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Wenn man auf dem Gehweg stolpert und fällt, oder: Verletzung der Verkehrssicherungspflicht?

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Im samstäglichen „Kessel Buntes“ heute dann zwei zivilrechtliche Entscheidungen.

Ich starte mit dem LG Lübeck, Urt. v. 06.09.2024 – 10 O 240/23 – zur Verkehrssicherungspflicht bei einem Gehweg.

In dem Verfahren begehrt der Kläger von der Beklagten Schadensersatz wegen eines Unfalls auf einem Gehweg. Der Kläger hatte am Nachmittag des 25.09.2021 in Begleitung seiner Ehefrau den Gehweg der Holstenstraße in Lübeck benutzt. Der Kläger behauptet, er sei aus der Innenstadt kommend dort an einer mittig auf dem Gehweg herausstehenden Kante einer Gehwegplatte mit dem linken Fuß hängen geblieben und gestürzt. Die Gehwegplatte, an der er hängen geblieben sei, habe einen Niveauunterschied zwischen 1,00 und 2,5 cm zu den umliegenden Gehwegplatten aufgewiesen. Diese Schwelle habe er nicht wahrnehmen und erwarten können. Der Kläger meint, die beklagte Stadt habe ihre Verkehrssicherungspflicht verletzt. Insbesondere seien an den Bereich um den Unfallort hohe Anforderungen bezüglich der Verkehrssicherungspflicht zu stellen, weil dieser Bereich als Haupteinfallstor zum Innenstadtbereich der Stadt Lübeck stark frequentiert sei. Die Beklagte hebt widersprüchliche Angaben des Klägers hinsichtlich seiner Laufrichtung hervor und meint, aus dem klägerischen Sachvortrag ergebe sich nicht, dass die streitgegenständliche Gehwegplatte für den Sturz des Klägers ursächlich gewesen sei. Das LG hat die Klage abgewiesen:

„Dem Kläger ist es nicht gelungen, eine der Beklagten zurechenbare Verkehrssicherungspflichtverletzung darzulegen.

a) Jeder, der in seinem Verantwortungsbereich eine Gefahrenquelle schafft oder unterhält, muss die zumutbaren Maßnahmen und Vorkehrungen treffen, die zur Abwendung der Dritten drohenden Gefahren geboten sind. Die im Einzelfall erforderlichen Maßnahmen richten sich nach der Art der jeweiligen Gefahrenquelle und den Umständen der Umgebung, in der sich die Gefahrenquelle befindet.

§ 10 Abs. 1 S. 2 StrWG-SH verlangt von dem Träger der Straßenbaulast, Straßen in einem dem regelmäßigen Verkehrsbedürfnis genügenden Zustand zu unterhalten, wobei nach § 10 Abs. 2 S. 2 Hs. 2 StrWG-SH bei der Unterhaltung die Belange von älteren Menschen zu berücksichtigen sind. Daraus folgt, dass sich Straßen grundsätzlich nicht in einem einwandfreien Zustand befinden müssen und von ihnen mit Blick auf etwaige Unebenheiten eine Restgefahr ausgehen kann. Der Umfang der Sorge für die Verkehrssicherheit wird maßgeblich von der Art und der Häufigkeit der Benutzung des Verkehrswegs und seiner Bedeutung bestimmt (BGH vom 21.6.1979, Az. III ZR 58/78). Ein Verkehrssicherungspflichtiger hat in geeigneter und objektiv zumutbarer Weise alle, aber auch nur diejenigen Gefahren ausräumen und erforderlichenfalls vor ihnen zu warnen, die für den Benutzer, der die erforderliche Sorgfalt walten lässt, nicht oder nicht rechtzeitig erkennbar sind und auf die er sich nicht oder nicht rechtzeitig einzurichten vermag (BGH vom 5.7.2012, Az. III ZR 240/11). Grundsätzlich muss der Straßenbenutzer sich den vorgefundenen Straßenverhältnissen anpassen (Reinert/Kümper, in: BeckOK BGB, 71. Ed. 1.8.2024, § 839 Rn. 70 mit Nachw.).

Weitergehende Sorgfaltsanforderungen folgen auch nicht daraus, dass § 10 Abs. 2 StrWG-SH anordnet, dass bei dem Bau und bei der Unterhaltung der Straßen die Belange von älteren Menschen zu berücksichtigen. Bei der Regelung handelt es sich um eine Orientierung für den Träger der Straßenbaulast und nicht um eine konkrete Qualitätsvorgabe mit Blick auf den Beschaffenheit von Gehwegen (so i.E. auch Röttger, SchlHA 2018, 82, 85).

b) Die von dem Kläger beschriebene Situation des Gehwegs stellt an der konkreten Stelle keinen Zustand dar, der dem regelmäßigen Verkehrsbedürfnis nicht genügt.

Dabei ist in Bezug auf die Frage, in welchem Umfang Fußgänger Unebenheiten und Niveauunterschiede auf Straßen, Plätzen und Gehwegen hinnehmen müssen, keine schematische Betrachtung unter Anwendung starrer Grenzen angezeigt, sondern es ist unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Einzelfalles zu prüfen, ob ein verkehrsunsicherer Zustand vorliegt (OLG Saarbrücken vom 26.11.2015, Az. 4 U 110/14; Röttger, SchlHA 2018, 82, 85 f.).

i) Dem klägerischen Vortrag lassen sich zu dem behaupteten Höhenunterschied der Gehwegplatten keine eindeutigen Angaben entnehmen.

