Archiv für den Monat: Oktober 2023

StPO III: Mal wieder zum Klageerzwingungsverfahren, oder: Notanwalt und erneuter Antrag

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Und zum Tagesschluss dann mal wieder ezwas zum Klageerzwingungsverfahren (§§ 172 ff. StPO).

Das OLG Frankfurt am Main hat im OLG Frankfurt am Main, Beschl. v. 10.10.2023 – 7 Ws 148/23 – zu zwei Fragen dazu Stellung genommen, und zwar zur Beiordnung eines Notanwalts und zum wiederholter Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach §§ 172 ff. StPO. Das OLG hat den Antrag auf Beiordnung eines Notanwalts zurückgewiesen:

„Die Beiordnung eines sogenannten Notanwalts ist im Klageerzwingungsverfahren grundsätzlich unzulässig (ständige Rechtsprechung des OLG Frankfurt am Main, vgl. z.B. Beschluss vom 15. Februar 2023 – 7 Ws 23/23 = BeckRS 2023, 5527). Ein Antragsteller, der die Kosten für einen Rechtsanwalt nicht aufbringen kann, erhält Prozesskostenhilfe, wenn der Klagerzwingungsantrag hinreichende Aussicht auf Erfolg hat (§ 172 Abs. 2 S. 2 StPO, § 114 ZPO). Für die denkbaren, wenn auch seltenen Fälle, in denen das Klageerzwingungsverfahren aussichtsreich erscheint und sich gleichwohl ein vertretungsbereiter Anwalt nicht finden lässt, kann die Beiordnung eines Notanwalts in entsprechender Anwendung von § 78b ZPO in Betracht kommen. Dies setzt allerdings voraus, dass der Antragsteller darlegt und glaubhaft macht, welche erfolglosen Bemühungen er entfaltet hat, um die Übernahme des Mandats durch einen Rechtsanwalt zu erreichen (vgl. OLG Frankfurt am Main, Beschluss vom 23. Februar 2023 – 7 Ws 288/22 und Beschluss vom 15. Februar 2023 – 7 Ws 23/23, a.a.O.). Außerdem muss sich aus seinem Vortrag ohne Beiziehung der Akten ergeben, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung nicht mutwillig oder aussichtslos erscheint (OLG Frankfurt am Main, Beschluss vom 17. Januar 2019 – 3 Ws 1036/18; OLG Bamberg, Beschluss vom 7. Mai 2007 – 3 Ws 113/06 = NJW 2007, 2274). Beide Voraussetzungen sind vorliegend nicht erfüllt.

1. In Bezug auf die von dem Antragsteller angestellten Bemühungen, einen zur Vertretung bereite Rechtsanwältin oder einen solchen Rechtsanwalt zu finden, fehlt es bereits an einer aus sich heraus nachvollziehbaren Darlegung in der Antragsschrift, bei welchen Rechtsanwälten und in welcher Art und Weise er Nachfrage gehalten hat. Insbesondere genügt es nicht, lediglich auf die dem Antrag beigefügte E-Mail-Korrespondenz zu verweisen und erst recht ist es nicht ausreichend, diese E-Mail-Korrespondenz beschränkt auf die Antwortschreiben der Rechtsanwälte beizufügen, bleibt auf diese Weise doch im Dunklen, ob sich die Anfrage des Antragstellers überhaupt auf den hier in Rede stehenden Sachverhalt bezogen hat. Hinzu kommt vorliegend, dass der Antragsteller in der Antragsschrift sogar dargelegt hat, „weitere Strafrechtler“ gefunden zu haben, die sich mit der Übernahme der Angelegenheit bereit erklärt hätten. Insofern hätte der Antragsteller darlegen müssen, dass diese dem Grunde nach zu einer Mandatsübernahme bereiten Rechtsanwälte – sofern er finanziell nicht zur Zahlung des Honorars in der Lage ist – ein Tätigwerden auf der Basis der gesetzlichen Gebühren ausgeschlossen haben. Der pauschale Verweis in der Antragsschrift, dass sich ein Rechtsanwalt, „der die Sache zu den gesetzlichen Gebühren vertreten wollte, […] auch im Rahmen einer fortgesetzten Suche gar nicht gefunden [hat]“, genügt dem Darlegungserfordernis nicht.

