Archiv für den Monat: Oktober 2023

Haft I: Haftprüfung beim OLG dauert 5 Monate, oder: Berechtigte Klatsche vom BVerfG für das OLG Frankfurt

Bild von Clker-Free-Vector-Images auf Pixabay

Heute dann noch einmal/schon wieder ein Tag mit Haftentscheidungen, und zwar U-Haft und Vollstreckung einer Ersatzfreiheitsstrafe.

An der Spitze steht BVerfG, Beschl. v. 21.09.2023 – 2 BvR 825/23 – zu (zu) langen = überlangen  Dauer des Haftprüfungsverfahrens beim OLG nach den §§ 121, 122 StPO. Das BVerfG sagt: Die überlange Dauer des Haftprüfungsverfahrens nach den §§ 121, 122 StPO verletzt den Beschuldigten in seinem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz.

Folgender Sachverhalt: Gegen den Beschuldigten ist ein Wirtschaftsstrafverfahren anhängig. Er befindet sich seit dem 30.06.2022 ununterbrochen in Untersuchungshaft. Mit Verfügung vom 13.12.2022 übersandte die Staatsanwaltschaft die Akten an das OLG Frankfurt am Main zum Zwecke der besonderen Haftprüfung und beantragte im Verfahren nach den §§ 121, 122 StPO die Fortdauer der Untersuchungshaft gegen den Beschuldigten. Die Akten gingen am 28.12. 2022 beim OLG ein. Am Folgetag versandte der Vorsitzende des zuständigen Strafsenats eine Abschrift der Übersendungsverfügung an die Beteiligten und gab ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme. Mit Schreiben vom 9.1.2023 beantragte der Beschuldigte die Aufhebung des Haftbefehls.

Der Beschuldigte hat dann mit Schreiben vom 29.03.2023 beim OLG um Mitteilung gebeten, bis wann mit einer Entscheidung über die U-Haft zu rechnen sei. Das OLG teilte daraufhin mit, dass der Berichterstatter längerfristig krankheitsbedingt verhindert sei. Der Unterzeichnerin liege das Verfahren seit dem 24.03.2023 zur Bearbeitung in Vertretung vor. Angesichts „eigener“ vorrangig zu bearbeitender Haftsachen und anstehenden Urlaubs sei derzeit nicht absehbar, wann eine Entscheidung ergehen werde. Am 13.04.2023 stellte die zuständige Richterin in einem Aktenvermerk die Gründe für die Verzögerung nochmals dar und führte ergänzend eine Corona-Erkrankung in ihrer Familie an.

Der Beschuldigte hat am 16.6.02033 Verfassungsbeschwerde beim BVerfG gegen die Nichtentscheidung des OLG im Haftprüfungsverfahren eingelegt. Das OLG hat mit Beschluss vom 26.06.2023 die Fortdauer der Untersuchungshaft angeordnet. Der Beschuldigte hat seine Verfassungsbeschwerde mit der Maßgabe aufrechterhalten, festzustellen, dass ihn die Nichtentscheidung des Oberlandesgerichts bis zum 26.06.2023 in seinem Grundrecht auf Freiheit und auf effektiven Rechtsschutz verletze.

Und der Antrag hatte Erfolg. Das BVerfG hat die verfassungsbeschwerde zur Entscheidung angenommen und die Rechtswidrigkeit der überlangen Haft(fortdauer) festgestellt.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt.

Zur Zulässigkeit verweist es darauf, dass der zwischenzeitlich – endlich – ergangene Haftfortdauerbeschluss des OLG der Zulässigkeit des Feststellungsantrags, auf den der Beschuldigte inzwischen umgestellt hat, nicht entgegenstehe. Der Beschuldigte habe ein fortdauerndes Rechtsschutzbedürfnis an der Feststellung, dass ihn die überlange Dauer des Haftprüfungsverfahrens in seinem Recht auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes verletzt.

