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Corona I: Hemmung der Unterbrechungsfristen, oder: So geht der BGH mit § 10 EGStPO um

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In die 52. KW/2020 starte ich dann wieder mit Corona-Entscheidungen. Wer hätte Anfang des Jahres gedacht, dass uns die damit zusammenhängenden Fragen auch am Ende des Jahres noch so im Griff haben – und auch weiterhin haben werde.

Als erste Entscheidung habe ich hier den BGH, Beschl. v. 19.11.2020 – 4 StR 431/20. Den habe ich bei Juris geklaut, bis gestern stand er noch nicht auf der Homepage des BGH. An sich ungewöhnlich.

Die Entscheidung verhält sich zu der im Hinblick auf die Corona-Pandemie eingeführten Regelung in § 19 Abs. 1 Satz 1 EGStPO, also Hemmung der Unterbrechungsfrist des § 229 StPO. Der BGH führt dazu aus:

„Ergänzend bemerkt der Senat:

Die Rüge des Verstoßes gegen § 229 Abs. 1 StPO in Verbindung mit § 10 EGStPO ist zulässig, aber unbegründet.

1. Der Rüge liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde: Am Ende des Hauptverhandlungstages vom 13. März 2020 bestimmte der Vorsitzende als Fortsetzungstermin den 31. März 2020. Tatsächlich wurde die Hauptverhandlung jedoch erst am 30. April 2020 fortgesetzt. An diesem Tag verkündete das Landgericht nach Anhörung der Prozessbeteiligten einen Beschluss, in dem festgestellt wurde, dass der Lauf der Unterbrechungsfrist vom 28. März 2020 bis zum 29. April 2020 gehemmt war. Zur Begründung berief sich das Landgericht auf § 10 EGStPO und führte aus, dass der Vorsitzende am 28. März 2020 von der Schöffin erfahren habe, dass sich ihr Ehemann am 14. April 2020 einem unaufschiebbaren operativen Eingriff am Herzen unterziehen müsse. Aus ärztlicher Sicht sei eine Ansteckung mit dem Coronavirus sowohl vor als auch nach der Operation bis zur Mitte der 18. Kalenderwoche unbedingt zu vermeiden, weshalb die Schöffin und ihr Ehemann fast jeglichen Außenkontakt innerhalb des fraglichen Zeitraums gemieden hätten.

Die Revision sieht einen Rechtsfehler zum einen darin, dass die Hemmung der Frist nicht innerhalb der Dreiwochenfrist des § 229 Abs. 1 StPO beschlossen wurde. Zum anderen hätten die Voraussetzungen des § 10 EGStPO nicht vorgelegen, da nicht die Schöffin selbst, sondern ein Angehöriger betroffen sei und zudem durch Schutzmaßnahmen während der Hauptverhandlung jegliche Gefahr der Ansteckung hätte vermieden werden können.

2. Die Verfahrensrüge greift nicht durch.

a) Dass das Gericht den Beginn der Hemmung nicht innerhalb der dreiwöchigen Unterbrechungsfrist des § 229 Abs. 1 StPO festgestellt hat, stellt keinen Rechtsverstoß dar. Die Hemmung des § 10 Abs. 1 Satz 1 EGStPO tritt kraft Gesetzes ein. Der Feststellungsbeschluss hat nur insofern konstitutive Bedeutung, als er den Beginn und das Ende der Hemmung unanfechtbar feststellt (vgl. zu § 229 Abs. 3 StPO: BGH, Urteil vom 12. August 1992 – 5 StR 234/92, NStZ 1992, 550; Beschluss vom 18. Februar 2016 – 1 StR 590/15, NStZ-RR 2016, 178).

b) Es begegnet auch keinen rechtlichen Bedenken, dass das Landgericht einen Hemmungsgrund gemäß § 10 Abs. 1 EGStPO angenommen hat. Nach dieser Vorschrift ist der Lauf der in § 229 Abs. 1 und 2 StPO genannten Unterbrechungsfristen gehemmt, solange die Hauptverhandlung aufgrund von Schutzmaßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von Infektionen mit dem SARS-CoV-2-Virus (COVID-19-Pandemie) nicht durchgeführt werden kann, längstens jedoch für zwei Monate. Nach § 10 Abs. 1 Satz 2 EGStPO stellt das Gericht Beginn und Ende der Hemmung durch unanfechtbaren Beschluss fest.