2. Darüber hinaus verspricht der von dem Antragsteller anvisierte Antrag auf gerichtliche Entscheidung von vornherein keinen Erfolg. Soweit man den Antrag des Antragstellers in seiner Antragsschrift vom 25. Juni 2023, der ausdrücklich als „Antrag auf Beiordnung eines Notanwalts im Klageerzwingungsverfahren als Folgeverfahren zu 1 Ws 132/12“, bezeichnet ist, mit Blick auf die behauptete Fehlerhaftigkeit der vormaligen Entscheidung als Antrag auf erneute Bescheidung versteht, ist der Rechtsbehelf aufgrund der Entscheidung des 1. Strafsenats vom 16. Oktober 2013 unter dem vorgenannten Aktenzeichen grundsätzlich bereits verbraucht. Ein neuerlicher Klageerzwingungsantrag ist nur dann statthaft, wenn der Antragsteller unter Einhaltung der sich aus §§ 172 ff. StPO ergebenden Formerfordernisse neue Tatsachen und/oder Beweismittel vorbringt, die die tragenden Gründe der Vorentscheidung in einem Maße erschüttern, dass nunmehr ein hinreichender Tatverdacht gegeben ist (OLG Frankfurt am Main, Beschluss vom 22. Juli 2023 – 3 Ws 751/03 = BeckRS 2003, 268; OLG Köln, Beschluss vom 14. Februar 2003 – 1 Zs 1656/02 = NStZ 2003, 682).

Die Antragsschrift vom 25. Juni 2023 wird diesen Formerfordernissen – auch unter Berücksichtigung des Schreibens vom 2. September 2023 – nicht gerecht. So werden nicht einmal der oder die Namen des bzw. der Antragsgegner genannt, es fehlt an einer in sich geschlossenen Darstellung zu dem behaupteten strafrechtlich relevanten Vorwurf, die dem Senat auch ohne Heranziehung der Akten eine Prüfung des Sachverhalts ermöglicht, und erst recht lässt sich den Schreiben des Antragstellers nicht entnehmen, dass sich seit der Entscheidung des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main im Jahre 2013 neue Tatsachen oder Beweismittel ergeben hätten.

3. Soweit die Ausführungen des Antragstellers in der Antragsschrift vom 25. Juni 2023 dahin zu verstehen sind, dass sich der Antrag auf gerichtliche Entscheidung gegen das die künftige Bescheidung von Anträgen versagende Schreiben der Staatsanwaltschaft Fulda vom 26. September 2022 richtet, hätte dieser schon deshalb keinen Erfolg, weil es sich hierbei nicht um einen Verwerfungsbescheid im Sinne von § 172 Abs. 2 StPO handelt. Gegen andere Entscheidungen der (General-)Staatsanwaltschaft, wie etwa auch dienstaufsichtsrechtlichen Entscheidungen ist der Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach § 172 StPO nicht statthaft (vgl. OLG Frankfurt am Main, Beschluss vom 21. September 2023 – 7 Ws 19/23 m.w.N).“

StPO II: Augenscheinseinnahme ohne Beteiligte, oder: Besorgnis der Befangenheit

Und als zweite Entscheidung dann der AG Schwerin, Beschl. v. 25.10.2023 – 259 Js 17643/23 OWi. Er stammt zwar aus dem Bußgeldverfahren, aber in der Entscheidung geht es um eine StPO-Frage. Nämlich. Besorgnis der Befangenheit (§ 24 StPO).

Das AG geht von Befangenheit des entscheidenden Richters aus – der Sachverhalt ergibt sich aus den Beschlussgründen:

„Der Befangenheitsantrag gegen den abgelehnten Richter vom 11.10.2023 ist zulässig, insbesondere unverzüglich gem. §§ 46 Abs. 1 OWiG i.V.m. 25 Abs. 2 StPO gestellt.