In der Sache sieht das BVerfG in der überlangen Dauer des Haftprüfungsverfahrens vor dem OLG Frankfurt am Main den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG verletzt. Der Anspruch auf effektiven Rechtsschutz habe Hinblick auf Eingriffe in das Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG i.V.m. Art. 104 GG besondere Bedeutung. Bei einem Haftprüfungsverfahren sei außerdem Art. 5 Abs. 4 EMRK zu berücksichtigen. Wegen der Einzelheiten verweise ich auf den verlinkten Volltext

Und dann geht es zur Sache:

„2. Diesen Maßstäben ist das Oberlandesgericht nicht gerecht geworden, indem es bis zum 26. Juni 2023 eine Entscheidung im besonderen Haftprüfungsverfahren unterlassen hat.

a) Das Oberlandesgericht hat dadurch in das Grundrecht des Beschwerdeführers auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG eingegriffen. Die Verfahrensakten sind am 28. Dezember 2022 und damit vor Ablauf der Sechsmonatsfrist zur Haftprüfung an das Oberlandesgericht gelangt. Nach Eingang der Stellungnahme des Beschwerdeführers am 9. Januar 2023 vergingen bis zur Entscheidung des Oberlandesgerichts über die Haftfortdauer am 26. Juni 2023 mehr als fünf Monate. § 122 Abs. 4 Satz 2 StPO sieht demgegenüber vor, dass die Prüfung, ob die Voraussetzungen der Untersuchungshaft weiter vorliegen, spätestens nach drei Monaten zu wiederholen ist. Zwar ruht gemäß § 121 Abs. 3 StPO der Fristenlauf des § 121 Abs. 1 StPO bis zur Entscheidung des Oberlandesgerichts, sodass dem Beschwerdeführer formell keine der in §§ 121, 122 StPO vorgeschriebenen Prüfungen verwehrt worden ist. Indem die Entscheidung des Oberlandesgerichts aber erst knapp sechs Monate nach Ablauf der Sechsmonatsfrist des § 121 Abs. 1 StPO ergangen ist, hat das Oberlandesgericht durch die überlange Verfahrensdauer dem Beschwerdeführer faktisch nicht nur die gemäß § 121 Abs. 1, § 122 StPO vorgesehene Sechsmonatsprüfung, sondern auch die durch § 122 Abs. 4 StPO vorgeschriebene Nachprüfung nach neun Monaten genommen.

b) Die vom Oberlandesgericht angeführten Gründe für die Verzögerung rechtfertigen den Eingriff in das Recht auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG nicht. Bei den in der Antwort auf die Sachstandsanfrage des Beschwerdeführers am 30. März 2023 angeführten und im Aktenvermerk vom 13. April 2023 festgehaltenen Gründen für die Nichtbearbeitung handelt es sich sämtlich um solche, die der Beschwerdeführer nicht zu vertreten hat und die nicht geeignet sind, eine Verzögerung der Entscheidung über mehrere Monate zu rechtfertigen. Das gilt für den Verweis der Richterin auf ihren bevorstehenden Urlaub und die Corona-Erkrankung in ihrer Familie ebenso wie für den Hinweis auf vorrangig zu bearbeitende „eigene“ Haftsachen. Dass die Richterin erst am 24. März 2023 für das Verfahren vertretungsweise zuständig wurde, rechtfertigt die Verzögerung ebenfalls nicht, weil es in der gerichtsinternen Sphäre liegt, dass auf die seit November 2022 bestehende Erkrankung eines Beisitzers erst im März reagiert wurde. Unabhängig davon sind von der Zuweisung des Verfahrens an die neue Richterin am 24. März 2023 bis zur Entscheidung des Oberlandesgerichts am 26. Juni 2023 noch einmal mehr als drei Monate vergangen. Damit hat das Oberlandesgericht versäumt, dem Recht des Beschwerdeführers auf Durchführung der besonderen Haftprüfung nach § 122 StPO praktische Wirksamkeit zu verschaffen, weil es ihm den gesetzlich vorgesehenen Rechtsschutz nicht innerhalb angemessener Zeit gewährt hat.“

In meinen Augen: Das Verhalten/Vorgehen des 1. Strafsenats des OLG Frankfurt am Main ist Ungeheuerlich und dreist und das Ganze ein Armutszeugnis für die (hessische) Justiz, oder besser für die Strafjustiz beim OLG Frankfaurt am Main.