Aufgrund dieser Unanfechtbarkeit kommt mit Blick auf § 336 Satz 2 Alt. 1 StPO eine Richtigkeitsprüfung über den Willkürmaßstab hinaus nicht in Betracht; sie ist auch verfassungsrechtlich nicht geboten (vgl. zur Parallelvorschrift des § 229 Abs. 3 Satz 2 StPO: BGH, Beschluss vom 20. April 2016 – 5 StR 71/16). Anhaltspunkte dafür, dass die Voraussetzungen des § 10 Abs. 1 Satz 1 EGStPO für eine Hemmung überhaupt nicht vorgelegen haben, sind nicht ersichtlich.

aa) Die weitgehende Kontaktvermeidung des Ehemannes der Schöffin aufgrund einer ärztlichen Empfehlung stellte eine Schutzmaßnahme zur Verhinderung der Verbreitung von Infektionen mit dem SARS-CoV-2-Virus dar. Die Schutzmaßnahme musste nicht gerichtlich oder gesundheitsbehördlich angeordnet oder empfohlen worden sein. § 10 EGStPO enthält insoweit keine Einschränkung. Es genügt, wenn sie nachvollziehbar der Verhinderung der Verbreitung von Infektionen mit dem Coronavirus dienen soll. Dies ist aufgrund der ärztlichen Empfehlung der Fall. Maßnahmen, die eine weitere Durchführung der Hauptverhandlung verhindern, sind auch solche, die dem Schutz von Personen dienen, die zur Risikogruppe gehören, wie beispielsweise ältere Personen, Personen mit Grunderkrankung oder einem unterdrückten Immunsystem (vgl. BT-Drucks. 19/18110, S. 32 f.).

bb) Dass die Schöffin nur mittelbar durch die Schutzmaßnahme betroffen war, ist unerheblich. Ein Hindernis für die Durchführung der Hauptverhandlung liegt auch vor, wenn es nur mittelbar auf Schutzmaßnahmen beruht (vgl. BT-Drucks. 19/18110, S. 33).

cc) Es ist aus Rechtsgründen auch nicht zu beanstanden, dass das Landgericht keine anderen Maßnahmen als die Unterbrechung der Hauptverhandlung zum Schutz des Ehemannes der Schöffin getroffen hat. Die Annahme des Landgerichts, dass die Hauptverhandlung nicht durchgeführt werden konnte, ist jedenfalls nicht willkürlich.“

StPO II: Terminsverlegung (hier wegen Corona), oder: Sitzen die richtigen Schöffen auf der Richterbank?

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Die zweite Entscheidung kommt mit dem OLG Oldenburg, Beschl. v. 14.05.2020 – 1 Ws 190/20 – vom OLG Oldenburg. Der Beschluss ist schon etwas älter. Es hat aber leider gedauert, bis ich den im Volltext vorliegen hatte.

Das OLG hat im Rahmen der Bescheidung eines Besetzungseinwandes (§§ 222a, 222b stPO) zur Frage der „richtigen“ Besetzung einer Strafkammer Stellung genommen. Die Angeklagte hatte geltend gemacht, die Strafkammer, bei der die Hauptverhandlung stattfinden sollte, sei nicht richtig besetzt, und zwar seien die Richterbank mit den falschen Schöffen besetzt. Hintergrund der Rüge ist, dass die Hauptverhandlung wegen der Corona-Krise nicht an dem zunächst geplanten Terminstag beginnen konnte, sondern der Beginn knapp vier Wochen verschoben worden war und die Hauptverhandlung erst an dem Tag begonnen worden ist, der regulär schon der 4. Verhandlungstag gewesen wäre. Die Angeklagte war der Auffassung, es seien die für den zunächst geplanten Terminstag ausgelosten Schöffen zuständig (gewesen) und nicht die für den Terminstag, an dem das Verfahren tatsächlich begonnen wordne ist.

