Archiv der Kategorie: Auslieferungsrecht

Haft II: Menschenunwürdige Haft in Albanien, oder: Wird deshalb die nationale Haft unverhältnismäßig?

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Die zweite Entscheidung des Tages kommt dann vom OLG Nürnberg. Das hat im OLG Nürnberg, Beschl. v. 16.11.2021 – Ws 1069-1070/21 – zur Verhältnismäßigkeit von U-Haft bzw. eines nationalen Haftbefehls Stellung genommen, wenn sich der Beschuldigte im Ausland in Auslieferungshaft befindet.

Gegen den Beschuldigten besteht ein Haftbefehl des AG, der Grundlage eines am 06.05.2021 erlassenen Europäischen Haftbefehls ist. Der Beschuldigte wurde am 04.06.2021 in Albanien festgenommen und befindet sich dort aufgrund des gestellten Auslieferungsersuchens in Auslieferungshaft, nach Angaben seines Verteidigers in der Haftanstalt K.

Gegen den Haftbefehl des AG hat der Beschuldigte Beschwerde eingelegt, die das LG zurückgewiesen hat. Dagegen die weitere Beschwerde des Beschuldigten, diedas OLG zurückgewiesen hat.

Vorab: Es handelt sich um einen „Encrochat“-Fall. Die Ausführungen des OLg zum Beweisverwertungsverbot schenke ich mir hier.Das OLG führt dazu auch nicht selbständig aus, sondern verweist nur auf die Rechtsprechung der anderen OLG, die alle die gewonnenen Erkenntnisse für verwertbar halten.

Zur Verhältnismäßigkeit der Haft stellt das OLG dann fest:

„Die vom Beschuldigten im Schreiben seines Verteidigers vom 11.10.2021 vorgebrachten Haftbedingungen in der albanischen Haftanstalt K. führen nicht zur Unverhältnismäßigkeit der angeordneten Untersuchungshaft.

(1.)   Derzeit wird die Untersuchungshaft nicht vollzogen. Grundlage des derzeitigen Freiheitsentzugs ist die Anordnung der Auslieferungshaft in Albanien Einwendungen gegen den Vollzug der Auslieferungshaft sind im ersuchten Staat geltend zu machen.

Das Bundesverfassungsgericht (Beschluss vom 25. März 1981 – 2 BvR 1258/79 –, BVerfGE 57, 9-28) führt dazu aus, dass das Auslieferungsersuchen weder unmittelbar noch mittelbar einen der Bundesrepublik Deutschland zurechenbaren Eingriff in die Freiheit des Beschwerdeführers darstellt. Es ist eine innerstaatliche Angelegenheit des ersuchten Staates, ob und unter welchen Voraussetzungen er die betroffene Person zum Zwecke der Auslieferung in Haft nimmt. Auch die Art. 16 Abs. 1 und Art. 22 des Europäischen Auslieferungsübereinkommens enthalten keine Beschränkungen des Rechts des ersuchten Staates, die Voraussetzungen einer Auslieferungshaft und den Umfang der Prüfung dieser Voraussetzungen durch seine Behörden zu regeln. Nach diesen Vorschriften entscheiden die zuständigen Behörden des ersuchten Staates über ein Ersuchen um vorläufige Verhaftung nach dessen Recht. Soweit in diesem Übereinkommen nichts anderes vereinbart ist, findet auf das Verfahren der Auslieferung ausschließlich das Recht des ersuchten Staates Anwendung.

(2.)   Aus der Andeutung des Bundesverfassungsgerichts (a.a.O.), dass diese Frage anders zu beurteilen sein könnte, wenn infolge des deutschen Auslieferungsersuchens eine Behandlung der betroffenen Person durch den ersuchten Staat zu gewärtigen wäre, die den völkerrechtlich verbindlichen menschenrechtlichen Mindeststandard unterschreitet, ergibt sich nichts anderes. Die im dortigen Verfahren erhobene Verfassungsbeschwerde richtete sich gegen einen Beschluss des Oberlandesgerichts Frankfurt, mit dem ein Antrag des Beschwerdeführers auf gerichtliche Entscheidung gemäß §§ 23ff GVG gegen das gestellte Auslieferungsersuchen als unzulässig verworfen worden war. Die Frage, ob Haftbedingungen im ersuchten Staat zu prüfen sind, wurde vom Bundesverfassungsgericht bei der Prüfung aufgeworfen, ob der Beschwerdeführer durch das Auslieferungsersuchen unmittelbar in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2, 104 Abs. 1 Satz 1 GG verletzt worden sein kann. Die Verhältnismäßigkeit des dem Ersuchen zu Grunde liegenden Haftbefehls war nicht Gegenstand der Entscheidung.

