [2]), waren auch für den Strafausspruch bedeutsame Erkenntnisse zu erwarten. Da die Beweisaufnahme vor dem Abschluss stand, hat der Staatsschutzsenat ferner die sofortige Vollstreckung als erforderlich erachten dürfen (zur Zuständigkeit vgl. BGH, Beschluss vom 17. März 1989 – I BGs 100/89, BGHSt 36, 155, 156 f.). Schließlich zeigt sich die Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeits- und des Beschleunigungsgrundsatzes daran, dass das Oberlandesgericht die Beugehaft umgehend aufgehoben hat, nachdem es im nächsten Vernehmungstermin die Überzeugung gewonnen hatte, der Zeuge werde trotz weiteren Beugehaftvollzugs auf absehbare Zeit zur Sache nicht aussagen.

Darauf, ob der Angeklagte auch ohne die Aussage des Beschwerdeführers dem Anklagevorwurf entsprechend verurteilt worden ist, kommt es deshalb nicht ausschlaggebend an.“

Ganz interessant für die Praxis, denn wann liest man schon mal so ausführlich vom BGH zur Beugehaft.

Haft II: Dringender Tatverdacht in der Beschwerde, oder: Bewertung des Tatgerichts hat Vorrang

entnommen wikipedia.org

Im zweiten Posting dann etwas vom BGH, und zwar der BGH, Beschl. v. 06.08.2024 – StB 48/24, in dem der BGH noch einmal zur Beurteilung des dringenden Tatverdachts durch das Beschwerdegericht im Beschwerdeverfahren Stellung genommen hat.

Der Angeklagte befand sich vom bis zum 0 in U-Haft aufgrund Haftbefehls des Ermittlungsrichters des ), nach Anklageerhebung neu gefasst durch . Gegenstand des zuletzt maßgeblichen, der Anklage entsprechenden Haftbefehls ist der Vorwurf, der Angeklagte habe sich zwischen dem 20.05. und Ende Juni 2015 in der Arabischen Republik Syrien durch neun selbständige Handlungen an der ausländischen terroristischen Vereinigung „Islamischer Staat“ (IS) beteiligt (§ 129a Abs. 1 Nr. 1, § 129b Abs. 1 StGB) und verschiedene Straftaten begangen (wegen der Einzelh. s. den Volltext des BGH).

Wegen dieser Vorwürfe findet seit dem 0 die Hauptverhandlung vor dem OLG Koblenz statt. Dieses hat den Haftbefehl durch Beschluss vom 0 mit der Begründung aufgehoben, dass der Angeklagte nach vorläufiger Bewertung des bisherigen, an über zwanzig Verhandlungstagen gewonnenen Beweisergebnisses der ihm zur Last gelegten Taten nicht mehr dringend verdächtig sei.

Dagegen die Beschwerde des GStA, die keinen Erfolg hatte:

Die nach § 304 Abs. 4 Satz 2 Halbsatz 2 Nr. 1 StPO statthafte und auch im Übrigen zulässige (§ 306 Abs. 1 StPO) Beschwerde ist unbegründet.

1. Die Beurteilung des dringenden Tatverdachts, die das erkennende Gericht während laufender Hauptverhandlung vornimmt, unterliegt im Haftbeschwerdeverfahren in nur eingeschränktem Umfang der Nachprüfung durch das Beschwerdegericht. Allein das Gericht, vor dem die Beweisaufnahme stattfindet, ist in der Lage, deren Ergebnisse aus eigener Anschauung festzustellen und zu würdigen sowie auf dieser Grundlage zu bewerten, ob der dringende Tatverdacht nach dem erreichten Verfahrensstand noch fortbesteht oder weggefallen ist. Das Beschwerdegericht hat demgegenüber keine eigenen unmittelbaren Erkenntnisse über den Verlauf der Beweisaufnahme. Allerdings muss es auch im Fall der Aufhebung eines Haftbefehls in die Lage versetzt werden, seine Entscheidung über ein hiergegen gerichtetes Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft auf einer hinreichend tragfähigen tatsächlichen Grundlage zu treffen. Hieraus folgt indes nicht, dass das erkennende Gericht alle bislang erhobenen Beweise in der von ihm zu treffenden Entscheidung einer umfassenden Darstellung und Würdigung zu unterziehen hat. Seine abschließende Bewertung der Beweise und ihre entsprechende Darlegung ist den Urteilsgründen vorbehalten. Das Haftbeschwerdeverfahren führt insoweit nicht zu einem über die Nachprüfung des dringenden Tatverdachts hinausgehenden Zwischenverfahren, in dem sich das Tatgericht zu Inhalt und Ergebnis aller Beweiserhebungen erklären müsste.