Das haben das LG und das OLG Oldenbrug – m.E. zutreffemd – anderes gesehen:

„Auch durch die Heranziehung der für den 28. April 2020 ausgelosten Schöffen ergibt sich keine vorschriftswidrige Besetzung des Gerichts. Die Frage, ob die für einen ordentlichen Sitzungstag, hier etwa den 1. April 2020, ausgelosten Schöffen zu einer an einem anderen Sitzungstag beginnenden Hauptverhandlung heranzuziehen sind, stellt sich nur, wenn es sich hierbei um einen anderen als einen ordentlichen Sitzungstag handelt (vgl. BGH, Urteil v. 14.07.1995, 5 StR 532/94, BGHSt 41, 175, Rz. 13). Vorliegend hat die Hauptverhandlung in-dessen am 28. April 2020 und damit an einem ordentlichen Sitzungstag begonnen, für den die Schöffinnen BB und CC am 14. November 2019 der 2. großen Strafkammer zugelost worden sind. Damit waren sie und nicht die – was die Rüge allerdings mitzuteilen unterlässt (s.o.) – mit ihnen nicht identischen, für den 1. April 2020 ausgelosten Schöffen für die am 28. April 2020 begonnene Hauptverhandlung heranzuziehen.

Auch der Senat vermag daher die begehrte Feststellung, dass das Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt ist (§ 222b Abs. 3 Satz 4 StPO), nicht zu treffen.“

Corona II: Aufenthalt im Pkw = öffentlicher Raum? oder: Was ist mit der Wirksamkeit der Corona-VO BW?

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In der zweiten Entscheidung des Tages geht es auch noch einmal um die Wirksamkeit einer Corona-Schutz-VO, diesee Mal die aus Baden-Württemberg. Dazu hat das AG Reutlingen im AG Reutlingen, Beschl. 9.12.2020 – 4 OWi 23 Js 16246/20 – Stellung genommen.

Dem Betroffenen wurde vorgeworfen, er habe gegen § 3 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung der Landesregierung über infektionsschützende Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus SARS-Cov-2 (Corona-Verordnung – CoronaVO) verstoßen, indem er sich mit mehr als einer weiteren Person, nämlich drei weiteren Personen, die nicht zu den Angehörigen seines eigenen Hausstandes gehörte, im öffentlichen Raum aufgehalten habe. Ausweislich der Bußgeldanzeige befand sich der Betroffene mit anderen Personen, die alle einen unterschiedlichen Wohnsitz hatten, in einem Privat-PKW.

Das AG hat nach § 47 Abs. 2 OWiG eingestellt und führt dazu aus:

„Der vorgeworfene Sachverhalt stellt wohl keinen Verstoß gegen § 3 Abs. 1 Satz 1 Corona-VO dar. Der gemeinsame Aufenthalt von fünf Personen in einem Privat-Pkw stellt aber keinen Aufenthalt im öffentlichen Raum dar. Öffentlicher Raum im Sinne der Corona-VO sind der öffentliche Verkehrsraum i.S.v. § 2 LBO, öffentliche Verkehrsmittel (Bahn, Bus, Taxi) oder öffentliche Gebäude soweit sie öffentlich zugänglich sind, nicht aber private Wohnräume oder andere vom öffentlichen Raum klar abgegrenzte Bereiche (privater Garten, Terrasse o.a.). Ein Privatfahrzeug wie der in diesem Fall genutzte Pkw ist nicht dem öffentlichen Raum zuzuordnen, denn es ist im Gegensatz zu einem öffentlichen Verkehrsmittel nicht öffentlich zugänglich. Über den Zugang zu einem Privat-Pkw bestimmen nach dessen Nutzungszweck wie auch nach der Verkehrsanschauung ausschließlich der Pkw-Halter und / oder der Pkw-Führer (vgl.: AG Stuttgart, Beschl. Vom 08.09.2020, 4 OWi 177 Js 68534/20). Außerhalb des öffentlichen Raumes war am 15.05.2020 indes ein Zusammenkommen von bis zu fünf Personen unabhängig von verwandtschaftlichen Beziehungen oder einer häuslichen Gemeinschaft nach § 3 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Abs. 2 CoronaVO BW in der geltenden Fassung 09.05.2020 wohl erlaubt.“