Die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts betreffen somit nur das Auslieferungsersuchen, nicht aber den dem Ersuchen zu Grunde liegenden nationalen Haftbefehl. Damit kann der Einwand menschenunwürdiger Haftbedingungen in der Einlieferungshaft nicht im Beschwerdeverfahren gegen den Haftbefehl geprüft werden.

Müsste ein Haftbefehl aufgrund menschenunwürdiger Haftbedingungen im ersuchten Staat aufgehoben werden, entfiele damit auch die Fahndung im Inland und in den Ländern, für die keine Zweifel an der Einhaltung der Mindeststandards bei Inhaftierungen bestehen. Der Beschuldigte hätte es damit in der Hand, sich durch eine Flucht in einen entsprechenden Staat dem Strafverfahren dauerhaft zu entziehen und sich weiter frei bewegen zu können.“

Corona II: Zulässigkeit eines Nasen-/Rachenabstrichs, oder: Covid-19-Test vor der Auslieferung

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Und als zweite Entscheidung dann der OLG Brandenburg, Beschl. v. 03.11.2021 – 1 AR 29/21 (S). Ergangen ist die Entscheidung in einem Auslieferungsverfahren. Die Generalstaatsanwaltschaft hatte gemäß §§ 81a StPO i.V.m. 77 IRG beim Verfolgten die Entnahme eines Nasen- und Rachenabstrichs sowie die Vornahme eines COVID-19-Tests anzuordnen, damit dieser nach Rumänien ausgeliefert werden kann. Das OLG hat angeordnet:

„1. Mit dem Europäischen Haftbefehl des Amtsgerichts Constanta vom 14. Juli 2021 (Az. 4531/212/2020) ersuchen die rumänischen Behörden um Auslieferung des Verfolgten zum Zwecke der Vollstreckung der durch rechtskräftiges Urteil des Amtsgerichts Constanta vom 24. Februar 2021 (Nr. 206/24.02.2021) wegen Diebstahls (Art. 228 Abs. 1 des rumänischen StGB) erkannten Freiheitsstrafe von sechs Monaten.

Der Verfolgte befindet sich aufgrund des Auslieferungshaftbefehls des Senats vom 18. August 2021 in der Justizvollzugsanstalt Brandenburg an der Havel. Der Senat hat durch Beschluss vom 11. Oktober 2021 die Auslieferung des Verfolgten nach Rumänien zum Zwecke der Vollstreckung der durch Urteil des Amtsgerichts Constanta vom 24. Februar 2021 (Nr. 206/24.02.2021) erkannten Freiheitsstrafe von sechs Monaten sowie der durch Urteil des Amtsgerichts Constanta vom 28. November 2012 (Nr. 1532/28.11.2012) erkannten Freiheitsstrafe von zwei Jahren und vier Monaten für zulässig erklärt und die Entschließung der Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg, die Auslieferung des Verfolgten nach Rumänien zum Zwecke der Vollstreckung wegen der in dem Europäischen Haftbefehl des Amtsgerichts Constanta vom 14. Juli 2021 (Az. 4531/212/2020) bezeichneten strafbaren Handlungen zu bewilligen, nach vollinhaltlicher Überprüfung gerichtlich bestätigt.

Die Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg beantragt mit Verfügung vom 03. November 2021, beim Verfolgten die Entnahme eines Nasen-und Rachenabstrich sowie die Vornahme eines COVID-19-Tests anzuordnen.

II.

Der Senat entscheidet antragsgemäß.