Um dem Beschwerdegericht eine eigenverantwortliche Entscheidung zu ermöglichen, bedarf es daher einer – wenn auch knappen – Darstellung, ob und inwieweit sowie durch welche Beweismittel sich der zu Beginn der Beweisaufnahme vorliegende Verdacht bestätigt oder verändert hat und welche Beweisergebnisse gegebenenfalls noch zu erwarten sind. Das Beschwerdegericht beanstandet die Beurteilung des dringenden Tatverdachts, soweit die Würdigung des Erstgerichts offensichtliche Mängel aufweist, welche die Einschätzung der Verdachtslage als unvertretbar erscheinen lassen. Der Beschwerde vermag es indes nicht zum Erfolg zu verhelfen, wenn der Rechtsmittelführer die Ergebnisse der Beweisaufnahme abweichend bewertet (s. insgesamt BGH, Beschlüsse vom StB 38/20, juris Rn. 12 f. mwN; vom StB 28/20, BGHR StPO § 112 Tatverdacht 5 Rn. 16 f.).

2. Unter Beachtung dieses Maßstabes ist die vorläufige Beweiswürdigung des Oberlandesgerichts hinzunehmen. Dieses hat in der angefochtenen Entscheidung und vertiefend mit Beschluss vom zur Nichtabhilfe die Gründe dargelegt, aus denen es einen dringenden Tatverdacht nicht mehr für gegeben erachtet. Diese Ausführungen sind ausreichend, um eine Prüfung nach den beschriebenen Grundsätzen zu ermöglichen und die im derzeitigen Verfahrensstand vorrangig vom Tatgericht vorzunehmende Bewertung der Beweislage zumindest als noch vertretbar anzusehen.

a) Das Oberlandesgericht ist nach Darlegung der Einlassung des Angeklagten und der bisher in der Hauptverhandlung erhobenen Beweise zu der Einschätzung gekommen, dass aufgrund der seit der Anklageerhebung und durch die Beweisaufnahme neu bekannt gewordenen Umstände die Möglichkeit nicht fernliege, dass der Angeklagte durch einige Zeugen zu Unrecht belastet worden sei. Beispielsweise hätten Zeugenvernehmungen Belastungstendenzen ohne sachlichen Hintergrund erbracht. Zudem habe die das Verfahren auslösende Nichtregierungsorganisation wesentliche entlastende Beweisergebnisse zum Teil über ein Jahr zurückgehalten und diese nur anlässlich der Zeugenvernehmung eines verantwortlichen Mitarbeiters in der Hauptverhandlung offenbart. Im Folgenden hat sich das Oberlandesgericht mit jedem einzelnen Tatvorwurf befasst und die aus seiner Sicht maßgeblichen Gründe für das Entfallen des dringenden Tatverdachts aufgezeigt.

b) Die dagegen mit der Beschwerde vorgebrachten Einwände dringen, zumal unter Berücksichtigung der weiteren Ausführungen im Nichtabhilfebeschluss, im Ergebnis nicht durch. Obschon in der Beschwerdebegründung erörterte Umstände nahelegen, dass eine andere Würdigung des aktuellen Beweisergebnisses möglich wäre, ergeben sich daraus keine offensichtlichen Mängel der angefochtenen Entscheidung.