Darüber hinaus nimmt es dann zur Wirksamkeit der CoronaVO Baden-Württemberg Stellung, und zwar wie folgt:

„2. Es bestehen hier spätestens mit der Neufassung des IfSG und Schaffung des § 28a IfSG erhebliche Bedenken an der Verfassungsgemäßheit der von der Bußgeldstelle zur Anwendung gebrachten CoronaVO BW.

Gerade nicht Gegenstand der prozessualen Tat sind nur die Allgemeine Handlungsfreiheit betreffende Gebote oder dementsprechend mitgeteilte Verstöße. Betroffen sind darüber hinaus zumindest wohl die Versammlungsfreiheit und sicher, nach dem Vorbringen des Betroffenen und der Aktenlage, die Berufsausübungsfreiheit und die Freizügigkeit.

Eine hinreichende Ermächtigungsgrundlage für das Verbot, auf welchem der Bußgeldbescheid gründet, war nicht vorhanden, wobei dies – aus verfassungsrechtlichen Gründen – alleine wegen der epidemiologisch unbestreitbaren(!) Sinnhaftigkeit der Maßnahmen nicht als „geheilt“ oder „überwindbar“ gelten kann. Erst recht gilt dies für das nachlaufende Bußgeldverfahren, mit einem durch die Sanktionierung, über die bloße Freiheitsbeschränkung durch eine konkretisierende behördliche Anordnung hinaus, gesteigerten Eingriffsgehalt, unbesehen der formellen Rechtmäßigkeit der Corona-Verordnung und Vollziehbarkeit der Gebote zum Vorfallszeitpunkt. Auf die Entscheidung des AG Dortmund, Urt. v. 02.11.2020 — 733 OWi — 127 Js 75/20 — 64/20, nicht rechtskräftig, darf hingewiesen werden.

Die zum Vorfallszeitpunkt geltende Corona-VO verkannte die Bedeutung des Parlamentsvorbehalts und des Bestimmtheitsgebots. Der Parlamentsvorbehalt verpflichtet den Bundesgesetzgeber nicht nur, wesentliche, für die Grundrechtsverwirklichung maßgebliche Regelungen selbst zu treffen und nicht anderen Normgebern oder der Exekutive zu überlassen. Der Bestimmtheits-grundsatz verlangt, dass eine Norm so formuliert ist, dass das Verhalten der Behörden nach Inhalt, Zweck und Ausmaß begrenzt wird und die Gerichte an diesem Maßstab das behördliche Vorgehen kontrollieren können. Diese Anforderungen sind umso strenger, je intensiver die Grundrechtseingriffe sind, die die Vorschrift ermöglichen soll. Auch diese Gründe haben zur Änderung, Umformulierung und Anpassung des IfSG und einer Entscheidung des parlamentarischen Gesetzgebers zum 18.11.2020 geführt. Die im Gesetzgebungsverfahren und den Ausschüssen bekannt gewordenen Zweifel an der bis dahin geübten Rechtspraxis der Exekutive und mitgeteilten Diskussionsstandpunkt der Parlamentarierlnnen bestätigen die Bedenken des Gerichts, welches wegen des bloßen Verordnungscharakters des Tatbestandes und des Bußgeldtatbestandes zur eigenständigen, auch verfassungsrechtlichen, Kontrolle berufen ist.