Der Verfolgte soll am 05. November 2021 am Flughafen Berlin-Brandenburg den rumänischen Behörden übergeben werden. Hierzu wurde er aufgefordert, den zur Auslieferung erforderlichen COVID-19-Test durchführen zu lassen. Dies hat der Verfolgte verweigert. Der Verfolgte weist zwar derzeit keine Symptome für eine COVID-19-Erkrankung auf, die Bundespolizei hat jedoch mitgeteilt, dass die Auslieferung nur mit einem negativen Test möglich sei, weshalb die Testung zur Durchführung der Auslieferung geboten ist. Der damit verbundene Eingriff ist insbesondere zur Sicherstellung der Auslieferung und Vermeidung von Ansteckungsrisiken für Mitreisende und in den aufnehmenden Justizvollzugsanstalten unter Berücksichtigung der geringen Eingriffsintensität nicht unverhältnismäßig. Zur verzögerungsfreien Durchführung der Auslieferung und im Hinblick auf die klare Sachlage ist eine vorherige Anhörung des Verfolgten nicht veranlasst (§ 33 Abs. 4 S. 1 StPO, § 77 IRG, vgl. auch OLG Stuttgart, Beschluss vom 25.02.2021, Ausl. 301 AR 117/20).“

Nun ja, da hätte man sich dann vielleicht doch ein paar Worte zu den Voraussetzungen des § 81a StPO gewünscht.

Akteneinsicht III: AE im Auslieferungsverfahren, oder: Reicht Akteneinsicht erst in Polen nach Überstellung?

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Das dritte Posting des Tages betrifft den OLG Celle, Beschl. v. 23.06.2021 – 2 AR (Ausl) 12/21. Der Beschluss ist im Auslieferungsverfahren ergangen. Es geht um die Frage, ob ein Auslieferungshindernis gemäß § 73 Satz 2 IRG vorliegt, wenn dem Verfolgten Akteneinsicht erst nach seiner Überstellung und seiner sich daran unverzüglich anschließenden Vernehmung im ersuchenden Staat – hier war es Polen –  gewährt werden soll. Das OLG sagt: Nein:

„bb) Der beantragten Zulässigkeitserklärung steht auch das Rechtshilfeverbot des § 73 IRG nicht entgegen.

(1) Grundsätzlich kann § 73 IRG der Zulässigkeit einer Auslieferung allerdings entgegenstehen, wenn der ersuchende Staat dem Verfolgten Akteneinsicht vollständig verweigert (vgl. BVerfG, Beschluss vom 4. Dezember 2019, 2 BvR 1832/19; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 27. November 2020, Ausl 301 AR 104/19, juris). Denn der Zugang zu den Ermittlungsakten ist eine Voraussetzung dafür, eine sachgerechte Verteidigung vorzubereiten und eine „Waffengleichheit“ im Strafverfahren zu ermöglichen; seine Verweigerung kann deshalb eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 und 3 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) begründen (EGMR, Urteil vom 17.02.1997, NStZ 1998, 429). Ein solcher Verstoß würde zugleich eine Verletzung der Verteidigungsrechte des Beschuldigten aus Art. 48 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GrCh) darstellen, denn die Auslegung des Art. 6 EMRK ist gemäß Art. 52 Abs. 3 GrCh auch zur Bestimmung der Gewährleistung von Art. 48 GrCh heranzuziehen (vgl. EuGH, Urteil vom 06. November 2012, C-199/11).

Durch die Richtlinie 2012/13/EU wurden die mit Art. 6 EMRK und Art. 48 Abs. 2 GrCh garantierten Verteidigungsrechte durch detailliertere Bestimmungen konkretisiert (vgl. Erwägungsgrund 8 zur RL 2012/13/EU). Artikel 7 Abs. 1 dieser Richtlinie verpflichtet die Mitgliedsstaaten, einem Beschuldigten im Falle seiner Inhaftierung alle für die Anfechtung der Haft wesentlichen Unterlagen zur Verfügung zu stellen. Artikel 7 Abs. 2 und 3 der Richtlinie bestimmen ferner, dass dem Beschuldigten zur Vorbereitung seiner Verteidigung rechtzeitig Einsicht in die Beweismittel zu gewähren ist, spätestens mit Einreichung der Anklageschrift.

(2) Ein Verstoß gegen diese Verteidigungsrechte des Verfolgten liegt im vorliegenden Fall nicht vor.