aa) Das Oberlandesgericht hat in Bezug auf Fall 2 berücksichtigt, dass das Opfer des dem Angeklagten zur Last gelegten versuchten Tötungsdeliktes bislang nicht in der Hauptverhandlung vernommen worden ist und sonst keine das konkrete Geschehen betreffenden Beweismittel bekannt sind. Im Rahmen der vorläufigen Bewertung der Beweislage hat es einstellen dürfen, dass der sich in den Niederlanden aufhaltende Zeuge zu dem für seine Vernehmung vorgesehenen Hauptverhandlungstermin nicht erschienen ist, er seine Aussagebereitschaft von einem – aktuell nicht absehbaren – Familiennachzug abhängig gemacht hat und seine Vernehmung nicht zwangsweise herbeigeführt werden kann. Denn für die Beurteilung des Tatverdachts kommt es jedenfalls nach Beginn der Hauptverhandlung darauf an, ob die Verurteilung mit vollgültigen Beweismitteln hochwahrscheinlich ist (vgl. die entsprechende st. Rspr. zum hinreichenden Tatverdacht, etwa , BGHSt 64, 1 Rn. 14 mwN). Dass die – von der Einschätzung des Generalbundesanwalts abweichende – Prognose des Oberlandesgerichts zu einer Vernehmungsmöglichkeit des Zeugen unvertretbar ist, ist nicht ersichtlich. Im Übrigen hat es zur Bewertung der Beweislage den konkreten Tatvorwurf nicht unmittelbar betreffende Erkenntnisse aus der Beweisaufnahme heranziehen dürfen, die ihm Anlass gegeben haben, die bisherigen, sich aus den Akten ergebenden Aussagen des Zeugen kritischer als zuvor zu bewerten.

bb) Hinsichtlich des Falles 4 hat das Oberlandesgericht insbesondere erwogen, dass der bislang nicht in der Hauptverhandlung vernommene, laut Anklagevorwurf von der Geiselnahme Betroffene – nach vorläufiger Einschätzung der übrigen Beweislage – unzutreffende Angaben zu den Fällen 7 und 8 gemacht habe; daher sei die Richtigkeit des von ihm zu seiner eigenen Entführung Bekundeten nicht hochwahrscheinlich. Insofern macht der Generalbundesanwalt zwar berechtigterweise geltend, dass die Glaubhaftigkeit der Aussagen zu unterschiedlichen Vorfällen nicht einheitlich beurteilt werden müsse. Allerdings handelt es sich hierbei letztlich um eine Wertung, die während der Hauptverhandlung gerade dem Tatgericht vorbehalten ist. Ähnliches gilt für die Frage, inwieweit dem Umstand Gewicht zukommt, dass andere Zeugen ausgesagt haben, sie seien ebenfalls im „Gästepalast“ festgehalten, der Betroffene ihres Wissens aber nicht dort inhaftiert worden.

cc) Bezüglich der Fälle 7 und 8 habe, so das Oberlandesgericht, keiner der bisher vernommenen Zeugen von einer weiteren Hinrichtung zweier Kämpfer der „Freien Syrischen Armee“ über die Fälle 5 und 6 hinaus berichtet. Da der Bruder desjenigen Zeugen, auf den insoweit der dringende Tatverdacht bislang gestützt worden sei, nach dem bisherigen Ergebnis der Hauptverhandlung nach Zeugen für Anschuldigungen gegen den Angeklagten gesucht habe, erschienen aufgrund der engen familiären Verbundenheit auch die Aussagen des Zeugen und seiner Ehefrau nicht mehr geeignet, einen dringenden Tatverdacht zu begründen. Ferner habe der Zeuge nach Aktenlage Vorwürfe gegen einen Bruder des Angeklagten erhoben, die mit dem vorläufigen Ergebnis der Beweisaufnahme nicht in Einklang stünden. Dass das Oberlandesgericht vor diesem Hintergrund keinen dringenden Tatverdacht mehr sieht, ist nach den eingangs dargelegten Maßstäben vertretbar.

dd) Dies gilt ebenfalls für den Vorwurf zu Fall 9, demzufolge der Angeklagte mit anderen das von dem Bruder des vorgenannten Zeugen bewohnte Haus ausgeräumt und zur Nutzung durch den IS vorbereitet habe. Aus den bereits aufgezeigten Gründen hält das Oberlandesgericht die sich aus den Akten ergebenden Aussagen der Brüder und der Ehefrau für nicht ausreichend, um einen dringenden Tatverdacht zu begründen. Hinzu kommt, dass der das Haus ursprünglich bewohnende Bruder nach Bekundungen mehrerer Zeugen schon vor der Ankunft des IS geflohen gewesen sei und daher zu etwaigen Tätern aus eigener Anschauung keine Angaben machen könne.