Zwar hat der Verteidiger des Betroffenen das Ablehnungsgesuch nicht unmittelbar nach dem Hinweis des abgelehnten Richters im Hauptverhandlungstermin am 11.10.2023, dass er sich am Vortag zur Vorbereitung auf die Hauptverhandlung zur Messstelle begeben, ein Foto von der Messstelle gefertigt und von den zufällig dort anwesenden Messbeamten pp. und pp. den genauen Aufstellungsort des Messgerätes erfahren habe, sondern erst nach Durchführung der zeugenschaftlichen Vernehmung der Zeugen pp. und sowie Inaugenscheinsnahme des vom abgelehnten Richter am Vorabend von der Messstelle gefertigten Fotos gestellt. Gleichwohl geht das Gericht von der Rechtzeitigkeit des Antrags aus, da dieser noch innerhalb des Hauptverhandlungstermins am 11.10.2023 unmittelbar nach Erörterung der Sach- und Rechtslage gestellt worden ist, zu einem Zeitpunkt als, wie sich aus der Erklärung des Verteidigers vom 17.10.2023 zur Stellungnahme des abgelehnten Richters vorn 11.10.2023 ergibt, gerade mit Blick auf die Erklärungen des Zeugen pp.. zur Messskizze und den „neuen“ örtlichen Gegebenheiten – jedenfalls für diesen Zweifel an einem Tatnachweis ergeben hatten.

Der Ablehnungsantrag ist auch begründet.

Das Vorliegen eines Ablehnungsgrundes gem. § 24 Abs. 1 und 2 StPO ist grundsätzlich vom Standpunkt eines vernünftigen bzw. verständigen Ablehnenden aus zu beurteilen, ohne dass es darauf ankommt, ob der Richter tatsächlich parteiisch oder befangen ist. Solcherlei ist anzunehmen, wenn der Ablehnende bei verständiger Würdigung des ihm bekannten Sachverhalts Grund zu der Annahme hat, dass der abgelehnte Richter ihm gegenüber eine innere Haltung einnimmt, die seine Unparteilichkeit und Unvoreingenommenheit störend beeinflussen kann. Dass dies vorliegend anzunehmen ist, ergibt sich aus Folgendem:

Der abgelehnte Richter hat hier zwischen zwei Sitzungstagen die Örtlichkeit einer Geschwindigkeitsmessung in Augenschein genommen und die zufällig dort anwesenden Zeugen des Verfahrens pp. und pp. 1 (jedenfalls) zum Standort des Messgerätes befragt. Diese Verhaltensweise lässt den Schluss zu, der abgelehnte Richter halte eine solche Ortsbesichtigung/ Befragung von Zeugen im Rahmen seiner Aufklärungspflicht für seine Entscheidungsfindung für erforderlich. In einem solchen Fall, gleich ob innerhalb oder außerhalb der Hauptverhandlung wäre es strafprozessual jedoch erforderlich gewesen, die lnaugenscheinsnahme/ Ortsbesichtigung und Vernehmung/Befragung von Zeugen vorab sämtlichen Prozessbeteiligten mitzuteilen (vgl. da-zu die Regelungen der §§ 46 Abs. 1 OWiG i.V.m. 86, 162, 165, 168 d Abs. 1 i.V.m § 168 c Abs. 5 S. 1, 225, 224 StPO). Im konkreten Fall hat der abgelehnte Richter ohne Rücksicht auf die vorgenannten strafprozessualen Regelungen allein für sich die Möglichkeit eröffnet, unter Ausschluss des Betroffenen und seines Verteidigers die Messörtlichkeit in Augenschein zu nehmen und die Vernehmung/Befragung von Zeugen des Verfahrens durchzuführen. Dieses prozessuale Vorgehen kann für eine Prozesspartei bei vernünftiger Würdigung den Eindruck einseitiger Verfahrensführung erzeugen und begründen.