Ursprünglich hat der Kläger vorgetragen, er sei aufgrund unebener Gehwegplatten ins Stolpern geraten. Zur näheren Darlegung hat er auf die Fotos in Anlagenkonvolut K 1 verwiesen (Bl. 5 d. A.). Aus diesem Vortrag hat sich kein konkreter Höhenunterschied ergeben. Im weiteren Verfahrensverlauf hat der Kläger vorgetragen, vor Ort seien Höhenunterschiede von 1,0 bis 1,5 cm festgestellt worden (Bl. 67, 105 f. d. A.). Zuletzt hat der Kläger unter Verweis auf die Fotografie in Anlage K 18 ausgeführt, er schätze einen Höhenunterschied von 2,0 bis 2,5 cm (Bl. 182 d. A.). Dieser Vortrag ist zu divergent und ungenau, als dass sich das Gericht auf dieser Grundlage eine Überzeugung von den Begebenheiten vor Ort verschaffen könnte.

ii) Selbst wenn man zugunsten des Klägers von einem Höhenunterschied der Gehwegplatten von bis zu 2,5 cm ausgeht, war mit Blick auf die Gesamtumstände kein pflichtwidriger Zustand des Gehwegs festzustellen.

(1) Die Rechtsprechung beurteilt die Pflichtwidrigkeit von Schäden an Gehwegen und unterschiedlicher Höhenniveaus im Fußgängerbereich mit Blick auf die konkreten Umstände des Einzelfalls.

Für eine Fußgängerzone oder die nicht für den Kfz-Verkehr bestimmte Zuwegung zu einem Marktplatz wurde ein Niveauunterschied unter 2,00 bis 2,5 cm als erheblich angesehen (OLG Oldenburg vom 20.12.1985, Az. 6 U 72/85; OLG Hamm vom 16.10.2020, Az. 11 U 72/19), ebenso wie eine Asphaltkante von 3,00 cm, während mit absackenden Pflastersteinen eher zu rechnen ist (OLG Stuttgart vom 26.11.2020, Az. 2 U 437/19). Auf Gehwegen im Allgemeinen werden Niveauunterschiede von ca. 2 bis 3 cm regelmäßig akzeptiert (OLG Koblenz vom 26.7.2018, Az. 1 U 149/18; OLG Koblenz vom 23.6.2010, Az. 1 U 1526/09; OLG Frankfurt vom 10.2.2003, Az. 1 U 153/01). Entscheidend ist dabei jeweils, inwieweit Gehwegschäden für den Fußgängerverkehr mit Blick auf die örtlichen Begleitumstände erkennbar und ein Überqueren vermeidbar ist (vgl. auch BGH vom 5.7.2012, Az. III ZR 240/11). Eine haftungsbegründende Verkehrssicherungspflichtverletzung kann erst angenommen werden, wenn auch für den aufmerksamen Verkehrsteilnehmer eine Gefahrenlage überraschend eintritt und nicht rechtzeitig erkennbar ist (OLG Saarbrücken vom 26.11.2015, Az. 4 U 110/14).

(2) Ist ein Höhenunterschied von 2,5 cm auf einem Fußgängerweg damit im Ausgangspunkt noch hinnehmbar, oblag es der Klägerseite, weitergehende Anhaltspunkte vorzubringen, aus denen sich ein Überraschungsmoment oder ein anderer Umstand für den Kläger ergab, aufgrund dessen er den Niveauunterschied zwischen den Gehwegplatten bei Beachtung der gebotenen Sorgfalt nicht hätte feststellen können.

Zwar hat die Klägerseite vorgetragen, bei der Holstenstraße handle es sich um das Haupteinfallstor vom Lübecker Bahnhof in die Altstadt. Die Straße sei hoch frequentiert (Bl. 70, 183 d. A.). Dies ist aus der eigenen Erfahrung des Gerichts grundsätzlich zutreffend. Daraus folgen aber nicht ohne Weiteres erhöhte Sorgfaltsanforderungen der Beklagten. Denn die Klägerseite hat daraus keine Ableitung für die Erkennbarkeit der Gehwegschäden gezogen. Sie hat insbesondere nicht vorgetragen, dass die Straße regelmäßig derart frequentiert ist, dass Fußgänger in einem gedrängten Verkehr den vor ihnen liegenden Gehweg nicht erkennen können (dahin OLG Schleswig vom 11.11.1999, Az. 11 U 136/98). Ein regelmäßig derart gedrängter Fußgängerverkehr ist auch dem Gericht nicht bekannt. Die Holstenstraße ist im unteren Bereich auch nicht durch eine Vielzahl ansprechender Schaufenster geprägt, die zu einer Ablenkung von Fußgängern führen würden.