Es ist im Lichte der europarechtlichen Regelungen nicht zu beanstanden, dass die p. Behörden dem Verfolgten während der Auslieferungshaft keine Einsicht in die Ermittlungsakten gewährt haben. Denn nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes gilt das Recht aus Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2012/13/EU nicht für Personen, die zum Zwecke der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls festgenommen werden (EuGH, Urteil vom 28.01.2021, C-649/19).

Ein entsprechender Anspruch kann auch nicht unmittelbar aus Art. 6 EMRK oder Art. 48 Abs. 2 GrCh abgeleitet werden, denn diese stellen selbst – ebenso wenig wie Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2012/13/EU – keine Vorgaben dazu auf, zu welchem Zeitpunkt dem Beschuldigten die Unterlagen zur Verfügung zu stellen sind. Auch der Europäische Gerichtshof geht deshalb davon aus, dass das Recht eines Beschuldigten auf wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz nicht allein deshalb verletzt ist, weil er erst nach seiner Übergabe an die zuständigen Behörden des um Auslieferung ersuchenden Staates Einsicht in die Verfahrensakte nehmen kann (EuGH, Urteil vom 28.01.2021, C-649/19).

(3) Eine Verletzung der Verteidigungsrechte des Verfolgten, die das Rechtshilfeverbot des § 73 Satz 2 IRG auslösen würde, ist auch in der Zeit nach seiner Übergabe an die p. Behörden nicht zu erwarten.

Denn die p. Behörden haben auf Nachfrage des Senats mitgeteilt, dass der Verfolgte in P. unverzüglich vernommen werden und ihm anschließend – unabhängig von seinem Aussageverhalten – Akteneinsicht gewährt werden wird. Nach der Erklärung der p. Behörden werden dabei alle möglichen Handlungen unternommen, um den Zeitraum bis zur Vernehmung möglichst kurz zu halten. Abhängig vom Ort der Überstellung, der Terminvereinbarung mit seinem Verteidiger und möglicher Infektionsschutzmaßnahmen solle dies nicht länger als 14 Tage dauern.

Dieses Vorgehen der p. Behörden begegnet zwar noch insoweit Bedenken, als dem Verfolgten auch während der in P. zu vollziehenden Untersuchungshaft zumindest bis zu seiner Vernehmung weiterhin keine Akteneinsicht gewährt werden soll und dadurch das in Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2012/13/EU vorgesehene Recht des Verfolgten berührt sein könnte.

Allerdings rechtfertigt nicht jeder Verstoß gegen Beschuldigtenrechte die Ablehnung von Rechtshilfe gemäß § 73 Satz 2 IRG. Im Rahmen einer europarechtskonformen Auslegung des Rechtshilfeverbots ist vielmehr die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes zu berücksichtigen, der für die Ablehnung einer Auslieferung aufgrund eines Europäischen Haftbefehls verlangt, dass das Grundrecht auf ein faires Verfahren in seinem Wesensgehalt verletzt wird (EuGH, Urteil vom 25.07.2018, C-216/18; vgl. zu diesem Maßstab KG, Beschluss vom 03. April 2020, (4) 151 AuslA 201/19 (234/19), juris; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 14. Juni 2019, 4 AR 38/19, juris; OLG Bremen, Beschluss vom 07. September 2018, 1 Ausl A 31/18, juris).

Diese Rechtsprechung steht im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, wonach Verstöße gegen Art. 6 EMRK nur ausnahmsweise von Verfassungs wegen ein Auslieferungshindernis begründen, namentlich wenn diese einer Zerstörung des Wesensgehalts des durch Art. 6 EMRK garantierten Rechts gleichkommen (BVerfG, Beschluss vom 26. Februar 2018, 2 BvR 107/18; BVerfG, Beschluss vom 04. Dezember 2019, 2 BvR 1832/19). Im Hinblick auf die Beschränkung von Akteneinsicht hat das Bundesverfassungsgericht dies im Falle einer vollständigen Verweigerung von Akteneinsicht in einem Strafverfahren für möglich gehalten (BVerfG, Beschluss vom 04. Dezember 2019, 2 BvR 1832/19).

