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Verkehrsrecht I: Glaubhafte Nachtrunkbehauptung?, oder: Abbauwert, Resorptionsdefizit, Reduktionsfaktor

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Ich habe länger keine Verkehrsrechtsentscheidungen mehr vorgestellt. Heute ist dann mal wieder ein „Verkehrsrechtstag“.

Ich beginne mit dem BayObLG, Beschl. v. 15.08.2023 – 203 StRR 317/23, der sich noch einmal mit der Nachtrunkproblematik befasst. AG und LG haben den Angeklagten wegen einer fahrlässigen Trunkenheit im Verkehr (§ 316 STGB) verurteilt. Dagegen die Revision, die – nach Wiedereinsetzung in die Revisionsbegründungsfrist – begründet war:

„Die Revision des Angeklagten hat Erfolg. Die Verurteilung wegen fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr (§ 316 Abs. 1 und 2 StGB) kann nicht bestehen bleiben. Die Annahme des Landgerichts, der Angeklagte sei zur Tatzeit infolge vorangegangenen Alkoholgenusses, welcher zu einer Blutalkoholkonzentration von mindestens 1,8 Promille geführt hätte, absolut fahruntüchtig gewesen, ist mit den Feststellungen im Urteil nicht in Einklang zu bringen. Die unzureichenden Angaben in den Urteilsgründen lassen entgegen der Rechtsauffassung der Generalstaatsanwaltschaft auch keine Korrekturberechnung zu.

1. Die Strafkammer ist von einer Tatzeit gegen 22.55 Uhr, zwei Blutentnahmen am Folgetag um 1.58 Uhr und 2.28 Uhr und von Blutalkoholkonzentrationswerten von 2,03 Promille (erste Probe) und 1,94 Promille (zweite Probe) ausgegangen. Sie hat zugunsten des Angeklagten unterstellt, er hätte nach der gegen 22.55 Uhr beendeten Fahrt „möglicherweise noch zwei Flaschen Bier“ getrunken. Ohne weitere Feststellungen zum Gebinde, zum Alkoholgehalt, zum Trinkbeginn, zum Trinkende, zum Beginn und zum Ende des Nachtrunks sowie zum Körpergewicht und zur Konstitution des Angeklagten hat die Strafkammer das Resümee gezogen, dieser Nachtrunk habe zu einer Erhöhung der Blutalkoholkonzentration von 0,65 Promille führen können. Da zwischen der Fahrt und der ersten Blutentnahme jedoch ein Zeitraum von drei Stunden liegen würde und der Angeklagte halbstündlich „0,9“ Promille (gemeint ist wohl 0,09 Promille) abgebaut habe, ergäbe sich eine Tatzeit-Blutalkoholkonzentration von 1,8 Promille.

2. Diese Ausführungen sind, worauf die Generalstaatsanwaltschaft zu Recht hinweist, nicht frei von Rechtsfehlern.

a) Anders als bei der Frage der Schuldfähigkeit ist zur Ermittlung der Fahrtüchtigkeit zugunsten des Täters die zur Tatzeit geringstmögliche Blutalkoholkonzentration zu berechnen (vgl. Fischer, StGB, 70. Aufl., § 316 Rn. 16).

aa) Eine Rück- oder Hochrechnung vom Blutproben-Mittelwert auf die Tatzeit-Blutalkoholkonzentration ist zur Ermittlung der Fahrtüchtigkeit grundsätzlich möglich, jedoch unter Berücksichtigung rechtsmedizinischer Erkenntnisse nur für die Zeit der im Anschluss an den Zeitpunkt der vollständigen Resorption beginnenden Abbauphase (st. Rspr., vgl. bereits BGH, Beschluss vom 11. Dezember 1973 – 4 StR 130/73 –, BGHSt 25, 246-252; BayObLG, Beschluss vom 29. November 1994 – 2St RR 212/94 –, juris Rn. 17). Will der Tatrichter rückrechnen, muss das Ende der Resorptionszeit (und somit das Trinkende) feststehen (BayObLG, Beschluss vom 2. Juli 2001 – 1St RR 68/01 –, juris Rn. 5; BayObLG, Beschluss vom 29. November 1994 – 2St RR 212/94 –, juris Rn. 17; König in: Leipziger Kommentar zum StGB, 13. Aufl. § 316 Rn. 30). Die Dauer der Resorptionsphase ist unter anderem von persönlichen konstitutionellen und dispositionellen Faktoren des Kraftfahrers, vor allem aber von der Trinkintensität (Alkoholmenge pro Zeiteinheit) während der Gesamttrinkzeit abhängig (BGH; Beschluss vom 11. Dezember 1973 – 4 StR 130/73 –, BGHSt 25, 246-252, juris Rn. 7). Die Resorption kann bis zu zwei Stunden dauern.