Mit Ausnahme der Lichtverhältnisse (Bl. 5 d. A.) hat der Kläger keine konkreten Umstände vorgetragen, die aus seiner Perspektive dazu hätten führen können, dass der Höhenunterschied zwischen den Gehwegplatten nicht erkennbar gewesen wäre. Der Kläger hat auch nicht substantiiert vorgetragen, dass sich der gesamte Gehweg in einem schadhaften Zustand befunden habe, der ein Ausweichen vor etwaigen Gefahren unmöglich gemacht hätte (BGH vom 5.7.2012, Az. III ZR 240/11; Bl. 183 d. A.). Derartiges ergibt sich auch nicht aus den vorgelegten Lichtbildern (vgl. Anlagenkonvolut K 1, Anlagen K 13a, K 18).

c) Entgegen der klägerischen Ausführungen folgt allein aus dem Umstand, dass die Beklagte die streitgegenständliche Gehwegstelle nach dem behaupteten Unfallereignis instandgesetzt hat, nicht, dass sich die Stelle bis dahin in einem pflichtwidrigen Zustand befunden hat (OLG Koblenz vom 26.7.2018, Az. 1 U 149/18). Die Instandsetzung von Gehwegplatten ist gerade Teil der Wahrnehmung und Erfüllung von Verkehrssicherungspflichten.“

Gegenstandswert für das Adhäsionsverfahren, oder: Spätere Reduzierungen

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In der zweiten Entscheidung des Tages, dem LG Halle, Beschl. v. 05.06.2024 – 3 Qs 40/24 – geht es um den Gegenstandswert für das Adäsionsverfahren.

Dem ehemaligen Angeklagten wurde eine vorsätzliche Körperverletzung vorgeworfen. Mit einem Formularschreiben vom 12.09.2022, machte der Geschädigte im Adhäsionsverfahren Schadensersatz und Schmerzensgeld gegen den Angeklagten geltend. Er verlangte Schadensersatz in Höhe von 500 EUR und Schmerzensgeld i.H.v. 1000 EUR sowie ein weiteres Schmerzensgeld von mindestens 1500 EUR. Der anwaltliche Vertreter des Geschädigten erklärte dann aber mit Schriftsatz vom 04.01.2023, dass klargestellt werde, dass lediglich ein Schmerzensgeld i.H.v. 500 EUR geltend gemacht werde und der zunächst beantragte Schadensersatzanspruch in diesem Verfahren nicht weiterverfolgt werde.

Mit Urteil vom 19.12.2023 verurteilte das Amtsgericht Eisleben den Angeklagten wegen vorsätzlicher Körperverletzung. Ferner wurde er verurteilt, an den Verletzten ein Schmerzensgeld in Höhe v. 1.500 EUR zu zahlen.

Der Verteidiger hat die Festsetzung des Gegenstandswertes im Hinblick auf das Adhäsionsverfahren. beantrag.  Das AG hat den Streitwert für das Adhäsionsverfahren auf 500 EUR festgesetzt.

Das dagegen gerichtete Rechtsmittel des Verteidigers hatte Erfolg:

„Die Beschwerde des Verteidigers ist zulässig. Der Beschwerdegegenstand beträgt hier mehr als 200 EUR (§ 33 Abs. 3 RVG). Die Beschwerde ist auch begründet. Der Streitwertbeschluss vom 13.03.2024 war deshalb aufzuheben.

Der Streitwert im Adhäsionsverfahren bemisst sich danach, in welcher Höhe Ansprüche des Geschädigten und Adhäsionsklägers bei Gericht, also dem Amtsgericht Eisleben, anhängig gemacht worden sind. Nach § 404 Abs. 2 StPO hat die Antragstellung dieselben Wirkungen wie die Erhebung der Klage im bürgerlichen Rechtsstreit. Sie treten mit Eingang des Antrags bei Gericht ein. Dies war hier der 14.09.2022. Zu diesem Zeitpunkt begehrte der Geschädigte und Adhäsionskläger insgesamt vom damaligen Angeklagten und letztendlich Verurteilten pp. 3.000 EUR, Daher bemisst sich die Höhe des Streitwertes nach dieser Summe und nicht nach der später ausgeurteilten Summe.

Der Streitwert für das Adhäsionsverfahren war daher auf 3.000 EUR festzusetzen.“

Die Entscheidung ist zutreffend. Spätere Reduzierungen haben auf die Höhe des Gegenstandswertes keinen Einfluss.

Angemessene Gebühren im Strafrichterverfahren, oder: LG Potsdam bemisst angemessen…

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Am Gebührenfreitag kommt hier heute zunächst der LG Potsdam, Beschl. v. 15.08.2024 – 24 Qs 41/24 – zur Bemessung der Rahmengebühren für ein Strafrichterverfahren.

Der Kollege, der mit den Beschluss geschcickt hat, war Nebenklägervertreter. Das AG – Strafrichter – hat den Angeklagten verurteilt und ihm auch die notwendigen Auslagen des Nebenklägers auferlegt. Der Kolleg hat die gegenüber dem Angeklagten geltend gemacht. Das AG hat die anwaltlichen Gebühren für den Kollegen als Nebenklägervertreter oberhalb der Mittelgebühr festgesetzt. Das dagegen gerichtet Rechtsmittel des Angeklagten hatte keinen Erfolg:

„Das zulässige Rechtsmittel ist unbegründet. Es ist im Ergebnis nicht zu beanstanden, dass das Amtsgericht die anwaltlichen Gebühren für den Nebenklägervertreter oberhalb der Mittelgebühr festgesetzt hat.