Denn man mag es nicht glauben, wenn man es liest. Da dauert ein Haftprüfungsverfahren nach §§ 121, 122 StPO beim OLG Frankfurt am Main mehr als fünf Monate, also fast so lange, wie U-Haft ohne besondere Haftprüfung durch das OLG nach der StPO überhaupt dauern darf. Und das versucht man dann damit zu entschuldigen, dass der Berichterstattet länger erkrankt sein. Dem kann man nur entgegenhalten, was das BVerfG – mit wohl gesetzten Worten – auch tut: Das ist dem Beschuldigten völlig egal und die Justiz hat dafür zu sorgen, dass dann eben Ersatz zur Verfügung steht. Und die Vertreterin des erkrankten Berichterstatters geht dann, nachdem sie nach drei Monaten – da stand im Grunde die 9-Monats-Prüfung schon an (!!) – die Sache endlich übernommen hat, erst mal in Urlaub und schiebt eigene – offenbar wichtigere, vielleicht aber auch noch ältere (?) – Haftsachen vor, die eine zeitnahe – nach drei Monaten? – Bearbeitung nicht möglich machen. Und – zum Glück, ich weiß, das klingt zynisch – gibt es dann noch eine Corona-Erkrankung in der Familie, die man auch vorschieben kann. Erst als dann der Beschuldigte bereits Verfassungsbeschwerde eingelegt hat, bequemt der Senat sich dann im Juni 2023 endlich zu entscheiden; man hat wegen des zeitlichen Zusammentreffens mit der Verfassungsbeschwerde ein wenig den Eindruck in der Hoffnung, dass das BVerfG die dann als erledigt ansieht. Aber mitnichten. Das BVerfG geht von einem fortdauernden Feststellungsinteresse aus und entscheidet zu Gunsten des Beschuldigten. Und man kann dem Beschluss m.E. deutlich anmerken, dass das Verfassungsgericht „not amused“ ist. Und das mit Recht. Denn das Verhalten und die mehr als zögerliche Bearbeitung des Verfahrens durch das OLG Frankfurt am Main ist – mit Verlaub – dreist und ungeheuerlich, wenn man berücksichtigt, dass es um das Freiheitsgrundrecht des Beschuldigten geht. Bei solchem Verhalten muss man sich über die immer weiter zunehmende mangelnde Akzeptanz gerichtlicher Entscheidungen nicht wundern.

Der Zorn und das Unverständnis richten sich aber nicht nur gegen den lethargischen 1. Strafsenat des OLG Frankfurt am Main, sondern auch gegen die Verwaltung des OLG, die „ihren Laden offenbar nicht im Griff hat“ und auch gegen das hessische Justizministerium, das solche Verfahrensabläufe, wenn man die Vorgaben der StPO ernst nimmt bzw. ernst nehmen würde, zu verhindern hat/hätte. In meinen Augen ein Versagen der Justiz auf ganzer Linie.

Verkehrsrecht III: Bewegungsdaten versus Zeugen, oder: Dringender Tatverdacht für Trunkenheitsfahrt?

Bild von J W. auf Pixabay

Und dann als dritte verkehrsrechtliche Entscheidung noch ein Beschluß des LG Itzehoe. Bei dem hatte die Beschwerde gegen die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 111a StPO) wegen einer Trunkenheitsfahrt (§ 316 StGB) Erfolg. Das LG hat im LG Itzehoe, Beschl. v. 11.10.2023 – 2 Qs 137/23 – den dringenden Tatverdacht für eine „Trunkenheitsfahrt“ verneint, und zwar mit einer ganz interessanten Begründung bzw. aufgrund einer interessanten „Beweiserhebung“:

„Voraussetzung einer Maßnahme nach § 111a Abs. 1 Satz 1 StPO ist das Vorliegen von dringenden Gründen für die Annahme, dass in einem Urteil die Maßregel nach § 69 StGB angeordnet werden wird. Dies erfordert dringenden Tatverdacht und einen hohen Grad von Wahrscheinlichkeit, dass das Gericht den Beschuldigten für ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen halten und ihm daher die Fahrerlaubnis entziehen werde (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl. 2023, § 111a Rn. 2). Nach § 69 Abs. 2 Nr. 2 StGB ist der Täter in der Regel als ungeeignet zum Führen eines Kraftfahrzeugs anzusehen und die Fahrerlaubnis deshalb zu entziehen, wenn er ein Vergehen nach § 316 StGB (Trunkenheit im Verkehr) begangen hat.

Derzeit ist aber nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass dem Angeklagten die Fahrerlaubnis gemäß § 69 Abs. 2 Nr. 2 StGB entzogen werden wird. Denn es liegen keine dringenden Gründe für die Annahme vor, dass der Angeklagte im Verkehr ein Fahrzeug geführt hat, obwohl er infolge des Genusses alkoholischer Getränke oder anderer berauschender Mittel nicht in der war, das Fahrzeug sicher zu führen.