ee) Für die aktuelle Beurteilung der Beweislage durch das Tatgericht ist schließlich nicht entscheidend, dass es bei Erlass des geänderten Haftbefehls insgesamt aufgrund der Aktenlage einen dringenden Tatverdacht angenommen, bislang aber die dort genannten Augenzeugen für die Fälle 2, 4 und 7 bis 9 nicht vernommen hat. Das Oberlandesgericht hat den möglichen weiteren Erkenntnisgewinn durch die ausstehenden Zeugenaussagen bedacht, die nach der letzten Haftentscheidung gewonnenen anderweitigen Erkenntnisse aus den von ihm plausibel dargelegten Gründen jedoch für so gewichtig gehalten, dass es seine ursprüngliche Einschätzung der Verdachtslage nicht mehr aufrechterhalten hat.“

Haft I: Beschleunigungsgebot gilt auch in der Revision, oder: Wenn der BGH „bummelt“, rüffelt das OLG

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Und dann starte ich in die neue Woche mit zwei Entscheidungen zum Haftrecht.

Ich stelle zunächst den OLG Frankfurt am Main, Beschl. v. 06.06.2024 – 1 Ws 159/24. Das OLG hat einen (schon) außer Vollzug  U-Haftbefehl wegen Verstoßes gegen Beschleunigungsgebot im Revisionsverfahren aufgehoben. Aber diese Mal nicht wegen einer „Bummelei“ beim LG oder OLG, sondern – wie das OLG – meint beim BGH. Ich wage mal die Behauptung, dass man das beim BGH nicht so gern lesen wird.

Folgender SachverHalt: Der Angeklagte befand sich in dieser Sache in der Zeit vom 16.01.2018 bis zum 03.04.2024 in Untersuchungshaft. Mit Beschluss vom 03.04.2024 setzte eine Strafkammer den Vollzug des Haftbefehls gegen zahlreiche Auflagen und Weisungen außer Vollzug.

Dem war vorausgegangen, dass der Angeklagte am 18.06.2019 – unter Freisprechung im Übrigen – vom LG Frankfurt am Main wegen vollendeten und versuchten schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern zu einer Gesamtfreiheitstrafe von zehn Jahren verurteilt und seine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet worden war. Auf die Revision des Angeklagten hatte der BGH mit Beschluss vom 16.09.2020 (es dürfte sich um 2 StR 529/19 gehandelt haben) sämtliche Einzelstrafen, die Gesamtstrafe und die Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung aufgehoben. Das LG Frankfurt am Main  hat den Angeklagten sodann am 15.07.2021  zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren und neun Monaten verurteilt und seine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Auf die Revision des Angeklagten hat der BGH mit Beschluss vom 24.10.2023 das Urteil aufgehoben  und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine als Jugendschutzkammer zuständige Strafkammer eines anderen LG zurückverwiesen (es dürfte sich um 2 StR 33/22 gehandelt haben).

Die Kammer hat auf Antrag des Angeklagten den Vollzug des Haftbefehls mit Beschluss vom 03.04.2024 ausgesetzt. Dagegen hat die GStA Beschwerde eingelegt. Die hatte nicht nur keinen Erfolg, sondern das OLG hat sogar zur Aufhebung des Haftbefehls geführt:

„Die Aufrechterhaltung des Haftbefehls ist – was von der Generalstaatsanwaltschaft übersehen wird – vorliegend indes nicht gerechtfertigt, weil das aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG und Art. 5 Abs. 3 Satz 1, 2. Halbsatz MRK folgende Beschleunigungsgebot verletzt ist. Das in Haftsachen geltende Gebot der besonderen Verfahrensbeschleunigung verlangt, dass die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte von Anfang an alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung über die einem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen (vgl. nur BVerfG, BeckRS 2007, 33088). Grundsätzlich kann daher die Untersuchungshaft zur Durchführung eines geordneten Strafverfahrens und zur Sicherstellung der Strafvollstreckung nicht mehr als notwendig anerkannt werden, wenn ein Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot vorliegt. Allerdings vergrößert sich das Gewicht des staatlichen Strafanspruchs gegenüber dem Freiheitsrecht des Untersuchungsgefangenen, wenn der Schuldspruch – wie hier – rechtskräftig ist, da bei dieser Verfahrenslage die Unschuldsvermutung nicht mehr gilt. In solchen Fällen kommt es für die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit daher nicht mehr allein darauf an, ob es zu einer sachlich nicht zu rechtfertigenden, vermeidbaren und erheblichen, von dem Angeklagten nicht zu vertretenden Verfahrensverzögerung gekommen ist, sondern es sind auch die zu erwartende Strafe und der Grad des die Justiz an der Verfahrensverzögerung treffenden Verschuldens zu berücksichtigen (OLG Köln, Beschluss vom 22. April 2005 – 2 Ws 151/05 mN).