Dabei bestimmt sich die Angemessenheit einer Rahmengebühr für eine anwaltliche Tätigkeit gemäß § 14 RVG nach dem Umfang sowie der Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit, der Bedeutung der Angelegenheit sowie den Einkommensverhältnissen des Auftraggebers.

Ausgehend von diesen Zumessungskriterien ist die Kammer zu dem Ergebnis gelangt, dass die anwaltliche Tätigkeit des Nebenklägervertreters wegen der Bedeutung der Angelegenheit von den Durchschnittsfällen, die regelmäßig vor dem Strafrichter des Amtsgerichtes verhandelt werden, abweicht, während im Übrigen der Umfang und die Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit sowie die Einkommensverhältnisse des Auftraggebers als durchschnittlich anzusehen sind, wie dem Beschwerdeführer zuzugeben ist.

a) Der Umfang einer anwaltlichen Tätigkeit im Sinne des § 14 RVG bemisst sich nach den tatsächlichen zeitlichen Aufwand des Rechtsanwaltes bei der Bearbeitung des konkreten Mandates (vergleiche Mayer/Kroiß/Winkler, RVG, 8. Aufl. 2021, § 14 Rn. 16 mit weiteren Nachweisen). Eine besondere Berücksichtigung sollen dabei dem Aktenumfang, der Auswertung von Beiakten sowie der Anzahl und dem Umfang der gefertigten Schriftsätze zukommen (hier Mayer/Kroiß/Winkler, RVG, a.a.O., § 14 Rn.17).

Von diesen Kriterien ausgehend ist der Umfang der anwaltlichen Tätigkeit vorliegend als durchschnittlich zu betrachten. Der Aktenumfang umfasst 192 Seiten. Beiakten existieren nicht. Zwar hat der Nebenklägervertreter das Rechtsmittel der Beschwerde eingelegt, um die Einstellung des Verfahrens durch die Staatsanwaltschaft Potsdam abzuwenden, und hierdurch die Fortführung des Verfahrens und schließlich die Verurteilung des Angeklagten wegen Körperverletzung auch erreicht. Eine ungewöhnlich aufwendige anwaltliche Tätigkeit ist in der Einlegung des Rechtsmittels jedoch nicht zu erkennen, denn es waren keine schwierigen rechtlichen Fragen zu beurteilen. Letzteres wird auch daran deutlich, dass die Beschwerdeschrift lediglich anderthalb Seiten umfasst.

b) Die Schwierigkeit einer anwaltlichen Tätigkeit im Sinne des § 14 RVG bestimmt sich demgegenüber nach der Intensität von dessen Arbeit. Schwierig ist eine Tätigkeit dabei dann, wenn erhebliche, im Normalfall nicht auftretende Probleme auftauchen, seien sie rechtlicher oder tatsächlicher Natur (wie hier Mayer/Kroiß/Winkler, RVG, a.a.O., § 14 Rd. 22).

Derartige Probleme sind hier ebenfalls nicht zu erkennen. Zwar ist der Nebenkläger vietnamesischer Staatsangehöriger, er arbeitet aber seit vielen Jahren in Deutschland und kommuniziert mit seinen Kollegen in der deutschen Sprache. Er muss deshalb über Sprachkenntnisse verfügen, die alltagstauglich sind und eine Kommunikation mit ihm erlauben. Aus diesem Grunde vermag das Vorbringen des Nebenklägervertreters nicht zu überzeugen, wonach sprachliche Schwierigkeiten, die in der Hauptverhandlung die Hinzuziehung eines Dolmetschers veranlasst hätten, die Schwierigkeiten der anwaltlichen Tätigkeit erheblich erhöht hätten. Deshalb ist auch die Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit lediglich als durchschnittlich zu beurteilen.

c) Dagegen ist die Bedeutung der Angelegenheit deutlich erhöht gegenüber den Durchschnittsfällen vor dem Strafrichter des Amtsgerichtes.

Für die Beurteilung der Bedeutung der Angelegenheit im Sinne des § 14 RVG ist es demgegenüber entscheidend, welche tatsächliche, wirtschaftliche oder rechtliche Bedeutung die Sache gerade für den Auftraggeber, hier den Nebenkläger, aufweist (vergleiche BeckOK RVG-v. Seltmann, 64. Edition, § 14 RVG Rn. 37).

Vorliegend war die Bedeutung der Angelegenheit dadurch erhöht, dass die vom Angeklagten begangene Körperverletzung bei ihm zu einem Rippenbruch geführt hatte, die nach Lage der Akten eine erstaunliche lange, 10-monatige Arbeitsunfähigkeit des Nebenklägers zur Folge hatte. Die tatsächlichen wie auch die wirtschaftlichen Folgen der Tat – der Nebenkläger hat aufgrund der Arbeitsunfähigkeit nach der Lebenserfahrung keinen Lohn, sondern Krankengeld erhalten -weichen deshalb erheblich von den durchschnittlichen Fällen, die beim Strafrichter des Amtsgerichtes verhandelt werden, ab.

Dies führt im Ergebnis dazu, dass der Nebenklägervertreter vom Grundsatz her zu Recht eine höhere anwaltliche Vergütung als die Mittelgebühr beansprucht und auch festgesetzt bekommen hat. Dabei gilt hinsichtlich der einzelnen Gebühren jedoch folgendes:

aa) Die Festsetzung der Grund- und Verfahrensgebühr durch das Amtsgericht i.H.v. 30 % über der Mittelgebühr ist vorliegend nicht zu beanstanden.