Die Zeugen pp. und pp. haben zwar angegeben, dass der Angeklagte mit seinem Fahrzeug neben ihnen (ein)parkte. Die vorgelegten Bewegungsdaten des Fahrzeugs, mit dem der Angeklagte sich auf den Parkplatz begeben hatte und bei dem es sich um einen Firmenwagen handelt, widersprechen dem aber. Danach ist nicht davon auszugehen, dass der Angeklagte zu einem Zeitpunkt um kurz vor 13.20 Uhr das Fahrzeug führte. Aus ihnen ergibt sich lediglich, dass das Fahrzeug um 11.27 Uhr entriegelt und um 13.16 Uhr verriegelt wurde. Eine Bewegung in der Zwischenzeit ist dem nicht zu entnehmen. Die Bewegungsdaten hat ausweislich der schriftlichen Angaben des Herrn pp. des Arbeitsgebers des Angeklagten, er selbst und nicht der Angeklagte ausgelesen. Dem Privatgutachten liegen zwar nur diese von Herrn pp. an den Angeklagten übermittelten Screenshots der Bewegungsdaten zugrunde, allerdings lässt sich dem Gutachten zumindest entnehmen, dass man die Daten nicht manipulieren könne. Der den 02.06.2023 betreffenden Übersicht kann man zudem auch geringe Entfernungen von unter einem Kilometer entnehmen, das System erfasst also auch sehr kurze Strecken.

Letztlich muss die Klärung des Sachverhalts der Hauptverhandlung vorbehalten bleiben und der Widerspruch dort geklärt werden. Nach dem derzeitigen Stand der Ermittlungen ist aber nicht davon auszugehen, dass dem Angeklagten die Fahrerlaubnis gemäß § 69 Abs. 2 Nr. 2 StGB entzogen werden wird.“

Verkehrsrecht II: Grenze für „bedeutender Schaden“, oder: Beim LG Dresden jetzt (auch) 1.800 EUR

Bild von ElisaRiva auf Pixabay

An zweiter Stelle dann heute der LG Dresden, Beschl. v. 15.09.2023 – 17 Qs 77/23, in dem das LG die Grenze für den bedeutenden Schaden i.S. des § 69 Abs. 1 Nr. 3 StGB – also Entziehung der Fahrerlaubnis in den Fällen des unerlaubten Entfernens vom Unfallort (§ 146 StGB) auf (derzeit) nicht unter 1.800 EUR angehoben hat:

„a) Gemäß § 111a StPO kann der Richter dem Beschuldigten durch Beschluss die Fahrerlaubnis vorläufig entziehen, wenn dringende Gründe für die Annahme vorhanden sind, dass die Fahrerlaubnis entzogen wird. Nach § 69 Abs. 1 StGB setzt die Entziehung der Fahrerlaubnis voraus, dass der Beschuldigte zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet ist, wobei nach Abs. 2 Nr. 3 der Vorschrift in der Regel der Täter als ungeeignet anzusehen ist, wenn er im Falle eines hier verfahrensgegenständlichen unerlaubten Entfernens vom Unfallort weiß oder wissen kann, dass an fremden Sachen ein bedeutender Schaden entstanden ist.

aa) Voraussetzung ist zunächst das Vorliegen eines objektiv bedeutenden Schadens. Darüber hinaus ist die Erkennbarkeit der Schadenshöhe für den Täter zum Tatzeitpunkt maßgeblich (vgl. etwa Kammerbeschluss v. 08.02.2023, Az. 17 Qs 11/23).

Eine konkrete Schadenshöhe hat der Gesetzgeber dabei nicht vorgegeben, sodass es Aufgabe der Gerichte ist, diese zu bestimmen.

bb) Im Ansatz zutreffend hat sich das Amtsgericht Dresden davon leiten lassen, dass nach der Kommentierung unter Verweis auf die Rechtsprechung, unter anderem des Oberlandesgerichts Dresden, von gegenwärtigen Grenzen von ca. 1.300 EUR bzw. jedenfalls nicht unter 1.500 EUR auszugehen sei.

Allerdings ist nach der Entscheidung des Oberlandesgerichts (und nach Abstimmung der dortigen Senate) die allgemeine Preis- und Einkommensentwicklung ausdrücklich zu berücksichtigen (OLG Dresden, Beschluss v. 12.05.2005 — 2 Ss 278/05, zitiert nach juris, dort Rn. 12), weswegen das Oberlandesgericht Dresden damals gerade erst ab 1.300 EUR einen bedeutenden Schaden annahm.

cc) Angesichts der weiter vorangeschrittenen Inflation ist die Wertgrenze anzupassen, weshalb derzeit ein bedeutender Schaden nicht unter 1.800 EUR anzunehmen ist.