Die nachträgliche dienstliche Stellungnahme des abgelehnten Richters entkräftet nach Wertung des Gerichts den Anschein der Voreingenommenheit nicht. Diese lässt nicht erkennen, dass sich der abgelehnte Richter mit der zentralen Frage der Anwesenheitsrechte von Prozessbeteiligten bei richterlichen „Ermittlungshandlungen“ inhaltlich auseinandergesetzt hat. Die Äußerung, er habe – auch ohne Mitteilung an die Prozessbeteiligten – ein „Recht“… „ im Rahmen des Amtsermittlungsgrundsatzes die Örtlichkeit einer Messung vor Durchführung einer Hauptverhandlung anzuschauen“, und der (erneute) Hinweis darauf, dass er die Zeugen zufällig dort angetroffen habe, wodurch offensichtlich die Befragung der Messbeamten gerechtfertigt werden soll, geben vielmehr auch weiterhin für eine Prozesspartei bei vernünftiger Würdigung ausreichend Anlass, an der Unvoreingenommenheit des abgelehnten Richters zu zweifeln.

News: BVerfG kippt Reform der Wiederaufnahme, oder: Nach Freispruch keine Wiederaufnahme zuungunsten

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Gerade laufen die Nachrichten zum BVerfG. Urt. v. 31.10.2023 – 2 BvR 900/22 – über die Ticker. Das ist das Urteil des BVerfG zur Frage der Wiederaufnahme zuungunsten des Freigesprochen (also § 362 Nr. 5 StPO). Das BVerfG hat, was mich nicht so sehr überrascht, die „Reform gekippt.

Hier dazu die PM: „Die gesetzliche Regelung zur Wiederaufnahme des Strafverfahrens zuungunsten des Freigesprochenen in § 362 Nr. 5 StPO ist verfassungswidrig“

Mam muss das Urteil dann mal in Ruhe lesen …..

StPO I: Akteneinsicht der Verletzten/Nebenklägerin, oder: Wann ist der Untersuchungszweck gefährdet?

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Und heute am letzten Oktobertag – hier in Niedersachsen ist Feiertag – ein wenig StPO.

Ich beginne mit dem OLG Brandenburg, Beschl. v. 13.09.2023 – 1 Ws 141/23 – zur Akteneinsicht des Verletzten. Ergangen ist der Beschluss in einem Verfahren, in dem dem Angeschuldigten vorgeworfen wird, zum Nachteil der Nebenklägerin im Zeitraum vom Januar 2019 bis Ende November 2019 in zehn Fällen eine Vergewaltigung, jeweils in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung, begangen zu haben. Bei der Geschädigten handelt es sich um die Ehefrau des Angeschuldigten. Über die Eröffnung des Hauptverfahrens ist noch nicht entschieden.

Die Geschädigte hat ihren Anschluss als Nebenklägerin erklärt. Das Amtsgericht hat ihr gem. § 406h StPO einen Verletztenbeistand bestellt. Der hat Akteneinsicht beantragt. Die als Verletztenbeistand tätige Rechtsanwältin hat erklärt, sie werde nach Absprache mit der Verletzten dieser weder die Akte samt Gutachten zur Verfügung stellen noch ihr Inhalte zur Kenntnis geben. Akteneinsicht ist bewilligt worden, allerdings ist deren tatsächliche Gewährung für den Fall der Beschwerdeerhebung bis zur Entscheidung des Beschwerdegerichtes zurückgestellt worden. Über die Beschwerde hat nun das OLG entschieden. Sie hatte in der Sache keinen Erfolg:

„a) Die Verletzte hat gemäß § 406 e Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit Satz 2 StPO über ihre Rechtsanwältin auch ohne Darlegung eines berechtigten Interesses einen Anspruch auf umfassende Einsicht in die Verfahrensakten, denn es liegt ein in § 395 StPO genannter Fall vor. Die Verletzte ist laut der Anklage vom 13. April 2023 durch rechtswidrige Taten nach §§ 177 und 223 StGB verletzt, so dass sie sich nach § 395 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 3 StPO der öffentlichen Klage mit der Nebenklage anschließen kann. Es steht lediglich die Entscheidung des Gerichtes über die Befugnis zum Anschluss aus.