Hieran gemessen kann das von den p. Behörden angekündigte Vorgehen ein Rechtshilfeverbot gemäß § 73 Satz 2 IRG nicht begründen. Denn sie beabsichtigen nicht, dem Verfolgten die Akteneinsicht vollständig zu verweigern. Absehbar ist vielmehr eine um höchstens zwei Wochen verzögerte Gewährung von Akteneinsicht. Eine solche Verzögerung verletzt selbst dann, wenn sie gegen Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2012/13/EU verstößt, nicht den Wesensgehalt der Verfahrensrechte des Verfolgten aus Art. 6 EMRK und Art. 48 Abs. 2 GrCh. Denn der Verfolgte behält trotz der Verzögerung die Gelegenheit, seine Verteidigung vor Beginn des Hauptverfahrens aufgrund einer vollständigen Akteneinsicht vorzubereiten, und damit sein in Art. 7 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2012/13/EU konkretisiertes bedeutsames Verteidigungsrecht. Der von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2012/13/EU konkretisierte Teilaspekt seines Verteidigungsrechts, gegen die Haftanordnung vorzugehen, kann durch das absehbare Vorgehen demgegenüber zwar in zeitlicher Hinsicht beeinträchtigt sein. Die kurze Dauer des bis zur Vernehmung des Verfolgten vergehenden Zeitraums spricht dabei aber dagegen, dies als wesentliche Beeinträchtigung seines über diesen Gesichtspunkt deutlich hinausgehenden Rechts aus Art. 6 EMRK und Art. 48 Abs. 2 GrCh anzusehen. Dies gilt umso mehr, als die p. Behörden um eine Beschleunigung bemüht sind und der Vernehmungstermin maßgeblich von Umständen außerhalb des behördlichen Einflussbereichs mitbestimmt wird. Da zudem die Akteneinsicht nach Mitteilung der p. Behörden auch unabhängig vom Aussageverhalten des Verfolgten gewährt wird, ist eine den Wesensgehalt seiner Verteidigungsrechte berührende Verschlechterung seiner Stellung infolge der Verzögerung insgesamt nicht anzunehmen.“

Ausl I: Welche Haftbedingungen in Rumänien?, oder: OLG Schleswig macht seine Hausaufgaben nicht

entnommen wikimedia.org

In die heute beginnende 36. KW. starte ich mit zwei Entscheidungen zu einem etwas abgelegeneren Gebiet, das aber immer mehr an Bedeutung zunimmt, nämlich Auslieferungsrecht.

An der Spitze der Berichterstattung steht der BVerfG, Beschl. v. 18.08.2021 – 2 BvR 908/21, den mir der Kollege Marquort aus Kiel geschickt hat.  Ergangen ist der Beschluss in einem Verfahren, in dem um die Auslieferung eines Verfolgten nach Rumänien gestritten wird. und zwar wegen der Haftbedingungen in Rumänien. Da hatte das BVerfG das OLG Schleswig schon einmal gerügt und ihm mitgeteilt, dass es sein „Hausaufgaben nicht gemacht hat. So dann jetzt auch in diesem Beschluss:

„Die angegriffene Entscheidung vom 15. April 2021 verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 4 GRCh.

a) Aus Art. 4 GRCh folgt für ein mit einem Überstellungsersuchen befasstes Gericht die Pflicht, in zwei Prüfungsschritten von Amts wegen aufzuklären, ob die konkrete Gefahr besteht, dass die zu überstellende Person nach einer Übergabe einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt sein wird (vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 1. Dezember 2020 – 2 BvR 1845/18, 2 BvR 2100/18-, Rn. 42 ff.).

b) Hat das Gericht im ersten Prüfungsschritt systemische oder allgemeine Mängel der Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat festgestellt, so ist es im zweiten, auf die Situation des Betroffenen bezogenen Prüfungsschritt verpflichtet, genau zu prüfen, ob es unter den konkreten Umständen ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die gesuchte Person im Anschluss an ihre Übergabe an den Ausstellungsmitgliedstaat aufgrund der Bedingungen, unter denen sie inhaftiert sein wird, dort einer echten Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh ausgesetzt ,sein wird. Dies erfordert eine aktuelle und eingehende Prüfung der Situation, wie sie sich zum Entscheidungszeitpunkt darstellt. Da das Verbot einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung absoluten Charakter hat, darf die vom Gericht vorzunehmende Prüfung der Haftbedingungen nicht auf offensichtliche Unzulänglichkeiten beschränkt werden, sondern muss auf einer Gesamtwürdigung der maßgeblichen materiellen Haftbedingungen beruhen (vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 1. Dezember 2020 – 2 BvR 1845/18, 2 BvR 2100/18 -, Rn. 46 m.w.N.).