(1) Dies folgt daraus, dass laut Statistischen Bundesamt im Januar 2023 (Tatzeit: 20.01.2023) allein die Teuerungsrate 8,7 % betrug. Für das vergangene Jahr 2022 betrug die Jahresteuerungsrate 7,9 %. Im Jahr 2021 belief sie sich auf 3,1 % und im Jahr 2020 betrug sie 0,5 % (vgl. die Destatis-Pressemeldungen Nr. 69 v. 22.02.2023; Nr. 22 v. 17.01.2023; Nr. 25 v. 19.01.2022; Nr. 25 v. 19.01.2021).

(2) Ausgehend von einer Grenze in Höhe von 1.500 EUR aus dem Jahr 2019 (noch LG Dresden, Besohl. v. 07.05.2019 — 3 Qs 29/19) war die Annahme des bedeutenden Schadens entsprechend einer Erhöhung um die jeweiligen Prozentwerte für die Folgejahre 2020 bis 2023 anzupassen. Bei stetiger Erhöhung des Ausgangswertes von 1.500 EUR um diese jeweiligen Jahresteuerungsraten ergibt sich, bei geringfügiger Rundung, ein Wert in Höhe von 1.800 EUR.

(3) Ebenso ergibt sich, unter geringfügiger Rundung, ein Wert in Höhe von 1.800 EUR bei Heran-ziehung der noch 2005 vomn Oberlandesgericht Dresden erkannten Wertgrenze von 1.300 EUR und stetiger Erhöhung dieses Wertes um die seitdem zu berücksichtigenden Jahresteuerungsraten bis 2023, wie folgt (Veränderung Verbraucherpreisindex laut Destatis, Genesis-Online):

Jahr Wert zu Jahresbeginn          Jahresteuerungsrate Bemerkung
2005   1.300,00 €    1,6 %
2006   1.320,80€     1,6%
2007   1.341,93 €    2,3 %
2008   1.372,80 €    2,6 %
2009   1.408,49 €    0,3 %
2010   1.412,72€     1,0%
2011   1.426,84 €    2,2 %
2012   1.458,23 €    1,9 %
2013   1 A85,94 €    1,5%
2014   1.508,23 €    1,0 %
2015   1.523,31 €    0,5 %
2016   1.530,93 €    0,5 %
2017   1.538,58 €    1,5 %
2018   1.561,66 €    1,8 %
2019   1.589,77 €    1,4 %
2020   1.612,03 €    0,5 %
2021   1.620,09 €    3,1 %
2022   1.670,31 €    7,9 % Pressemitteilung 022/2023
2023   1.802.26 €

b) Da bei zutreffender Auffassung des Beschwerdeführers ohne eine bisher erfolgte Reparatur der gutachterlich ermittelte Netto-Sachschaden in Höhe von 1/00 EUR heranzuziehen ist, der unterhalb der nach Auffassung der Kammer derzeit anzusetzenden Wertgrenze von 1.800 EUR liegt, fehlt es an den Voraussetzungen für eine vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis gemäß § 111a Abs. 1 StPO i.V.m. § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB.“

Verkehrsrecht I: Glaubhafte Nachtrunkbehauptung?, oder: Abbauwert, Resorptionsdefizit, Reduktionsfaktor

© roostler – Fotolia.com

Ich habe länger keine Verkehrsrechtsentscheidungen mehr vorgestellt. Heute ist dann mal wieder ein „Verkehrsrechtstag“.

Ich beginne mit dem BayObLG, Beschl. v. 15.08.2023 – 203 StRR 317/23, der sich noch einmal mit der Nachtrunkproblematik befasst. AG und LG haben den Angeklagten wegen einer fahrlässigen Trunkenheit im Verkehr (§ 316 STGB) verurteilt. Dagegen die Revision, die – nach Wiedereinsetzung in die Revisionsbegründungsfrist – begründet war:

„Die Revision des Angeklagten hat Erfolg. Die Verurteilung wegen fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr (§ 316 Abs. 1 und 2 StGB) kann nicht bestehen bleiben. Die Annahme des Landgerichts, der Angeklagte sei zur Tatzeit infolge vorangegangenen Alkoholgenusses, welcher zu einer Blutalkoholkonzentration von mindestens 1,8 Promille geführt hätte, absolut fahruntüchtig gewesen, ist mit den Feststellungen im Urteil nicht in Einklang zu bringen. Die unzureichenden Angaben in den Urteilsgründen lassen entgegen der Rechtsauffassung der Generalstaatsanwaltschaft auch keine Korrekturberechnung zu.