Voraussetzung für ein Tätigwerden der zuständigen Behörde nach den geltenden §§ 28 ff. IfSG ist — wie im Gefahrenabwehrrecht im engeren Sinne üblich — eine konkrete Gefahr, die dann in einem konkreten Einzelfall punktuell bekämpft wird. Notwendigerweise muss ein individueller Bezug zwischen Gefahrenlage und Adressatin der Maßnahme bestehen. Dieser konkret-individuelle Bezug geht verloren, wenn eine Epidemie flächendeckend bekämpft wird und beispielsweise Gemeinschaftseinrichtungen geschlossen werden, ohne dass vor Ort ein Krankheitsausbruch aufgetreten ist, oder wenn für Reiserückkehrer aus sogenannten Risikogebieten pauschal eine Quarantänepflicht geregelt wird. In diesen Fällen werden die vorhandenen Vorschriften überdehnt, weil keine konkrete Gefahr vorliegt, die entweder einer individuellen Person zugerechnet werden kann oder die durch die Inanspruchnahme eines Nichtstörers abgewehrt werden soll (etwa indem einem Gesunden verboten wird, einen Kranken aufzusuchen, vgl. BT-Drs. 8/2468, S. 27). Die Maßnahmen reagieren vielmehr auf ein diffuses Infektionsgeschehen, das nicht mehr auf einzelne gefährliche Verhaltensweisen zurückgeführt werden kann. Wenn in der Folge die Allgemeinheit flächendeckend adressiert wird, wie dies während der Corona-Pandemie geschieht, handelt es sich nicht mehr um Gefahrenabwehr im engeren Sinne, sondern um Risikovorsorge.

Das Gesetz über den „Erlass infektionsschützender Maßnahmen des Landes Baden-Württemberg“ datiert erst vom 23. Juli 2020 und enthält, worauf es freilich nicht ankommt, keine inhaltliche oder eingriffskonkretisierende Regelung, gar im Sinne des § 80 V GG. Lediglich dem Zitiergebot wird dort wohl Genüge getan und ein eher einfaches „Kenntnisgabeverfahren“ zur Parlamentarischen Kontrolle vorgesehen.

Die teilweise verwaltungsgerichtlich in Eilverfahren geäußerte Rechtsauffassung (so wohl OVG NRW, 13 B 1635/20), wonach im Rahmen „unvorhergesehener Entwicklungen“ es aus „übergeordneten Gründen des Gemeinwohls“ geboten sein könne, nicht hinnehmbare „gravierende Regelungslücken“ für einen Übergangszeitraum insbesondere auf Grundlage von Generalklauseln zu schließen ist aus tatsächlichen Gründen und verfassungsrechtlich nicht haltbar.

Zum einem belegen verschiedene, aber offenbar nicht oder nur teilweise in die Tat umgesetzte Pandemiepläne im vergangenen Jahrzehnt, dass es sich bei eine COVID19-Pandemie keineswegs um eine unvorhergesehene Entwicklung handelte. Eine Unterlassung des Gesetzgebers trägt freilich niemals einen Grundrechtseingriff, zumal wenn, wie vorliegend, die hinreichen bestimmte Formulierung der gesetzlichen Generalklausel und im Anschluss Verordnung verabsäumt oder vernachlässigt wurde, weswegen die Normadressatlnnen oder Betr. in Zweifel geraten konnten, welche Konkretisierung die gesetzliche Generalklausel (in der hier zu entscheidenden Vorfallsituation) erfahren sollte.

Der Rechtsgüterschutz und die Handlungsfähigkeit staatliche Organe sind und waren im Übrigen stets durch die formelle Rechtmäßigkeit und die vorläufige Vollziehbarkeit des Exekutivrechts gewährleistet. Mängel der Gesetzliche Grundlage dürfen gleichwohl nicht im weiteren Verlauf, gar unbesehen, in Bußgeldverfahren später perpetuiert werden.

Rechtslogisch kranken die Ausführungen daran, dass es dem Gesetzgeber unbenommen war, wie andere Bereiche und die Neufassung im November 2020 zeigen, die Generalklausel genauer zu fassen oder wenigstens die gebotenen Abwägungen vorzunehmen. Entsprechend Hinweise in den Gesetzesmaterialien zum IfSG sind rar, zumal der Gesetzgeber die Generalklausel aus dem Bundesseuchengesetz um einige Regelbeispiele („Badeanstalten“ oder „Gemeinschaftseinrichtungen“, vgl. § 28 BSeuchG) bereinigt hat.