bb) Nach der gefestigten Rechtsprechung sind daher bei einem normalen Trinkverlauf ohne Hinzuziehung eines Sachverständigen bei der Berechnung der Tatzeit-Blutalkoholkonzentration die ersten beiden Stunden nach Trinkende grundsätzlich von der Rückrechnung auszunehmen (BGH, Beschluss vom 25. September 2006 – 4 StR 322/06 –, juris Rn. 4; BGH, Beschluss vom 11. Dezember 1973 – 4 StR 130/73 –, BGHSt 25, 246-252 juris Rn. 10; BayObLG, Beschluss vom 29. November 1994 – 2St RR 212/94 –, juris Rn. 17; König a.a.O. § 316 Rn. 30; Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke, Straßenverkehrsrecht, 27. Aufl. § 316 StGB Rn. 14; Fischer, a.a.O., § 316 Rn. 19). Will der Tatrichter in einem konkreten Fall aufgrund besonderer Anknüpfungstatsachen von dieser Zeitspanne der rückrechnungsfreien Zeit zum Nachteil des Angeklagten abweichen, bedarf es dazu in der Regel der Anhörung eines Sachverständigen (st. Rspr., vgl. BGH, Beschluss vom 11. Dezember 1973 – 4 StR 130/73 –, BGHSt 25, 246-252 juris Rn. 10). Der Umstand, dass eine zweite Blutentnahme einen niedrigeren Blutalkoholkonzentrations- Mittelwert ergeben hat, lässt hingegen keine Rückschlüsse auf die Resorptionsdauer zu (BayObLG, Beschluss vom 29. November 1994 – 2St RR 212/94 –, juris Rn. 22).

cc) Nach dem Resorptionsende darf nach den maßgeblichen forensisch-medizinischen Erkenntnissen bei der Rückrechnung (Hochrechnung) für die gesamte Dauer der Eliminationsphase nur ein gleichbleibender Stundenwert von 0,1 Promille angewendet werden. Dieser Wert stellt den statistisch gesicherten Mindestabbauwert dar, der jede Benachteiligung eines Kraftfahrers ausschließt und von dem ohne Hinzuziehung eines Sachverständigen nicht abgewichen werden darf (st. Rspr., vgl. BGH, Beschluss vom 11. Dezember 1973 – 4 StR 130/73 –, BGHSt 25, 246-252, juris Rn. 11; Hentschel/Krumm, Fahrerlaubnis-Alkohol-Drogen, 8. Aufl., Erster Teil A III Rn. 40; König a.a.O. Rn. 32, 33, 35). Aus der zweiten Blutprobe lässt sich nach rechtsmedizinischen Erkenntnissen kein individueller Abbauwert bestimmen (Eisenberg, Beweisrecht der StPO, 10. Aufl., Rn. 1850h; König a.a.O. Rn. 33).

b) Wird vom Angeklagten ein Nachtrunk behauptet, hat das Gericht – vor der Rückrechnung – zunächst zu prüfen, ob die Nachtrunkbehauptung als glaubhaft zu bewerten ist. Kann die Behauptung eines Nachtrunks nicht mit der erforderlichen Sicherheit widerlegt werden, so muss es klären, welche Alkoholmenge der Angeklagte maximal nach der Tat zu sich genommen haben kann (OLG Hamm, Beschluss vom 17. März 2009 – 5 Ss 71/09 –, juris Rn. 22). Geht der Tatrichter von Nachtrunk aus, wird die dem nach der Tat konsumierten Alkohol zuzuordnende Blutalkoholkonzentration in der Weise berechnet und in Ansatz gebracht, dass die Menge des „nachgetrunkenen“ Alkohols in Gramm durch das mit dem sogenannten Reduktionsfaktor multiplizierte Körpergewicht in Kilogramm geteilt wird (Widmark-Formel). Danach wird von diesem Wert das sogenannte Resorptionsdefizit abgezogen und ein möglicher Alkoholabbau nach Beginn des Nachtrunks berücksichtigt. Der dadurch ermittelte Wert wird anschließend von der mittels Blutprobe ermittelten Blutalkoholkonzentration abgezogen (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 17. März 2009 – 5 Ss 71/09 –, juris Rn. 22, 23; Fischer a.a.O. § 316 Rn. 19; Eisenberg a.a.O. Rn. 1850h). Bei der Berechnung des Nachtrunks ist zugunsten des Angeklagten mit dem nach medizinischen Erkenntnissen jeweils niedrigsten Abbauwert, Resorptionsdefizit und Reduktionsfaktor zu rechnen (OLG Hamm a.a.O. Rn. 23 m.w.N.; Eisenberg a.a.O.).