1. Die Strafkammer ist von einer Tatzeit gegen 22.55 Uhr, zwei Blutentnahmen am Folgetag um 1.58 Uhr und 2.28 Uhr und von Blutalkoholkonzentrationswerten von 2,03 Promille (erste Probe) und 1,94 Promille (zweite Probe) ausgegangen. Sie hat zugunsten des Angeklagten unterstellt, er hätte nach der gegen 22.55 Uhr beendeten Fahrt „möglicherweise noch zwei Flaschen Bier“ getrunken. Ohne weitere Feststellungen zum Gebinde, zum Alkoholgehalt, zum Trinkbeginn, zum Trinkende, zum Beginn und zum Ende des Nachtrunks sowie zum Körpergewicht und zur Konstitution des Angeklagten hat die Strafkammer das Resümee gezogen, dieser Nachtrunk habe zu einer Erhöhung der Blutalkoholkonzentration von 0,65 Promille führen können. Da zwischen der Fahrt und der ersten Blutentnahme jedoch ein Zeitraum von drei Stunden liegen würde und der Angeklagte halbstündlich „0,9“ Promille (gemeint ist wohl 0,09 Promille) abgebaut habe, ergäbe sich eine Tatzeit-Blutalkoholkonzentration von 1,8 Promille.

2. Diese Ausführungen sind, worauf die Generalstaatsanwaltschaft zu Recht hinweist, nicht frei von Rechtsfehlern.

a) Anders als bei der Frage der Schuldfähigkeit ist zur Ermittlung der Fahrtüchtigkeit zugunsten des Täters die zur Tatzeit geringstmögliche Blutalkoholkonzentration zu berechnen (vgl. Fischer, StGB, 70. Aufl., § 316 Rn. 16).

aa) Eine Rück- oder Hochrechnung vom Blutproben-Mittelwert auf die Tatzeit-Blutalkoholkonzentration ist zur Ermittlung der Fahrtüchtigkeit grundsätzlich möglich, jedoch unter Berücksichtigung rechtsmedizinischer Erkenntnisse nur für die Zeit der im Anschluss an den Zeitpunkt der vollständigen Resorption beginnenden Abbauphase (st. Rspr., vgl. bereits BGH, Beschluss vom 11. Dezember 1973 – 4 StR 130/73 –, BGHSt 25, 246-252; BayObLG, Beschluss vom 29. November 1994 – 2St RR 212/94 –, juris Rn. 17). Will der Tatrichter rückrechnen, muss das Ende der Resorptionszeit (und somit das Trinkende) feststehen (BayObLG, Beschluss vom 2. Juli 2001 – 1St RR 68/01 –, juris Rn. 5; BayObLG, Beschluss vom 29. November 1994 – 2St RR 212/94 –, juris Rn. 17; König in: Leipziger Kommentar zum StGB, 13. Aufl. § 316 Rn. 30). Die Dauer der Resorptionsphase ist unter anderem von persönlichen konstitutionellen und dispositionellen Faktoren des Kraftfahrers, vor allem aber von der Trinkintensität (Alkoholmenge pro Zeiteinheit) während der Gesamttrinkzeit abhängig (BGH; Beschluss vom 11. Dezember 1973 – 4 StR 130/73 –, BGHSt 25, 246-252, juris Rn. 7). Die Resorption kann bis zu zwei Stunden dauern.

bb) Nach der gefestigten Rechtsprechung sind daher bei einem normalen Trinkverlauf ohne Hinzuziehung eines Sachverständigen bei der Berechnung der Tatzeit-Blutalkoholkonzentration die ersten beiden Stunden nach Trinkende grundsätzlich von der Rückrechnung auszunehmen (BGH, Beschluss vom 25. September 2006 – 4 StR 322/06 –, juris Rn. 4; BGH, Beschluss vom 11. Dezember 1973 – 4 StR 130/73 –, BGHSt 25, 246-252 juris Rn. 10; BayObLG, Beschluss vom 29. November 1994 – 2St RR 212/94 –, juris Rn. 17; König a.a.O. § 316 Rn. 30; Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke, Straßenverkehrsrecht, 27. Aufl. § 316 StGB Rn. 14; Fischer, a.a.O., § 316 Rn. 19). Will der Tatrichter in einem konkreten Fall aufgrund besonderer Anknüpfungstatsachen von dieser Zeitspanne der rückrechnungsfreien Zeit zum Nachteil des Angeklagten abweichen, bedarf es dazu in der Regel der Anhörung eines Sachverständigen (st. Rspr., vgl. BGH, Beschluss vom 11. Dezember 1973 – 4 StR 130/73 –, BGHSt 25, 246-252 juris Rn. 10). Der Umstand, dass eine zweite Blutentnahme einen niedrigeren Blutalkoholkonzentrations- Mittelwert ergeben hat, lässt hingegen keine Rückschlüsse auf die Resorptionsdauer zu (BayObLG, Beschluss vom 29. November 1994 – 2St RR 212/94 –, juris Rn. 22).