b) Es ist nicht zu beanstanden, dass der stellvertretende Vorsitzende der Strafkammer die beantragte Akteneinsicht gewährt und nicht nach § 406 e Abs. 2 StPO abgelehnt hat.

aa) Nach § 406 e Abs. 2 Satz 1 StPO ist die Einsicht in die Akten zu versagen, soweit überwiegende schutzwürdige Interessen des Beschuldigten oder anderer Personen entgegenstehen. Bei der Entscheidung über die Gewährung von Akteneinsicht sind daher die Interessen der Betroffenen gegeneinander abzuwägen. Vorliegend sind bei der Abwägung insbesondere die Schwere der gegen den Angeschuldigten erhobenen Tatvorwürfe und der Umstand zu berücksichtigen, dass angesichts der Erhebung der öffentlichen Klage ein erheblicher Verdachtsgrad gegen ihn besteht. Hiernach kommt dem Interesse der mutmaßlichen Verletzten und künftigen Nebenklägerin, den vollständigen Akteninhalt kennenzulernen, ein hohes Gewicht zu. Besonders sensible Daten des Angeschuldigten, wie sie etwa in medizinischen oder psychiatrischen Gutachten enthalten sein können, sind vorliegend nicht Aktenbestandteil; der den Angeschuldigten betreffende Auszug aus dem Bundeszentralregister enthält einige Eintragungen bezüglich Vorstrafen sowie Suchvermerke, allerdings wird er ohnehin im Falle der Eröffnung des Hauptverfahrens Gegenstand der mündlichen Erörterung in der Hauptverhandlung. Soweit Zeugen genannt sind, enthält die Akte keine sensiblen Daten, die über die Schilderung der dem Angeschuldigten zur Last gelegten Straftaten hinausgehen.

bb) Ein Versagungsgrund nach § 406 e Abs. 2 Satz 2 StPO besteht ebenso wenig. Nach dieser Vorschrift kann dem Berechtigten die Akteneinsicht versagt werden, soweit der Untersuchungszweck gefährdet erscheint. Eine Gefährdung des Untersuchungszwecks kann angenommen werden, wenn zu befürchten ist, dass bei Gewährung der Akteneinsicht die Sachaufklärung beeinträchtigt wird, weil etwa – wie hier vom Verteidiger insbesondere im Hinblick auf das erstellte aussagepsychologische Gutachten geltend gemacht – die Kenntnis der Verletzten vom Akteninhalt die Zuverlässigkeit und den Wahrheitsgehalt einer von ihr noch zu erwartenden Zeugenaussage beeinträchtigen kann (vgl. KG, NStZ 2016, 438; OLG Braunschweig, NStZ 2016, 629). Allein die Rolle der Verletzten als Zeugin in dem anhängigen Strafverfahren und die deshalb durch das Akteneinsichtsrecht grundsätzlich eröffnete Möglichkeit einer „Präparierung“ ihrer Aussage anhand des Akteninhalts reicht für eine Versagung der Akteneinsicht nicht aus (vgl. Beschluss des Senates vom 06. Juli 2020, Az.: 1 Ws 81/20; Hanseatisches OLG Hamburg, NStZ 2015, 105). Denn zum einen geht mit der Wahrnehmung des gesetzlich eingeräumten Akteneinsichtsrechts nicht typischerweise eine Entwertung des Realitätskriteriums der Aussagekonstanz einher (vgl. BGH, NStZ 2016, 367; OLG Braunschweig NStZ 2016, 629). Zum anderen würde durch die generalisierende Annahme, dass mit der Akteneinsicht durch den Verletztenbeistand die Glaubhaftigkeit der Angaben eines Verletzten stets in besonderer Weise in Zweifel zu ziehen sei, seine freie Entscheidung, Akteneinsicht zu beantragen, beeinträchtigt werden; gerade denjenigen, die Opfer einer Straftat geworden sind, würden damit die Schutzfunktionen der §§ 406 d f. StPO entzogen (vgl. BGH, a.a.O.; der Senat a.a.O.; KG, NStZ 2016, 438; KG, Beschluss vom 21. November 2018, Az.: 3 Ws 278/18, juris; OLG Düsseldorf, StV 1991, 202).