Denn, wie oben ausgeführt worden ist, ist die Bedeutung der Angelegenheit gegenüber den Durchschnittsfällen hier aufgrund der tatsächlichen und wirtschaftlichen Tatfolgen deutlich erhöht. Da ein Rechtsanwalt nach § 14 RVG bei der Bemessung seiner Gebühren ein Ermessen hat, billigt ihm die Kammer in ständiger Rechtsprechung in Übereinstimmung mit der herrschenden Lehre (vgl. nur BeckOK RVG-v. Seltmann, 64. Edition, § 14 RVG Rn. 13; Hartung/Schon/Enders, RVG, 3. Aufl. 2019, § 14 Rn. 23) insoweit einen Toleranzspielraum von bis zu 20 % zu.

Hiervon ausgehend ist die Geltendmachung von Anwaltsgebühren in Höhe von 30 % über der Mittelgebühr für die Grund- und Verfahrensgebühr vorliegend nicht zu beanstanden.

bb) Soweit sich die Verteidigung des Angeklagten gegen die Festsetzung einer um 50 % erhöhten Terminsgebühr wendet, hat sein Rechtsmittel ebenfalls keinen Erfolg.

Dies ergibt sich aus folgendem:

Bei der Bemessung der Terminsgebühr ist die Dauer der Hauptverhandlung nicht das alleinige Kriterium, jedoch ein wesentlicher Anhaltspunkt. Durch sie soll ausschließlich die Tätigkeit des Rechtsanwalts im Termin abgegolten werden, während die Vorbereitung des Termines in den Anwendungsbereich der Verfahrensgebühr nach Nr. 5109 VV RVG gehört (vergleiche Landgericht Detmold, Beschluss vom 03.02.2009,4 Qs 171/08; Landgericht Potsdam, Beschluss vom 15.08.2013, 24 Qs 77/13BeckRS 2013, 21155).

Nach überwiegender Meinung im Schrifttum soll dabei die Mittelgebühr einer Terminsgebühr für die anwaltliche Tätigkeit beim Strafrichter gerechtfertigt sein, wenn die Hauptverhandlung nicht länger als 1 Stunde betragen hat (wie hier Hartung/Schons/Enders, a.a.O., § 14 Rn. 53 mit weiteren Nachweisen; vgl. die Zusammenstellung von Beispielsfällen bei Enders, RVG für Anfänger, 21. Aufl. 2023 Rn. 99). Die Kammer schließt sich aufgrund eigener Erfahrungen dieser Meinung an, da sie den Realitäten strafgerichtlicher Verfahren weiterhin entspricht.

Hiervon ausgehend liegt die vorliegende Dauer der Hauptverhandlung mit 2 Stunden und 30 Minuten deutlich über dem Durchschnitt. Dies rechtfertigt die dem Nebenklägervertreter durch den angegriffenen Beschluss zugebilligte 50 %-ige Erhöhung der Terminsgebühr.

Insgesamt hat das Rechtsmittel deshalb keinen Erfolg.“

Der Entscheidung, die sich recht wohltuend von den sonst üblichen Instanzentscheidungen zur Bemessung der Rahmengebühren unterscheidet, ist im Wesentlichen zuzustimmen. Dabei darf man allerdings nicht übersehen, dass um die Höhe der Gebühren des Nebenklägervertreters gestritten worden ist, bei dem die Rechtsprechung m.E. – ein wenig – großzügiger ist als beim Verteidiger. Unzutreffend ist es m.E. aber, dass das LG die die Vorbereitung des Termines dem Anwendungsbereich der Verfahrensgebühr zuordnet, wobei nicht ganz deutlich wird, ob damit alle Tätigkeiten gemeint sind, also auch die konkrete Vorbereitung des Hauptverhandlungstermins, oder nur die allgemeine Vorbereitung der Hauptverhandlung, was zutreffend wäre.

Ach, und dann mal wieder <<Werbemodus an>> Zu den Rahmengebühren ist nachzulesen bei Burhoff/Volpert, RVG Straf- und Bußgeldsachen, 6. Aufl. 2021, den man hier bestellen kann. <<Werbemodus aus>>.

Bewährung III: Kein Widerruf der Strafaussetzung, oder: Unwirksamer Verlängerungsbeschluss

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Und dann noch die dritte Entscheidung. Erneut OLG Hamm, und zwar der OLG Hamm, Beschl. v. 27.08.2024 – 3 Ws 295/24 – zum Widerruf von Strafaussetzung zur Bewährung. In dem Verfahren war die Strafaussetzung wiederrufen worden aufgrund einer Straftat, die in der verlängerten Bewährungszeit begangen worden war. Das OLG hat da beanstandet, weil der Verlängerungsbeschluss unwirksam war:

„1. Die sofortige Beschwerde führt zur Aufhebung des angefochtenen Widerrufsbeschlusses der 19. Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Bielefeld vom 19. Juni 2024 und zur Zurückweisung des Widerrufsantrages der Staatsanwaltschaft Wuppertal vom 29. April 2024.

a) Gemäß § 57 Abs. 5 S. 1 StGB i. V. m. § 56f Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StGB widerruft das Gericht die Straf- bzw. Strafrestaussetzung, wenn die verurteilte Person in der Bewährungszeit eine Straftat begeht und dadurch zeigt, dass die Erwartung, die der Strafaussetzung zugrunde lag, sich nicht erfüllt hat.