aa) Bei der von dem mitgliedstaatlichen Gericht vorzunehmenden Gesamtwürdigung der Haftbedingungen ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bei Gemeinschaftszellen hinsichtlich des einem Inhaftierten zur Verfügung stehenden Raums zu unterscheiden, ob dieser unter 3 m2, zwischen 3 m2 und 4 m2 oder über 4 m2 liegt. Bei der Berechnung der verfügbaren Fläche in einer Gemeinschaftszelle ist die Fläche der Sanitärvorrichtungen nicht einzuschließen, wohl aber die durch Möbel eingenommene Fläche, wobei es den Gefangenen möglich bleiben muss, sich in der Zelle normal zu bewegen (vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 1. Dezember 2020 – 2 BvR 1845/18, 2 BvR 2100/18 -, Rn. 48 m.w.N.).

bb) In Anbetracht der Bedeutung des Raumfaktors bei der Gesamtbeurteilung der Haftbedingungen begründet nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte der Umstand, dass der einem Inhaftierten zur Verfügung stehende Raum in einer Gemeinschaftszelle unter 3 m2 liegt, eine starke Vermutung für einen Verstoß gegen Art. 4 GRCh beziehungsweise Art. 3 EMRK. Diese starke Vermutung kann normalerweise nur widerlegt werden, wenn es sich kumulativ erstens um eine kurze, gelegentliche und unerhebliche Reduzierung des persönlichen Raums gegenüber dem geforderten Minimum von 3 m2 handelt, diese Reduzierung zweitens mit genügend Bewegungsfreiheit und ausreichenden Aktivitäten außerhalb der Zelle einhergeht sowie drittens die Haftanstalt allgemein angemessene Haftbedingungen bietet und die betroffene Person keinen anderen Bedingungen ausgesetzt ist, die als die Haftbedingungen erschwerende Umstände anzusehen sind. Verfügt ein Gefangener in einer Gemeinschaftszelle über einen persönlichen Raum, der zwischen 3 m2 und 4 m2 beträgt, kann ein Verstoß gegen Art. 4 GRCh beziehungsweise Art. 3 EMRK vorliegen, wenn zu dem Raummangel weitere defizitäre Haftbedingungen hinzutreten, wie etwa fehlender Zugang zum Freistundenhof beziehungsweise zu Frischluft und Tageslicht, schlechte Belüftung, eine zu niedrige oder zu hohe Raumtemperatur, fehlende Intimsphäre in den Toiletten oder schlechte Sanitär- und Hygienebedingungen. Bei mehr als 4 m2 persönlichem Raum in einer Gemeinschaftszelle bleiben die weiteren Aspekte der Haftbedingungen für die erforderliche Gesamtbeurteilung relevant (vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 1. Dezember 2020 – 2 BvR 1845/18, 2 BvR 2100/18 Rn. 49 ff. m.w.N.).

c) Mit dem zweistufigen Prüfprogramm sind Aufklärungspflichten des mit einem Überstellungsersuchen befassten Gerichts verbunden. Aus Art. 4 GRCh folgt nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union die Pflicht, im Einzelfall zu prüfen und durch zusätzliche Informationen aufzuklären, ob das Grundrecht des zu Überstellenden aus Art. 4 GRCh gewahrt ist (vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 1. Dezember 2020 – 2 BvR 1845/18, 2 BvR 2100/18-, Rn. 52).