c) Das Tatgericht ist grundsätzlich verpflichtet, die Tatzeit-Blutalkoholkonzentration nachvollziehbar zu errechnen und im Urteil darzulegen (BGH, Urteil vom 30. Mai 1996 – 4 StR 109/96 –, juris Rn. 16; BayObLG, Beschluss vom 14. September 2000 – 5St RR 154/00 –, juris Rn. 9). Die Anknüpfungstatsachen für die Berechnung, nämlich Alkoholmenge, Körpergewicht, Trinkende, Mengenangaben und Messergebnisse sowie die der Berechnung zugrundeliegenden Rechnungswerte, also Resorptionsdefizit, Resorptionsfaktor und Abbaugeschwindigkeit sind dazu im Urteil wiederzugeben (BGH, Urteil vom 6. März 1986 – 4 StR 48/86 –, BGHSt 34, 29-34, juris; BayObLG, Beschluss vom 14. September 2000 – 5St RR 154/00 –, juris Rn. 9; Fischer a.a.O. § 20 Rn. 16; § 316 Rn. 16a; König a.a.O. Rn. 43).

d) Diesen Anforderungen der Rechtsprechung genügen die Ausführungen der Strafkammer nicht.

aa) Bereits die Annahme des Landgerichts, der Konsum von zwei Flaschen Bier hätte beim Angeklagten zu einer Blutalkoholkonzentration von 0,65 Promille geführt, ist für den Senat nicht nachzuvollziehen. Denn der Alkoholgehalt von Bier lässt sich nicht auf einen vertypten Wert festlegen. Vielmehr weist dieses Getränk je nach Marke und Brauart einen unterschiedlichen Alkoholgehalt auf, der allgemeinbekannt auch über 5 Volumenprozent liegen kann. Das Landgericht hätte zudem nicht auf Feststellungen zum Körpergewicht und zur Konstitution des Angeklagten verzichten dürfen.

bb) Wie das Landgericht zu der weiteren Annahme kommt, ungeachtet des Abzugs des Nachtrunks in Höhe von 0,65 Promille (2,03 Promille minus 0,65 Promille, also 1,38 Promille) führe die Zeitspanne von drei Stunden zwischen Fahrt und erster Blutentnahme bei „großzügiger Abrundung nach unten“ zu einer Tatzeit-Blutalkoholkonzentration von 1,8 Promille, leuchtet ebenfalls nicht ein. Sollte das Landgericht einen individuellen Abbauwert von stündlich 0,18 Promille auf drei Stunden (0,54 Promille) hochgerechnet, dem Wert von 1,38 Promille hinzugerechnet (1,92 Promille) und anschließend einen erneuten Sicherheitsabschlag von 0,12 Promille vorgenommen haben, hätte es übersehen, dass mangels Feststellungen zum Trinkende, zum Beginn und Ende des Nachtrunks und zum Trinkverlauf keine verlässliche Aussage zur Tatzeitalkoholisierung getroffen werden kann.

cc) Es kommt daher nicht mehr darauf an, dass auch die weitere Annahme des Landgerichts, es dürfe seiner Rückrechnung einen aus den zwei Blutentnahmen ableitbaren individuellen Abbauwert zu Grunde legen, den gesicherten forensischen Erkenntnissen widerspricht und sich somit ebenfalls als rechtsfehlerhaft erweist.“erständigen bedienen.