Diese Voraussetzungen liegen nicht vor.

aa) Die am 11. Oktober 2023 begangene Tat, die Gegenstand der Verurteilung vom 15. Februar 2024 durch das Amtsgerichts Wuppertal war, kann den Widerruf der Strafrestaussetzung zur Bewährung nicht begründen. Die Tat lag tatsächlich außerhalb der Bewährungszeit. Der Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Bielefeld vom 24. Mai 2022, mit dem die Verlängerung der am 21. September 2022 endenden Bewährungszeit bis zum 21. September 2024 angeordnet worden ist, erweist sich als rechtswidrig mit der Folge, dass die Bewährungszeit tatsächlich bereits mit Ablauf des 21. September 2022 endete. Die zeitlich deutlich später begangene Anlasstat vom 11. Oktober 2023 fiel nicht mehr in die Bewährungszeit und konnte demnach von der Strafvollstreckungskammer nicht als Widerrufsgrund herangezogen werden. Der Verlängerungsbeschluss vom 24.05.2022 war zu Unrecht ergangen, was im vorliegenden Widerrufsverfahren incident mit zu prüfen ist.

(1) In der Rechtsprechung unbestritten ist, dass Verstöße gegen Auflagen und Weisungen gemäß § 56b StGB und § 56c StGB im Rahmen des Bewährungsverfahrens nur dann zum Widerruf der Strafaussetzung führen können, wenn sie rechtlicher Nachprüfung standhalten. (MüKoStGB/Groß/Kett-Straub, 4. Aufl. 2020, StGB § 56f, beck-online; Hubrach in: Leipziger Kommentar zum StGB, 13. Auflage, § 56f StGB, Rn. 18; OLG Hamm, Beschluss vom 18. Juli 2017 – III-3 Ws 301/17; KG Berlin, Beschluss vom 30. Oktober 2020 – 5 Ws 198-199/20 -, jeweils juris). Denn nach dem Rechtsstaatsprinzip können derart einschneidende Entscheidungen nur auf rechtlich einwandfreier Grundlage getroffen werden (vgl. OLG Zweibrücken, Beschluss vom 12. Februar 1993 – 1 Ws 73 – 75/93 -, juris). Das Gericht ist deshalb im Widerrufsverfahren gehalten, von Amts wegen prüfen, ob die erteilten Weisungen und Auflagen überhaupt rechtlich zulässig sind, auch wenn der Verurteilte die Weisung nicht angefochten oder beanstandet hatte (OLG Frankfurt, Beschluss vom 23. März 2010 – 3 Ws 241/10 -, juris; OLG Zweibrücken, a.a.O.).

(2) Dieselben Grundsätze gelten, wenn das Gericht für die Widerrufsentscheidung auf Widerrufsgründe in Form von begangenen Auflagen- bzw. Weisungsverstößen oder Straftaten (§ 56f Abs. 1 S. 1 Nr. 1 bis Nr. 3 StGB) zurückgreift, die nur deshalb „formal“ in die Bewährungszeit fallen, weil diese zwischenzeitlich – in unzulässiger Weise – verlängert worden ist. Dies ist anerkannt insbesondere in Fällen, in denen die Bewährungszeit unrechtmäßiger Weise über das gesetzlich in § 56f Abs. 2 S. 2 StGB vorgesehene Höchstmaß hinaus verlängert worden ist (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 14. Juni 2000 – 2 Ws 147-149/2000 -, juris).

(3) Nichts anderes kann aufgrund der vergleichbaren prozessualen Ausgangssituation gelten, wenn zwar nicht die gesetzliche Höchstfrist überschritten worden ist, der formell wirksame Verlängerungsbeschluss hingegen aus anderen Gründen einer rechtlichen Überprüfung nicht standhält. Ein Verlängerungsbeschluss, der auf keiner bzw. einer rechtswidrigen Grundlage beruht, kann keine Basis für einen Widerruf der Strafaussetzung sein. Es wäre nämlich unverhältnismäßig, insbesondere mit dem Freiheitsgrundrecht eines Verurteilten nicht vereinbar, die Strafaussetzung zu widerrufen, obwohl die materiellen Voraussetzungen für einen Bewährungswiderruf nicht gegeben sind. (vgl. OLG Brandenburg, Beschluss vom 06. Oktober 2011 – 1 Ws 151/11, beck-online in einem Fall, in dem die zur Verlängerung führende „Anlasstat“ nicht strafbar war vgl. aus Hurbach in LK-StGB, 13 Auflage, § 56f, Rn. 46). Dafür, dass inzident im Rahmen der Widerrufsentscheidung auch die Zulässigkeit einer vorherigen Verlängerungsentscheidung zu prüfen ist, spricht schließlich aber auch, dass der Verlängerungsbeschluss jederzeit bereits auf die einfache – fristungebundene – Beschwerde des Verurteilten gemäß § 453 Abs. 2 StPO der Aufhebung unterliegt. Einem Widerruf der Strafaussetzung wegen einer innerhalb der unzulässig verlängerten Bewährungszeit begangenen Verfehlung im Sinne der § 56f Abs. 1 S. 1 Nr. 1 bis Nr. 3 StGB ist damit von vornherein die Grundlage entzogen. Zugunsten des Beschwerdeführers dürfte jedenfalls in entsprechender Anwendung des Rechtsgedankens des § 300 StPO und im Sinne eines effektiven Rechtsschutzes davon auszugehen sei, dass er (spätestens) mit seiner sofortigen Beschwerde gegen die Widerrufsentscheidung zugleich auch eine Überprüfung der zugrundeliegenden Verlängerungsentscheidung im Rahmen einer notfalls zugleich eingelegten einfachen Beschwerde begehrt, so dass eine Inzidentprüfung der Zulässigkeit der Verlängerungsentscheidung auch aus diesem Grunde zwingend erscheint.