Zum anderen kennt der Parlamentsvorbehalt – zumindest im „nichteiligen“, repressiven Bereich keine zeitliche Komponente oder eine dynamische Ausgestaltung. So im Wechselwirken der Gewalten eine zeitliches Moment erkennbar ist, geht dieses einher mit dem Verwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts für Gesetze. Die betreffende Verordnung weder in der Sache noch verfassungsrechtlich hieran teil. Mit der Möglichkeit zur Verordnungsgebung durch die Exekutive geht – wohl aus guten verfassungsrechtlichen Gründen – eine allgemeine Verwerfungskompentenz der Gerichte einher, die wiederum die Möglichkeit der Gewährung legislativer Übergangsfristen nicht kennt und kennen kann.

Der Parlamentsvorbehalt wird geboten und unmittelbar ausgelöst von der tatsächlichen und rechtlichen Folge des staatlichen (Grundrechts-)Eingriffs, mithin der Eingriffsintensität und dem betroffenen Grundrecht und dessen Schranken. Er hängt hingegen nicht von der abstrakten Eingriffsdauer oder vom (letztlich aus Sicht der Gewaltenteilung nur willkürlich zu bestimmenden) „Kenntnis- und Wissensstand“ des Gesetzgebers oder einem wohlmeinenden und vorliegend zweifelsfrei verfassungsrechtlich zulässigen und sogar gebotenen Eingriffsziel, wie sie die exekutiven Schutzmaßnahmen seit Beginn der der COVID-19 Pandemie ausdrücken, ab. Gerade diese Zielsetzung ist nur sehr eingeschränkt und ganz mittelbar über den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit einer gerichtlichen Kontrolle zugänglich, welche die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers zu respektieren hat. Ausdrücklich klargestellt sei: Die Zweckmäßigkeit, die Verhältnismäßigkeit und die Zielsetzung der Maßnahmen der Landesregierung, soweit sie im Verfahren hier eine Rolle spielen, werden schon deswegen nicht beanstandet.

Der strenge Parlamentsvorbehalt muss allerdings spätestens im Bußgeldverfahren umso mehr gelten, als bereits im März 2020 rasch gesetzliche Änderungen und Regelungen beispielsweise im Bereich der Strafprozessordnung oder des Zivilrechts stattfanden und möglich waren, ohne dass die vom Verwaltungsgericht angenommenen Erschwernisse ein Tätigwerden des Gesetzgebers gehindert hätten, wobei teilweise sehr gravierende Freiheitsbeschränkungen von Bundesgesetzgeber beschlossen wurden oder Justizgrundrechte betroffen waren.

Da die Eingriffsermächtigung mit der Corona-VO selbst zu unbestimmt und wohl verfassungswidrig war, kann ein bußgeldbewehrter Verstoß ebenfalls nicht mit den zu „verwaltungsakzessorischen“ Straf- und Bußgeldtatbeständen von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen begründet werden. Hier (und im Regelfalle) fehlt es bereits an einer konkret-individuellen Verwaltungsentscheidung mit Tatbestandswirkung und, was entscheidend ist, der materiellen Rechtmäßigkeit der Grundnorm.

Abschließend hinzuweisen ist die Überlastung des Amtsgerichts Reutlingen und der auf absehbare Zeit stark beschränkten Möglichkeiten überhaupt seuchenhygienisch verantwortbar Hauptverhandlungen durchführen zu können, zumal mit einer größeren Zahl von Zeuglnnen, die teilweise getrennt verfolgt werden, mit einer Anreise von mehr als 100 km, deren Erinnerungsvermögen mit der Zeit schwinden dürfte.“

Und da sag noch mal einer, der Rechtsstaat sei in Gefahr……

Corona I: Ist § 28a IfSG verfassungswidrig?, oder: Was ist mit Kontaktbeschränkungen/Gastronomieschließung?

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In die 51. KW starte ich dann – mal wieder oder: leider immer noch – mit Corona. Ich stelle heute zwei Entscheidungen vor, die sich mit der Rechtmäßigkeit der Infektionsschutzmaßnahmen zugrunde liegenden gesetzlichen Regelungen befassen.