cc) Nach dem Resorptionsende darf nach den maßgeblichen forensisch-medizinischen Erkenntnissen bei der Rückrechnung (Hochrechnung) für die gesamte Dauer der Eliminationsphase nur ein gleichbleibender Stundenwert von 0,1 Promille angewendet werden. Dieser Wert stellt den statistisch gesicherten Mindestabbauwert dar, der jede Benachteiligung eines Kraftfahrers ausschließt und von dem ohne Hinzuziehung eines Sachverständigen nicht abgewichen werden darf (st. Rspr., vgl. BGH, Beschluss vom 11. Dezember 1973 – 4 StR 130/73 –, BGHSt 25, 246-252, juris Rn. 11; Hentschel/Krumm, Fahrerlaubnis-Alkohol-Drogen, 8. Aufl., Erster Teil A III Rn. 40; König a.a.O. Rn. 32, 33, 35). Aus der zweiten Blutprobe lässt sich nach rechtsmedizinischen Erkenntnissen kein individueller Abbauwert bestimmen (Eisenberg, Beweisrecht der StPO, 10. Aufl., Rn. 1850h; König a.a.O. Rn. 33).

b) Wird vom Angeklagten ein Nachtrunk behauptet, hat das Gericht – vor der Rückrechnung – zunächst zu prüfen, ob die Nachtrunkbehauptung als glaubhaft zu bewerten ist. Kann die Behauptung eines Nachtrunks nicht mit der erforderlichen Sicherheit widerlegt werden, so muss es klären, welche Alkoholmenge der Angeklagte maximal nach der Tat zu sich genommen haben kann (OLG Hamm, Beschluss vom 17. März 2009 – 5 Ss 71/09 –, juris Rn. 22). Geht der Tatrichter von Nachtrunk aus, wird die dem nach der Tat konsumierten Alkohol zuzuordnende Blutalkoholkonzentration in der Weise berechnet und in Ansatz gebracht, dass die Menge des „nachgetrunkenen“ Alkohols in Gramm durch das mit dem sogenannten Reduktionsfaktor multiplizierte Körpergewicht in Kilogramm geteilt wird (Widmark-Formel). Danach wird von diesem Wert das sogenannte Resorptionsdefizit abgezogen und ein möglicher Alkoholabbau nach Beginn des Nachtrunks berücksichtigt. Der dadurch ermittelte Wert wird anschließend von der mittels Blutprobe ermittelten Blutalkoholkonzentration abgezogen (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 17. März 2009 – 5 Ss 71/09 –, juris Rn. 22, 23; Fischer a.a.O. § 316 Rn. 19; Eisenberg a.a.O. Rn. 1850h). Bei der Berechnung des Nachtrunks ist zugunsten des Angeklagten mit dem nach medizinischen Erkenntnissen jeweils niedrigsten Abbauwert, Resorptionsdefizit und Reduktionsfaktor zu rechnen (OLG Hamm a.a.O. Rn. 23 m.w.N.; Eisenberg a.a.O.).

c) Das Tatgericht ist grundsätzlich verpflichtet, die Tatzeit-Blutalkoholkonzentration nachvollziehbar zu errechnen und im Urteil darzulegen (BGH, Urteil vom 30. Mai 1996 – 4 StR 109/96 –, juris Rn. 16; BayObLG, Beschluss vom 14. September 2000 – 5St RR 154/00 –, juris Rn. 9). Die Anknüpfungstatsachen für die Berechnung, nämlich Alkoholmenge, Körpergewicht, Trinkende, Mengenangaben und Messergebnisse sowie die der Berechnung zugrundeliegenden Rechnungswerte, also Resorptionsdefizit, Resorptionsfaktor und Abbaugeschwindigkeit sind dazu im Urteil wiederzugeben (BGH, Urteil vom 6. März 1986 – 4 StR 48/86 –, BGHSt 34, 29-34, juris; BayObLG, Beschluss vom 14. September 2000 – 5St RR 154/00 –, juris Rn. 9; Fischer a.a.O. § 20 Rn. 16; § 316 Rn. 16a; König a.a.O. Rn. 43).