bb) Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe erweist sich im vorliegenden Fall der Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Bielefeld vom 24. Mai 2022, mit dem die am 21. September 2022 endende Bewährungszeit um weitere 2 Jahre, mithin bis zum 21. September 2024, verlängert worden ist, als rechtswidrig. Denn die Verlängerungsentscheidung beruht ausschließlich auf der durch Urteil des Amtsgerichts Castrop-Rauxel vom 26. August 2021 festgestellten Straftat vom 30. Dezember 2019. Ebenjenen Verlängerungsgrund hatte die Strafvollstreckungskammer allerdings bereits in ihrem zuvor gefassten Verlängerungsbeschluss vom 04. November 2021 herangezogen.

Ein Bewährungsverstoß, der in der Vergangenheit bereits Anlass für eine gerichtliche Maßnahme nach § 56f Abs. 2 StGB war, ist indessen „verbraucht“ und steht daher als alleinige Grundlage für eine spätere Entscheidung nicht mehr zur Verfügung (vgl. OLG Frankfurt, Beschluss vom 2. Juli 1996 – 3 Ws 552/96 -, juris), es sei denn, er ist – was hier aber nicht der Fall ist – erst nachträglich bekannt geworden (vgl. Hubrach in: Leipziger Kommentar zum StGB, 13. Auflage, § 56f StGB Rn. 45 mit Verweis u. a. auf OLG Karlsruhe Beschluss vom 09. März 2020 – 3 Ws 34/20-, juris). Der Beschluss der Strafvollstreckungskammer vom 24. Mai 2022 erweist sich deshalb als rechtswidrig und konnte eine Verlängerung der Bewährungszeit tatsächlich nicht bewirken.

Da die Bewährungszeit vor diesem Hintergrund bereits am 21. September 2022 endete, konnte der mit Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Bielefeld vom 19. Juni 2024 ausgesprochene Widerruf nicht auf die deutlich später, nämlich am 11. Oktober 2023 begangene und damit außerhalb der Bewährungszeit liegende Straftat gestützt werden.

b) Soweit die Strafvollstreckungskammer in ihrem angefochtenen Beschluss zur Begründung des Widerrufs ergänzend auf ein weiteres laufendes Strafverfahren Bezug nimmt, in dem am 11. Dezember 2023 gegen die Beschwerdeführerin Anklage beim Amtsgericht Wuppertal erhoben worden ist, kann hierauf ein Widerruf der Strafaussetzung nicht gestützt werden, weil kein Widerrufsgrund vorliegt. Zum einen ist das Strafverfahren nach Angaben der Bewährungshelferin in ihrem Bericht vom 07. Juni 2024 bereits am 27. Mai 2024 nach § 154 Abs. 2 StPO eingestellt worden. Zum anderen betraf die Anklage einen Diebstahlvorwurf vom 03. August 2023, der mithin ebenfalls außerhalb der Bewährungszeit liegt.

2. Die Strafvollstreckungskammer wird nach Maßgabe der obigen Ausführungen nunmehr zu prüfen haben, ob anderweitige – ggfls. noch nicht aktenkundige – Widerrufsgründe bestehen oder aber die zur Bewährung ausgesetzte Restfreiheitsstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Wuppertal vom 26. August 2015 aufgrund der abgelaufenen Bewährungszeit nunmehr gemäß § 56g Abs. 1 StGB erlassen ist.“

Bewährung II: Anforderungen an „Legalprognose“, oder: Was sind „besondere Umstände“?

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Im zweiten Posting komme ich dann noch einmal auf das OLG Hamm, Urt. v. 19.09.2024 – 5 ORs 37/24 – zurück, über das ich neulich schon berichtet hatte (vgl. Strafe III: TOA nach Böllerwurf im Fußballstadion, oder: Wiedergutmachung bei mehreren Geschädigten?). In der Entscheidung hat das OLG auch zur Frage der Bewährung, und zwar sowohl zur „Legalsprognose“ als auch zum Vorliegen „besonderer Umstände“ i.S. von § 56 Abs. 2 StGB  Stellung genommen, und zwar wie folgt:

„c) Schließlich hat das Landgericht auch die Strafaussetzung zur Bewährung nicht rechtsfehlerfrei begründet. Auch bezüglich der Strafaussetzung zur Bewährung kann das Revisionsgericht nur unter den oben genannten Voraussetzungen zur Strafzumessung eingreifen (OLG Hamm, Urteil vom 21.03.2017 – III-4 RVs 18/17 -, Rn. 15, juris). Vorliegend erweist sich sowohl die Beurteilung der Legalprognose nach § 56 Abs. 1 StGB als auch die Bejahung der besonderen Umstände nach § 56 Abs. 2 StGB als rechtsfehlerhaft.

aa) Nach § 56 Abs. 1 StGB ist eine Freiheitsstrafe zur Bewährung auszusetzen, wenn zu erwarten ist, dass der Angeklagte sich schon die Verurteilung selbst zur Warnung dienen lassen und auch ohne die Einwirkung des Strafvollzugs keine Straftaten mehr begehen wird. Grundlage der Prognose des Tatgerichts müssen sämtliche Umstände sein, die Rückschlüsse auf die künftige Straflosigkeit des Angeklagten ohne Einwirkung des Strafvollzugs zulassen, insbesondere die in § 56 Abs. 1 S. 2 StGB „namentlich“ aufgeführten. Dabei ist für die günstige Prognose keine sichere Erwartung eines straffreien Lebens erforderlich. Es reicht schon die durch Tatsachen begründete Wahrscheinlichkeit aus, dass der Angeklagte künftig auch ohne die Einwirkung des Strafvollzugs keine Straftaten mehr begehen wird (ständige Rechtsprechung; zuletzt: OLG Braunschweig, Urteil vom 22.03.2023 – 1 Ss 40/22 -, Rn. 40, juris).

bb) Besondere Umstände im Sinne im Sinne von § 56 Abs. 2 StGB sind solche, die im Vergleich mit gewöhnlichen, durchschnittlichen, allgemeinen oder einfachen Milderungsgründen von besonderem Gewicht sind und eine Strafaussetzung trotz des erheblichen Unrechtsgehalts und Schuldgehalts der Taten, wie er sich in der Höhe der Strafe widerspiegelt, als nicht unangebracht und den vom Strafrecht geschützten Interessen nicht zuwiderlaufend erscheinen lassen. Dazu können auch solche gehören, die schon für die Prognose nach § 56 Abs. 1 StGB zu berücksichtigen waren. Wenn auch einzelne durchschnittliche Milderungsgründe eine Aussetzung nicht rechtfertigen, verlangt § 56 Abs. 2 StGB keine „ganz außergewöhnlichen“ Umstände. Vielmehr können sich dessen Voraussetzungen auch aus dem Zusammentreffen durchschnittlicher Milderungsgründe ergeben. Die besonderen Umstände müssen jedoch umso gewichtiger sein, je näher die Strafe an der Obergrenze von zwei Jahren liegt. Bei der Prüfung ist eine Gesamtwürdigung von Tat und Persönlichkeit des Angeklagten in einer für das Revisionsgericht nachprüfbaren Weise vorzunehmen (ständige Rechtsprechung; zuletzt: OLG Braunschweig, Urteil vom 22.03.2023 – 1 Ss 40/22 -, Rn. 45, juris).

cc) Ausgehend von diesem Maßstab hält weder die Beurteilung der Legalprognose noch die Bejahung besonderer Umstände rechtlicher Nachprüfung stand.

Es lässt sich bereits nicht nachvollziehen, aus welchen Gründen das Landgericht von einer Stabilisierung der familiären Verhältnisse des Angeklagten ausgegangen ist. Nach den persönlichen Feststellungen ist der Angeklagte stets einer geregelten Tätigkeit nachgegangen und war bereits im Tatzeitpunkt Vater einer Tochter. Dass er gegenwärtig mit seinem Einkommen zum Familienunterhalt beiträgt und zwischenzeitlich Vater eines Sohnes geworden ist, hat seine Lebenssituation nicht grundlegend verändert.

Ferner erschließt sich nicht, aus welchen Gründen das Landgericht meint, dass der Angeklagte nunmehr seine Alkoholproblematik im Griff habe. Diesbezüglich wird lediglich ausgeführt, dass dieser auf Alkohol verzichte und psychotherapeutische Hilfe in Anspruch genommen habe. Weder werden der Umfang und der Behandlungsverlauf der psychotherapeutischen Unterstützung dargelegt, noch wird die Einlassung des Angeklagten, dass er mittlerweile keinen Alkohol mehr trinke, sowie die Belastbarkeit einer etwaigen Alkoholabstinenz kritisch überprüft.

Schließlich wird den verfestigten kriminellen Neigungen des Angeklagten zu geringe Bedeutung beigemessen. So stand der mehrfach vorbestrafte Angeklagte im Tatzeitpunkt nicht nur in zwei Strafverfahren unter laufender Bewährung, so dass ihm gleich doppeltes Bewährungsversagen zur Last fällt. Er hat zudem nach seiner Haftverschonung im Februar 2022 bereits im August 2022 eine weitere Straftat begangen. Hierdurch hat er eindrücklich seine rechtsfeindliche Einstellung dokumentiert. Damit liegen ganz erhebliche Strafschärfungsgründe vor. Diese stehen ersichtlich nicht nur einer positiven Legalprognose im Sinne von § 56 Abs. 1 StGB, sondern auch Milderungsgründen von besonderem Gewicht im Sinne von § 56 Abs. 2 StGB entgegen.“