An der Spitze der VGH Bayern, Beschl. v. 08.12.2020 – 20 NE 20.2461, der sich mit der  Verfassungsmäßigkeit von § 28a IfSG befasst. Das ist die neue Vorschrift, die den in Bayern angeordneten Kontaktbeschränkungen im öffentlichen Raum und den Gastronomieschließungen zugrunde gelegt worden war. Im Verfahren war die Verfassungswidrigkeit gerügt werden. Das sieht der BayVGH im Eilverfahren anders:

Ich zitiere – den Beschluss ggf. bitte im Volltext lesen – aus der PM zu dieser Entscheidung:

Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (BayVGH) hat es in einem Nor-menkontrolleilverfahren abgelehnt, die Regelungen der Neunten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung (9.BayIfSMV) zu Kontakt-beschränkungen im öffentlichen Raum und zu Gastronomieschließungen vorläufig außer Vollzug zu setzen. Dabei hat sich der für das Infektionsschutzrecht zuständige 20. Senat erstmals zur Verfassungsmäßigkeit des durch das Dritte Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 18. November 2020 neu ge-schaffenen § 28a Infektionsschutzgesetz (IfSG) geäußert.

Der Senat hat festgestellt, dass keine schwerwiegenden Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des § 28a IfSG bestehen. Zwar seien die dort geregelten Befugnisse der Infektionsschutzbehörden zum Teil sehr weitgehend und in die Grundrechte der Betroffenen tief eingreifend. Auf der an-deren Seite seien sie allein auf die Corona-Pandemie zugeschnitten. Dass der Deutsche Bundestagmit der für entsprechende Eingriffe notwendigenFeststellung einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite seinenGestaltungsspielraum überschreite, sei nicht ersichtlich. DerGesetzgeber habe den Behörden und Fachgerichten auch genügend Spielraum belassen, um eine verhältnismäßige Anwendung der Befugnisnor-men im Einzelfall sicherzustellen. Die bisher geäußerten Zweifel des Senats im Hinblick auf den Parlamentsvorbehalt habe der Gesetzgeber mit der Neuregelung weitgehend ausgeräumt.

Ausgehend hiervon und angesichts der aktuell deutlich zugespitzten Infektionslage hielt das Gericht –wie bereits in früheren Entscheidungen – die angegriffenen Regelungen der 9. BayIfSMV für erforderlich und angemessen.“

Das war es dann wohl erst mal an der Stelle

StPO II: Urteilsabsetzung in Zeiten von Corona, oder: Corona hemmt die Urteilsabsetzungsfrist nicht

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Die zweite Entscheidung des Tages, der OLG Karlsruhe, Beschl. v. 05.11.2020 – 3 Rv 32 Ss 485/20 -, den mir der Kollege Urbanczyk aus Mannheim geschickt hat, hat ein wenig mit Corona zu tun. Und zwar Corona im Zusammenspiel mit der Urteilsabsetzungfrist des § 275 Abs. 1 StPO.

Das AG hatte den Angeklagten am 27.1.2017 (!) wegen Leistungserschleichung verurteilt. Das LG hat durch Urteil vom 17.2.2020 (!), das (erst) am 5.5.2020 (!) zu den Akten gebracht wurde, die Berufung des Angeklagten mit einer Maßgabe verworfen. Zudem hat das LG angeordnet, dass wegen rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung fünf Tagessätze der Gesamtgeldstrafe als vollstreckt gelten.

Dagegen die Revision, die beim OLG Erfolg hat. Das OLG hebt kurz und zackig auf:

„Das Rechtsmittel hat mit der Rüge einer Verletzung von § 275 Abs. 1 StPO – vorläufigen – Erfolg. Da das angefochtene Urteil bereits deshalb in vollem Umfang aufzuheben ist, bedarf es keines Eingehens auf die Sachrüge.

Die gemäß § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO in zulässiger Weise angebrachte Verfahrensbeschwerde (vgl. OLG Stuttgart, Justiz 2017, 394; KG Berlin, StraFo 2016, 386) ist begründet, denn die Überschreitung der Frist zur Absetzung des schriftlichen Urteils war hier nicht nach § 275 Abs. 1 Satz 4 StPO gerechtfertigt.