Auch unter Berücksichtigung der vorliegenden Aussagekonstellation erscheint die Annahme eines geringen Grades der Gefährdung des Grundsatzes der Wahrheitsermittlung angesichts der von der als Verletzenbeistand tätigen Rechtsanwältin abgegebenen Zusicherung, ihrer Mandantin weder die Akte samt Gutachten zur Verfügung zu stellen noch ihr Inhalte zur Kenntnis zu geben, und der möglichen Vernehmung der Verletzten als Zeugin zu dieser Frage nicht ermessensfehlerhaft (vgl. der Senat a.a.O.; OLG Braunschweig, a.a.O.). Der Senat geht davon aus, dass Rechtsanwältin („Name 02“) als erfahrene Vertreterin der Nebenklage mit den erhöhten Anforderungen des Bundesgerichtshofes an die tatrichterliche Beweiswürdigung vertraut ist, wie sie in einer Aussage-gegen-Aussage-Konstellation auch in Bezug auf die Bedeutung der Konstanzanalyse gelten, und infolgedessen auch bemüht sein wird, den Beweiswert der Aussage ihrer Mandantin nicht zu reduzieren.

Zwar ist dem Beschwerdeführer insoweit zuzustimmen, dass die Einhaltung einer solchen Zusage weder erzwungen noch sanktioniert werden könnte. Die Einhaltung der Verzichtserklärung ist indes für das Tatgericht überprüfbar. Denn es kann und muss die Verletzte als Zeugin befragen. Anders als der Angeschuldigte, später möglicherweise der Angeklagte, ist die Verletzte und künftige Nebenklägerin als Zeugin zur Wahrheit verpflichtet und muss für den Fall einer Lüge mit einer erheblichen Strafe rechnen. Eine „Präpararation“ durch ihren Beistand anhand der aus der Akte gewonnenen Erkenntnissen, insbesondere des erstellten aussagepsychologischen Gutachtens dürfte einer erfahrenen Vernehmungsperson, zu denen Strafrichter zu zählen sind, in aller Regel nicht verborgen bleiben. Die mögliche Aktenkenntnis der künftigen Zeugin kann hiernach bei der Beweiswürdigung – soweit erforderlich – berücksichtigt werden (vgl. BGH, NJW 2005, 1519). Dabei dürfte es sich im Ergebnis eher zu Gunsten als zu Lasten des Angeklagten auswirken, wenn eine festgestellte Konstanz in der Aussage der Verletzten wegen einer vorherigen Akteneinsicht an Wert für die Beurteilung ihrer Angaben als richtig verliert.

c) Eine Versagung der Akteneinsicht nach § 406 e Abs. 2 Satz 3 StPO wegen drohender erheblicher Verfahrensverzögerung kommt ersichtlich nicht in Betracht.“

Lösung zu: Ich habe da mal eine Frage: Neues oder altes Recht?

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Am Freitag hatte ich gefragt: Ich habe da mal eine Frage: Neues oder altes Recht?

Meine Antwort:

„Antwort dürfte sich aus dem Gesetz ergeben. § 60 Abs. 1 Satz 4 RVG und dazu Volpert StraFo 2021, 194, 195:

Anknüpfungspunkt ist der Begriff der Angelegenheit. Der zweite Rechtsgang nach Zurückverweisung ist eine neue Angelegenheit (für einen ähnlichen Fall betreffend Berufung- und Revision AG Korbach, Beschl. v. 09.10.2023 – 41 Ls – 4750 Js 20444/19).“

Und dann mal wieder <<Werbemodus an>> Die Fragen sind ausführlich auch behandelt in Burhoff/Volpert, RVG Straf- und Bußgeldsachen, 6. Aufl. 2021, § 60 f., den man hier bestellen kann.<<Werbemodus aus>>.