Wie der Senat in seinen Beschlüssen vom 29. Januar 2019 (…) und 25. Mai 2021 (…) ausgeführt hat, ist das Verfahren bis dahin entsprechend dem Beschleunigungsgebot hinreichend gefördert worden. Auch danach sind bis zur Verkündung des Urteils am 15. Juli 2021 und Vorlage der Akten an den Bundesgerichtshof keine erheblichen Verfahrensverzögerungen zu verzeichnen.

Es war das – unter Wiedergabe der rechtskräftigen Feststellungen der (…) Strafkammer auf 94 Seiten – 135 Seiten umfassende Urteil abzusetzen, das Rechtsanwalt A am 06. Oktober 2021 und Rechtsanwalt B am 07. Oktober 2021 zugestellt wurde. Die Revisionsbegründung von Rechtsanwalt B ging am 05. November 2021 beim Landgericht ein, die von Rechtsanwalt A ebenso wie die von Rechtsanwalt C am 08. November 2021. Eine weitere Revisionsbegründung erfolgte am 25. November 2021 durch Rechtsanwalt B. Am 30. Oktober 2021 ging die Revisionsgegenerklärung der Generalstaatsanwaltschaft beim Landgericht ein. Am 14. Dezember 2021 verfügte der Vorsitzende die Übersendung der Akten an die Staatsanwaltschaft. Am 13. Januar 2022 fertigte die Generalsstaatsanwaltschaft den Übersendungsbericht an den Generalbundesanwalt, wo die Akten am 19. Januar 2022 eingingen. Der Antrag des Generalbundesanwalts vom 01. Februar 2022 ging mit den Akten am 02. Februar 2022 beim Bundesgerichtshof ein. Dort bestimmte der Vorsitzende am 28. Februar 2022 den Beisitzer. Mit Schriftsätzen vom 17. Februar 2022 und vom 18. Juli 2022 gaben die Verteidiger gemäß § 349 Abs. 3 Satz 2 StPO Gegenerklärungen zu dem Verwerfungsantrag des Generalbundesanwalts (§ 349 Abs. 2 StPO) ab.

Am 24. Oktober 2023 entschied der Bundesgerichtshof durch Beschluss gemäß § 349 Abs. 4 StPO über die Revision des Angeklagten. Bis dahin ist seit Eingang der letzten Gegenerklärung eine Verfahrensverzögerung von mindestens zehn Monaten zu verzeichnen. Zwar lässt sich aus dem Umstand, dass das besondere Beschleunigungsgebot in Haftsachen für das gesamte Strafverfahren gilt und auch im Rechtsmittelverfahren bei der Prüfung der Anordnung der Fortdauer von Untersuchungshaft zu beachten ist (BVerfG, Beschlüsse vom 22. Februar 2005 – 2 BvR 109/05 und vom 24. August 2010 – 2 BvR 1113/10, jeweils mN), nicht ableiten, dass der im Revisionsverfahren mit der Sache befasste Bundesgerichtshof den mit der Haftfrage befassten Gerichten der Landesjustiz umfassend Rechenschaft zu legen hätte (BGHSt 63, 75, 78 ff.). Vielmehr hat der Bundesgerichtshof das Beschleunigungsgebot in Haftsachen eigenständig zu wahren, was auch umfasst, dass er etwaige Verfahrensverzögerungen im Revisionsverfahren dem Gericht, dem die Haftkontrolle obliegt, anzeigt (BGH a.a.O.). Dies ist vorliegend geschehen, denn der Bundesgerichtshof hat in seiner Entscheidung vom 24. Oktober 2023 darauf hingewiesen, dass der Tatrichter bei seiner Rechtsfolgenentscheidung die lange Dauer des Revisionsverfahrens zu berücksichtigen habe. Der Senat versteht diesen Hinweis dahin, dass der Bundesgerichtshof eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung im Revisionsverfahren bejaht, die im weiteren Verfahrensgang zu berücksichtigen ist. Die Dauer der Verfahrensverzögerung zwischen dem Eingang der letzten Gegenerklärung und der Beschlussfassung bemisst der Senat mit mindestens zehn Monaten. Dies vor dem Hintergrund, dass der Bundesgerichtshof für seine Entscheidung vom 16. September 2020 seit dem Eingang der letzten Gegenerklärung am 21. April 2020 etwa fünf Monate benötigt hat. Der Bundesgerichtshof hatte seinerzeit sowohl den Schuldspruch als auch Teile des Rechtsfolgenausspruchs zu überprüfen. Da der Bundesgerichtshof bei seiner Entscheidung vom 24. Oktober 2023 lediglich den Rechtsfolgenausspruch zu überprüfen hatte und bei der Entscheidung drei Richter mitgewirkt haben, die auch an der ersten Entscheidung beteiligt waren, kann eine Bearbeitungsdauer allenfalls noch in einem Umfang als angemessen angesehen werden, wie sie auch für die erste Entscheidung benötigt worden ist. Dies sind fünf Monate, so dass die zwischen dem 18. Juli 2022 und 24. Oktober 2023 liegenden 15 Monate eine Verfahrensverzögerung von mindestens zehn Monaten umfassen. Hinzu kommt, dass dem Senat nicht nachvollziehbar ist, weshalb der Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 24. Oktober 2023 erst gut zwei Monate später ausgefertigt und erst am 16. Januar 2024 an die Beteiligten übersandt wurde. Der Senat sieht insoweit eine weitere zu berücksichtigende Verfahrensverzögerung von etwa zwei Monaten, so dass insgesamt der Justiz anzulastende nicht zu rechtfertigende Verfahrensverzögerungen von etwa einem Jahr festzustellen sind.