1. Das am 17.2.2020 nach eintägiger Hauptverhandlung verkündete Urteil hätte gemäß § 275 Abs. 1 Satz 2 StPO spätestens am 23.3.2020 zu den Akten gelangen müssen. Tatsächlich ging es erst am 5.5.2020 vollständig abgefasst auf der Geschäftsstelle ein.

a) Die Vorsitzende der Berufungskammer hat in einem Vermerk vom 6.4.2020 dienstlich erklärt, dass sie in der Zeit vom 20.2. bis 20.3.2020 aufgrund krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit und nachfolgend im Anschluss bis zum 5.4.2020 aufgrund einer Freistellung vom Dienst als Angehörige einer Corona-Risikogruppe daran gehindert war, das am 17.2.2020 verkündete Urteil rechtzeitig schriftlich abzusetzen.

b) Nach § 275 Abs. 1 Satz 4 StPO darf die nach § 275 Abs. 1 Satz 2 StPO zu bestimmende Frist nur überschritten werden, wenn und solange das Gericht durch einen im Einzelfall nicht vorhersehbaren unabwendbaren Umstand an ihrer Einhaltung gehindert war.

In diesem Sinne war die Vorsitzende als einzige Berufsrichterin der Strafkammer infolge ihrer Erkrankung zunächst – in der Zeit bis zum 20.3.2020 – an der Urteilsabsetzung gehindert (vgl. OLG Stuttgart, a.a.O., KG Berlin, a.a.O.), ohne dass damit eine Hemmung des Fristablaufs verbunden gewesen wäre (vgl. OLG Düsseldorf, NStZ-RR 2008, 117; OLG Hamburg, B. v. 4.4.2019 – 2 Rev 7/191 Ss 18/19 -, juris).

Ob sodann — wie die Revision mit gewichtigen Gründen ausführt – § 275 Abs. 1 StPO schon während des sich anschließenden Zeitraums der „Freistellung vom Dienst“ der Vorsitzenden als Angehörige einer Corona-Risikogruppe verletzt wurde, kann dahinstehen. Coronaschutzmaßnahmen hemmen nach dem eindeutigen Wortlaut des § 10 EGStPO die Urteilsabsetzungsfrist ebenfalls nicht (vgl. Hiéramente, jurisPR-StR 7/2020 Anm. 2; Peglau, in: BeckOK-StPO, Stand 1.7.2020, Rdn. 15 zu § 268).

Jedenfalls hätte das schriftliche Urteil nach dem am 6.4.2020 erfolgten Dienstantritt der Vorsitzenden deutlich vor dem 5.5.2020 zu den Akten gebracht werden müssen. Die Pflicht des Gerichts, nach Wegfall des Hinderungsgrundes das Urteil mit „größtmöglicher Beschleunigung“ zu den Akten zu bringen, geht allen aufschiebbaren Dienstgeschäften vor (vgl. BGH, NStZ 1982, 519; StV 1995, 514; NStZ-RR 2011, 118; OLG Stuttgart, a.a.O.; KG Berlin, a.a.O.). Dies geschah hier nicht; anders ist nicht zu erklären, warum sich die Abfassung des zehnseitigen Urteils bis zum 5.5.2020 hinzog.

2. Das Überschreiten der in § 275 Abs. 1 Satz 2 und 4 StPO bezeichneten Fristen begründet nach § 338 Nr. 7 StPO einen absoluten Revisionsgrund. Dass das Urteil auf diesem Rechtsfehler nicht beruhen kann, ist demgegenüber ohne Bedeutung (vgl. BGH, NStZ-RR 2011, 118).“

M.E. kann man das Kopfschütteln des OLG-Senats über die zögerliche Urteilsabsetzung recht deutlich aus dem Beschluss entnehmen. 🙂 Man fragt sich wirklich, warum es nach dem 05.04.2020 einen Monat gedauert hat, bis das 10-Seiten lange Urteil bei der Akte war.

Und: Im zweiten Durchgnag dürften dann wegen der weiteren Verzögerung noch ein paar „Tagessätzeersparnis“ für den Angeklagten dazu kommen.