d) Diesen Anforderungen der Rechtsprechung genügen die Ausführungen der Strafkammer nicht.

aa) Bereits die Annahme des Landgerichts, der Konsum von zwei Flaschen Bier hätte beim Angeklagten zu einer Blutalkoholkonzentration von 0,65 Promille geführt, ist für den Senat nicht nachzuvollziehen. Denn der Alkoholgehalt von Bier lässt sich nicht auf einen vertypten Wert festlegen. Vielmehr weist dieses Getränk je nach Marke und Brauart einen unterschiedlichen Alkoholgehalt auf, der allgemeinbekannt auch über 5 Volumenprozent liegen kann. Das Landgericht hätte zudem nicht auf Feststellungen zum Körpergewicht und zur Konstitution des Angeklagten verzichten dürfen.

bb) Wie das Landgericht zu der weiteren Annahme kommt, ungeachtet des Abzugs des Nachtrunks in Höhe von 0,65 Promille (2,03 Promille minus 0,65 Promille, also 1,38 Promille) führe die Zeitspanne von drei Stunden zwischen Fahrt und erster Blutentnahme bei „großzügiger Abrundung nach unten“ zu einer Tatzeit-Blutalkoholkonzentration von 1,8 Promille, leuchtet ebenfalls nicht ein. Sollte das Landgericht einen individuellen Abbauwert von stündlich 0,18 Promille auf drei Stunden (0,54 Promille) hochgerechnet, dem Wert von 1,38 Promille hinzugerechnet (1,92 Promille) und anschließend einen erneuten Sicherheitsabschlag von 0,12 Promille vorgenommen haben, hätte es übersehen, dass mangels Feststellungen zum Trinkende, zum Beginn und Ende des Nachtrunks und zum Trinkverlauf keine verlässliche Aussage zur Tatzeitalkoholisierung getroffen werden kann.

cc) Es kommt daher nicht mehr darauf an, dass auch die weitere Annahme des Landgerichts, es dürfe seiner Rückrechnung einen aus den zwei Blutentnahmen ableitbaren individuellen Abbauwert zu Grunde legen, den gesicherten forensischen Erkenntnissen widerspricht und sich somit ebenfalls als rechtsfehlerhaft erweist.“erständigen bedienen.

Lösung zu: Ich habe da mal eine Frage: Ich habe drei Nebenkläger vertreten, welche Gebühren?

© haru_natsu_kobo Fotolia.com

Am Freitag hatte ich gefragt: Ich habe da mal eine Frage: Ich habe drei Nebenkläger vertreten, welche Gebühren?  Und hier dann die Antwort:

„Moin,

wenn ich es richtig sehe, müsste das ein Fall der Nr. 1008 VV RVG sein, also Erhöhung der Verfahrensgebühr.

Mehr als GG, VG + 30 % + 30 % + TG gibt es nicht. Ich denke, dass Die Staatskasse GG, VG und TG gezahlt haben. Rest müsste dann die RSV zahlen.

Soll ich mal bei Herrn Volpert fragen?“

Und ich habe bei Herrn Volpert, meinem Co-Autor gefragt. Das mache ich, wenn es um Kostenfestsetzung immer 🙂 . Und hier dann seine, etwas abweichende Antwort:

„Moin,

weil es erst drei Ermittlungsverfahren bei der Polizei gab, war er in drei Angelegenheiten tätig.

Die Staatskasse hat für Ermittlungsverfahren A bezahlt. B und C müssten die dort angefallenen Gebühren selbst zahlen, die RSV springt ja erst für das gerichtliche Verfahren ein.

Im gerichtlichen Verfahren hat die Staatskasse GG, VG und TG gezahlt. Den Rest, das ist die Erhöhung VV 1008 bei der VG – richtigerweise wohl 60 % Erhöhung -, müsste dann die RSV zahlen.

Im Kostenfestsetzungsverfahren gegen den mittlerweile rechtskräftig Verurteilten müsste alles abgerechnet werden, also auch die drei Ermittlungsverfahren als eigene Angelegenheiten sowie im gerichtlichen Verfahren VG einschließlich Erhöhung. Anzurechnen auf den Erstattungsanspruch ist, was an Gebühren für Mdt. A aus der Staatskasse erhalten wurde.“

Mit den drei Angelegenheiten hat er wohl Recht.

Und ich verweise dann mal wieder auf <<Werbemodus an>> Burhoff/Volpert, Straf- und Bußgeldsache, 6. Aufl., 2021, den man hier bestellen kann. <<Werbemodus aus>>.