aa) Zunächst muss sich das Gericht auf objektive, zuverlässige, genaue und gebührend aktualisierte Angaben über die Haftbedingungen in den Haftanstalten des Ausstellungsmitgliedstaats stützen, die das Vorliegen systemischer oder allgemeiner, bestimmte Personengruppen oder bestimmte Haftanstalten betreffende Mängel belegen können (vgl. EuGH, Urteile vom 25. Juli 2018, Generalstaatsanwaltschaft <Haftbedingungen in Ungarn>, C-220/18 PPU, EU:C:2018:589, Rn. 60; und vom 15. Oktober 2019, Dorobantu, C-128/18, EU:C:2019:857, Rn. 52). Für die gründlich vorzunehmende Prüfung, ob es unter den konkreten Umständen ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die zu überstellende Person im Anschluss an ihre Übergabe aufgrund der Haftbedingungen einer echten Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh ausgesetzt sein wird, muss das Gericht innerhalb der nach Art. 17 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl (im Folgenden: RbEuHb) zu beachtenden Fristen den Ausstellungsmitgliedstaat um die unverzügliche Übermittlung aller notwendigen zusätzlichen Informationen in Bezug auf die Bedingungen bitten, unter denen die betreffende Person in diesem Mitgliedstaat inhaftiert werden soll.‘ Der Ausstellungsmitgliedstaat ist verpflichtet, die ersuchten Informationen innerhalb der ihm vom ersuchten Mitgliedstaat gesetzten Frist zu übermitteln (vgl. EuGH, Urteil vom 25. Juli 2018, Generalstaatsanwaltschaft <Haftbedingungen in Ungarn>, C-220/18 PPU, EU:C:2018:589, Rn. 64; BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 1. Dezember 2020 – 2 BvR 1845/18, 2 BvR 2100/18-, Rn. 53).

bb) Diese einzuholenden zusätzlichen Informationen sind Voraussetzung dafür, dass die Prüfung einer bestehenden Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung einer Person auf einer ausreichenden Tatsachengrundlage beruht. Das mit einem Übermittlungsersuchen befasste Gericht muss deshalb die Entscheidung über die Zulässigkeit der Übergabe so lange aufschieben, bis es die zusätzlichen Informationen erhalten hat, die es ihm gestatten, das Vorliegen einer solchen Gefahr auszuschließen. Kann das Vorliegen einer solchen Gefahr nicht, innerhalb einer angemessenen Frist ausgeschlossen werden, muss, das Gericht darüber entscheiden, ob das Übergabeverfahren zu beenden ist (vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 1. Dezember 2020 – 2 BvR 1845/18, 2 BvR 2100/18-, Rn. 54 m.w.N.).

cc) Art. 15 Abs. 2 RbEuHb verpflichtet das mit einem Überstellungsersuchen befasste Gericht zur Einholung zusätzlicher, für die Übergabeentscheidung notwendiger Informationen. Als Ausnahmebestimmung kann diese Regelung nicht dazu herangezogen werden, die Behörden des Ausstellungsmitgliedstaats systematisch um allgemeine Auskünfte zu den Haftbedingungen in den dortigen Haftanstalten zu ersuchen. Die gerichtliche Aufklärungspflicht bezieht sich nicht auf die allgemeinen Haftbedingungen in sämtlichen Haftanstalten. Unter Berücksichtigung des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens und der für den europäischen Rechtshilfeverkehr vorgesehenen Fristen beschränkt sich diese vielmehr auf die Prüfung derjenigen Haftanstalten, in denen die gesuchte Person nach den vorliegenden Informationen wahrscheinlich, sei es auch pur vorübergehend oder zu Übergangszwecken, konkret inhaftiert werden soll (vgl. EuGH, Urteile vom 25. Juli 2018, Generalstaatsanwaltschaft <Haftbedingungen in Ungarn> C-220/18 PPU, EU:C:2018:589, Rn. 84 bis 87 und Rn. 117; und vom 15. Oktober 2019, Dorobantu, C-128/18, EU:C:2019:857, Rn. 64 bis 66; BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 1. Dezember 2020 – 2 BvR 1845/18, 2 BvR 2100/18 -, Rn. 55).

d) Hat der Ausstellungsmitgliedstaat eine Zusicherung abgegeben, dass die betroffene Person unabhängig von der Haftanstalt, in der sie im Ausstellungsmitgliedstaat inhaftiert wird, keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung erfahren werde, muss sich das mit einem Überstellungsersuchen befasste Gericht auf eine solche konkrete Zusicherung zumindest dann verlassen, wenn keine tatsächlichen Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Haftbedingungen in einer bestimmten Haftanstalt gegen Art. 4 GRCh verstoßen. Auch eine Zusicherung des Ausstellungsmitgliedstaats entbindet das mit einem Überstellungsersuchen befasste Gericht aber nicht von der Pflicht, zunächst eine eigene Gefahrenprognose anzustellen, um so die Belastbarkeit einer Zusicherung einschätzen zu können. Nur bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände darf das Gericht auf der Grundlage konkreter Anhaltspunkte feststellen, dass für die betroffene Person trotz der Zusicherung eine echte Gefahr besteht, aufgrund der Bedingungen ihrer Inhaftierung im Ausstellungsmitgliedstaat einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh unterworfen zu werden (vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 1. Dezember 2020 – 2 BvR 1845/18, 2 BvR 2100/18-, Rn. 56 m.w.N.).