Die zu erwartende Strafe kann unter Berücksichtigung der bereits gegen den Angeklagten vollzogenen, anrechenbaren Untersuchungshaft von sechs Jahren und knapp drei Monaten nicht mehr als erheblich angesehen werden. Ausgehend von der zuletzt gegen ihn verhängten Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren und neun Monaten dürfte unter Berücksichtigung der vom Bundesgerichtshof für erforderlich erachteten Prüfung der Steuerungsfähigkeit des Angeklagten zu den jeweiligen Tatzeiten und einer sich daraus möglicherweise ergebenden Strafrahmenverschiebung gemäß §§ 21, 49 StGB sowie der überlangen Verfahrensdauer im Revisionsverfahren eine Strafe von mehr als sieben Jahren und weniger als acht Jahren Freiheitsstrafe zu erwarten sein, so dass allenfalls noch ein Strafrest von zehn Monaten bis zu einem Jahr und acht Monaten zu vollstrecken sein wird. Ob die Anordnung der Sicherungsverwahrung erneut in Betracht kommt, wird mit Blick auf das Ergebnis des vom Landgericht Wiesbaden in Auftrag gegebenen neuen Sachverständigengutachtens abzuwarten bleiben.

Die Abwägung zwischen dem Grundrecht des Angeklagten auf Wahrung seiner persönlichen Freiheit und dem Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung sowie -vollstreckung rechtfertigt angesichts der erheblichen rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung und der Dauer der bislang vollzogenen Untersuchungshaft von mehr als sechs Jahren die Aufrechterhaltung des Haftbefehls nicht mehr.“

Irgendwie hat man den Eindruck, dass sich der BGH und das OLG Frankfurt am Main in Haftsachen nicht ganz grün sind, denn – ich meine – dass es bereits ähnliche Entscheidungen aus Frankfurt gibt, in denen das OLG den BGH „rüffelt“. Andererseits ist die Entscheidung des OLG aber auch nachvollziehbar. Denn man kann nicht auf die LG „einprügeln“ und Druck machen, dass die Verfahren möglichst beschleunigt erledigt werden, wenn dann eine Strafmaßrevision vom 0202.2022 bsi zum 24.10.2023 beim BGH liegt, bevor entschieden wird und der BGH dann fast drei Monate braucht, um den Beschluss vom 24.10.2023 zu begründen und auszufertigen. Das sind/waren knapp vier Seiten Text.