2. Nach diesen Maßstäben hält die angegriffene Entscheidung einer verfassungsrechtlichen Prüfung nicht stand. Das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht ist seiner Verpflichtung nach Art. 4 GRCh, auf der zweiten Prüfungsstufe im konkreten Fall zu prüfen und durch zusätzliche Informationen aufzuklären, ob der Beschwerdeführer nach seiner Überstellung in einer rumänischen Haftanstalt einer Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ausgesetzt sein wird, nicht hinreichend nachgekommen.

a) Die rumänischen Behörden haben mit Schreiben vom 1. Februar und vom 11. März 2021 neue Informationen zu den Haftbedingungen erteilt, die den Beschwerdeführer im Falle seiner Auslieferung erwarten sollen. Mit Schreiben vom 1. Februar 2021 wurde ihm erstmals unabhängig von einer konkreten Haftanstalt ein persönlicher Raum von mindestens 3 m2 zugesichert. Diese Zusicherung unterscheidet sich von den zuvor abgegebenen Zusicherungen der rumänischen Behörden, die sich noch auf konkret benannte Haftanstalten bezogen und die ihm insbesondere im halboffenen Vollzug lediglich eine Mindestfläche von 2 m2 gewährleisteten. Das Oberlandesgericht hat in der angegriffenen Entscheidung nicht berücksichtigt, dass dem Gericht eigenständige Prüfungspflichten auch hinsichtlich der neu erteilten Zusicherung oblägen. So kann ein Verstoß gegen Art. 4 GRCh auch dann vorliegen, wenn ein Gefangener in einer Gemeinschaftszelle zwar über einen persönlichen Raum, der zwischen 3 m2 und 4 m2 liegt, verfügt, zu diesem Raum aber weitere defizitäre Haftbedingungen hinzutreten (vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 1. Dezember 2020 -2 BvR 1845/18, 2 BvR 2100/18 -, Rn. 50/m.w.N.). Dem Schreiben vom 1. Februar 2021 lässt sich für den halboffenen Strafvollzug indes keine weitere Beschreibung der Haftbedingungen entnehmen, die unabhängig von der Haftanstalt gelten sollen, in der der Beschwerdeführer untergebracht werden soll. Ferner bleibt unklar, wie die rumänischen Behörden den persönlichen Mindestraum berechnen, insbesondere, ob die Berechnung die Fläche für den Sanitärbereich einbezieht.

b) Das Oberlandesgericht ist auch nicht darauf eingegangen, dass unklar bleibt, ob die Unterbringung des Beschwerdeführers in der Quarantänezeit in einer Einzel- oder einer Gemeinschaftszelle erfolgen soll. Im Schreiben vom 11. März 2021 sprechen die rumänischen Behörden ohne weitere Konkretisierung von einer „getrennten Unterbringung der Gefangenen“. Dieser Umstand kann bei einer mitgeteilten Mindestfläche von lediglich 3 m2 nicht offenbleiben, da es ansonsten an einer hinreichenden Tatsachengrundlage für die vom Gericht vorzunehmende Gesamtwürdigung der Haftbedingungen fehlt.

c) Schließlich hat es das Oberlandesgericht versäumt, die von den rumänischen Behörden abgegebenen neuen Zusicherungen hinsichtlich ihrer Belastbarkeit zu überprüfen. Eine eigene Gefahrenprognose des Gerichts, um so die Belastbarkeit einer Zusicherung einschätzen zu können (vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 1. Dezember 2020 – 2 BvR 1845/18, 2 BvR 2100/18 -, Rn. 56), lässt sich dem angegriffenen Beschluss nicht entnehmen.“

Wird man beim OLG Schleswig nicht so gerne lesen. Aber muss man durch. Und nach der „Anleitung“ wird es jetzt ja wohl klappen.