Gefährdungshaftung – beim Betrieb eines Kfz, oder: Fahrzeugkollision auf dem Sylt Shuttle

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Und dals zweite Entscheidung dann der OLG Schleswig, Beschl. v. 31.07.2024 – 7 U 48/24 – zur Frage der Gefährdungshaftung nach § 7 StVG  bei einer Kollision der abgestellten Fahrzeuge auf dem Autozugtransport nach Sylt, also dem Sylt Shuttle.

Die Klägerin, eine GmbH verlangt Schadensersatz wegen der Beschädigung ihres Pkws während der Fahrt auf einem Autozug nach Sylt (Sylt-Shuttle).

Am 24.08.2022 wurde der Pkw der Klägerin (Mercedes-Benz) in Niebüll auf den Autozug nach Westerland (Sylt) verladen. Im Pkw befanden sich der Geschäftsführer der Klägerin sowie die Zeugin H.. Entsprechend einer Lautsprecherdurchsage der DB als Betreiberin der Zugverbindung war im klägerischen Fahrzeug die Handbremse angezogen und ein Gang eingelegt. Hinter diesem Pkw stand ein Mercedes Sprinter mit französischen Kennzeichen, geführt vom Fahrer T.. Dieser Sprinter wurde von DB-Mitarbeitern vor der Fahrt angegurtet. Während des ersten Abschnitts der Fahrt des Zuges nach Sylt kam es zweimal dazu, dass nach einem Anfahren und Abstoppen des Zuges der Sprinter von hinten gegen das klägerische Fahrzeug stieß, die Gurte waren gerissen. Am Klägerfahrzeug entstand ein Schaden in Höhe ca. 20.000,– EUR.

Die Klägerin hat behauptet, der französische Fahrer habe die Handbremse nicht angezogen und keinen Gang eingelegt gehabt. Die Gurte hätten nur der zusätzlichen Sicherung neben Handbremse und Gang gedient, unter diesen Umständen das Gewicht des Beklagtenfahrzeugs aber nicht halten können. Nach den zwei Anstößen habe der französische Fahrer die Bremse angezogen, deshalb sei es danach zu keinen weiteren Aufschlägen mehr gekommen.

Die Beklagte hat behauptet, dass selbst bei nicht angezogener Handbremse (was bestritten sei) die Gurte nicht hätten reißen dürfen, dies sei nur durch Verschleiß/Materialermüdung zu erklären. Außerdem sei für den Schaden allein die DB verantwortlich. Die straßenverkehrsrechtliche Gefährdungshaftung für das Kraftfahrzeug greife nicht, weil dieses lediglich wie eine Ware auf dem Zug transportiert worden sei.

Das LG hat Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeugin H. Außerdem hat es den Geschäftsführer der Klägerin persönlich angehört und dann der Klage gem. §§ 7,17 StVG in vollem Umfang stattgegeben. Dagegen richtet sich die Berufung der beklagten Versicherung, die keinen Erfolg hatte. Darauf hatte das LG hingewiesen und die Beklagte dann dann ihre Berufung zurückgenommen.

„Der Senat hat mit Verfügung vom 31.7.2024 auf Folgendes hingewiesen und der Beklagten geraten, die Rücknahme ihrer Berufung – aus Kostengründen- in Erwägung zu ziehen:

1. Bei der Neufassung des § 7 Abs. 1 StVG zum 01.08.2002 hat sich der Gesetzgeber bei der Bestimmung des „Betriebsbegriffs“ – abweichend von der engen maschinentechnischen Auffassung des Reichsgerichts- von der verkehrstechnischen Auffassung leiten lassen. Der Zweck des Gesetzes, die Verkehrsteilnehmer vor den wachsenden Gefahren des Kraftfahrzeugverkehrs zu schützen, macht es erforderlich, den Begriff „bei dem Betrieb eines Kraftfahrzeugs“ weit zu fassen. Die Gefahren, die durch das Kraftfahrzeug in den Verkehr getragen werden, gehen nicht nur von dem Motor und seiner Einwirkung auf das Fahrzeug aus, sondern mit der Zunahme des Verkehrs mehr und mehr von der gesamten Abwicklung des Verkehrs und im besonderen Maße von Kraftfahrzeugen, die nach der diese Umstände nicht berücksichtigenden maschinenrechtlichen Auffassung eigentlich nicht „im Betrieb“ sind. Die Haftung aus Betriebsgefahr verwirklicht sich auch dann, wenn einzig die von außen wirkende Kraft des Windes den Schaden im ruhenden Verkehr bewirkt (vgl. BGH v. 11.02.2020 – VI ZR 286/19ZfSch 2020, 614 ff. „Der umgewehte Auflieger“) Denn § 7 Abs. 1 StVG beschränkt die Einstandspflicht nicht auf fahrzeugspezifische Gefahren in dem Sinne, dass der in Rede stehende Schaden allein durch ein Fahrzeug verursacht werden können müsste. Die Beeinflussung von Fahrzeugen (insbesondere mit höheren Aufbauten) durch Wind stellt grundsätzlich auch eine typische Gefahrenquelle des Straßenverkehrs dar, die bei wertender Betrachtung vom Schutzzweck der Gefährdungshaftung miterfasst wird (vgl. Laws/Lohmeyer/Vinke in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 2. Aufl., § 7 StVG, Rn. 29). 2) Das Beweisangebot (Zeugnis des Fahrers T.) dürfte gem. §§ 529, 531 ZPO verspätet sein. Der Zeuge wurde – wie das Landgericht richtig erkannt hat – erstinstanzlich nur für die unstreitige Tatsache benannt, dass die Spanngurte im Verlauf der Fahrt rissen und es zu einem Kontakt zwischen dem Sprinter und dem klägerischen Mercedes kam. Erstmals im zweiten Rechtszug ist der Zeuge jedoch für die Behauptung benannt worden, dass er beim Bahntransport tatsächlich die Handbremse angezogen und einen Gang eingelegt hatte. Dies hat die Klägerin stets bestritten, im Übrigen spricht auch das Ergebnis der bisherigen Beweisaufnahme dagegen.

Die Beklagte hat daraufhin Ihre Berufung mit Schriftsatz vom 8.8.2024 zurückgenommen. Die Entscheidung des Landgerichts zur Haftung der Beklagten aus §§ 7 I STVG, 115 VVG ist damit rechtskräftig geworden.“

 

Grundlage für Schätzung des merkantilen Minderwerts, oder: Abzug des Umsatzsteueranteils

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Heute im Kessel Buntes mal wieder zwei Entscheidungen zum Verkehrszivilrecht.

Zunächst hier ein Hinweis auf das BGH, Urt. v. 16.7.2024 – VI ZR 205/23 zum Schadensersatz nach einem Kfz-Unfall und da zur Grundlage für die Schätzung des merkantilen Minderwerts und zum Abzug des Umsatzsteueranteils.

Die Klägerin nimmt den Beklagten als Haftpflichtversicherer des Unfallgegners auf restlichen Schadensersatz nach einem Verkehrsunfall in Anspruch, bei dem ihr Fahrzeug erheblich beschädigt wurde. Die volle Haftung des Beklagten dem Grunde nach steht außer Streit.

Die Klägerin ist vorsteuerabzugsberechtigt. Eine Sachverständige ermittelte einen merkantilen Minderwert in Höhe von 500 EUR. Der Beklagte erstattete insoweit lediglich einen Betrag in Höhe von 420,17 EUR mit der Begründung, dass ein Abzug in Höhe des Umsatzsteueranteils vorzunehmen sei. Die Klägerin hat eingewandt, die Berechnung durch die Sachverständige sei bereits auf der Grundlage des Nettowertes getroffen worden. Mit der Klage hat sie die Differenz in Höhe von 79,83 EUR nebst Zinsen geltend gemacht.

Das AG hat die Klage abgewiesen und die Berufung zugelassen. Die Berufung der Klägerin hat das LG zurückgewiesen. Mit der vom LG zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Klageziel weiter. Sie hatte in der Revision beim BGH Erfolg.

Wegen der Einzelheiten verweise ich auf den verlinkten Volltext. Die BGH-Entscheidung hat folgende Leitsätze:

    1. Grundlage für die Schätzung des merkantilen Minderwerts ist ein hypothetischer Verkauf des Fahrzeugs. Dabei ist von Netto-, nicht von Bruttoverkaufspreisen auszugehen.
    2. Wurde davon abweichend der merkantile Minderwert ausgehend vom Bruttoverkaufspreis geschätzt, ist er in der Weise nach unten zu korrigieren, dass von ihm ein dem „Umsatzsteueranteil“ entsprechender Betrag abgezogen wird.