Archiv für den Monat: Mai 2021

Wiedereinsetzung II: Nachholung von Verfahrensrügen, oder: Nur ganz ausnahmsweise

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Die zweite Entscheidung, der BGH, Beschl. v.14.01.2021 – 1 StR 242/20 – befasst sich auch noch einmal mit der Nachholung von Verfahrensrüge und zeitg sehr schön auf: Die Möglichkeit gibt es in der Regel nicht:

„1. Der Antrag des Angeklagten D. auf Wiedereinsetzung in die Frist zur Begründung der Revision hinsichtlich der Verfahrensrüge nach § 338 Nr. 5 StPO hat keinen Erfolg.

a) Dem Wiedereinsetzungsantrag liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:

Dem Angeklagten D. wurde die Anklageschrift vom 20. Dezember 2018 unter der darin genannten c/o-Anschrift im Wege der Ersatzzustellung am 19. Januar 2019 zugestellt (vgl. Postzustellungsurkunde, Bd. XVII, Bl. 120). Mit Schreiben vom 28. August 2019 wurde er zur Hauptverhandlung am 8. Oktober 2019 sowie zu den Fortsetzungsterminen geladen und gleichzeitig auf die Folgen seines Ausbleibens gemäß § 231 Abs. 2 StPO hingewiesen. Auf der Ladungsverfügung des Vorsitzenden vom 27. August 2019 ist handschriftlich vermerkt, dass ein Ladungsheft angelegt ist (Bd. XVIII, Bl. 101, 104); allein darin sind die Ladungen sowie die zugehörigen Postzustellungsurkunden und Empfangsbekenntnisse abgelegt. Die Ladung wurde dem Angeklagten am 30. August 2019 unter der aktenkundigen c/o-Anschrift im Wege der Ersatzzustellung zugestellt (vgl. Postzustellungsurkunde, Ladungsheft Bl. 20). Der Angeklagte, der zuvor zu allen Hauptverhandlungsterminen erschienen war, blieb dem letzten Hauptverhandlungstermin am 18. November 2019 unentschuldigt fern. Dessen ungeachtet setzte die Kammer die Beweisaufnahme fort und führte die Hauptverhandlung an diesem Tag zu Ende.

Mit Schriftsatz vom 25. November 2019 legte der Verteidiger des Angeklagten D. Revision ein und begründete diese am 23. März 2020 unter anderem mit der Rüge eines Verfahrensverstoßes gegen § 230 Abs. 1, § 231 Abs. 2 StPO (§ 338 Nr. 5 StPO). Insoweit macht er geltend, der Angeklagte D. , der seit drei Jahren in Ägypten lebe, habe keine Ladung zum Verhandlungstermin am 18. November 2019 erhalten; nur ihm, dem Verteidiger, sei eine Ladung zu diesem Termin zugestellt worden, in der allerdings ein Hinweis nach § 231 Abs. 2 StPO gefehlt habe.

Nach Hinweis der Berichterstatterin auf Bedenken hinsichtlich der Zulässigkeit der Verfahrensrüge, in der weder die im Ladungsheft befindliche Ladungsverfügung nebst Hinweis nach § 231 Abs. 2 StPO noch die Zustellung dieser Ladung unter der c/o-Adresse Erwähnung findet, beantragte der Verteidiger mit Schriftsatz vom 20. November 2020 die Übersendung des Ladungshefts. Hierzu führte er aus, dass ihm bislang trotz umfassend beantragter Akteneinsicht keine Einsicht in das Ladungsheft gewährt worden sei. Nach gewährter Einsicht in das Ladungsheft beantragte der Verteidiger mit Schriftsatz vom 26. November 2020 Wiedereinsetzung in die Revisionsbegründungsfrist und reichte eine neue Revisionsbegründung ein, wobei er nunmehr zur Begründung der Verfahrensrüge nach § 338 Nr. 5 StPO vorbringt, die an der c/o-Adresse zugestellte Ladung habe den Angeklagten nicht erreicht. Dieser habe sich – wie dem Vorsitzenden der Strafkammer vor der Ladungsverfügung vom 28. August 2019 mitgeteilt worden sei – in den letzten Jahren in Ägypten aufgehalten; unter der c/o-Anschrift habe er nie gewohnt.

b) Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kommt, wenn die Revision – wie hier – mit der Sach- und der Verfahrensrüge fristgemäß begründet worden ist, grundsätzlich nicht in Betracht (st. Rspr.; BGH, Beschluss vom 10. Juli 2012 – 1 StR 301/12). Sie kann nur ausnahmsweise dann gewährt werden, wenn dem Verteidiger trotz angemessener Bemühungen keine vollständige Akteneinsicht gewährt wurde und Verfahrensbeschwerden erhoben werden sollen, die ohne Kenntnis der Akten nicht begründet werden konnten (vgl. BGH, Beschluss vom 6. Mai 1997 – 4 StR 152/97 Rn. 4 mwN für den Fall der Nichtgewährung der Akteneinsicht bis kurz vor Ablauf der Revisionsbegründungsfrist).

c) Angemessene Bemühungen um eine vollständige Akteneinsicht hat der Verteidiger des Angeklagten nicht entfaltet. Zwar ist dem Verteidiger durch das Landgericht im Rahmen der von ihm umfassend beantragten Akteneinsicht das Ladungsheft nicht übersandt worden, weshalb ihm vollständiger Vortrag zu den genauen Umständen der Ladungen des Angeklagten zum Termin nicht möglich war und die Rüge der Verletzung des § 231 Abs. 2 StPO daher nicht formgerecht begründet werden konnte. Ergibt sich jedoch aus den Verfahrensakten – wie hier aus der Ladungsverfügung des Vorsitzenden (Bd. XVIII, Bl. 101, 104), auf der ein Vermerk über das Anlegen eines Ladungsheftes angebracht ist -, dass es weitere nicht übersandte Aktenbestandteile gibt, die für die beabsichtigte Verfahrensrüge von Bedeutung sein können, so ist es dem Verteidiger zumutbar, an die Übersendung dieser Aktenbestandteile zu erinnern (vgl. BGH, Beschlüsse vom 1. Februar 2000 – 4 StR 635/99 Rn. 3; vom 3. Dezember 1997 – 3 StR 514/97 Rn. 2 und vom 30. Mai 1985 – 4 StR 214/85 Rn. 4). Aufdrängen musste sich das Fehlen von für die beabsichtigte Verfahrensrüge maßgeblichen Aktenteilen vorliegend insbesondere deshalb, weil Ladungen und diesbezügliche Zustellungsnachweise in der Hauptakte nicht enthalten sind. Dass es für eine den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO entsprechend begründete Verfahrensrüge vollständigen Vortrags zum Inhalt des Ladungsheftes zwingend bedurfte, war für den Verteidiger bei pflichtgemäßer Sorgfalt ohne Weiteres erkennbar. Weitere Erkundigungen durch den Verteidiger zu etwa an den Angeklagten gerichteten Terminsladungen waren von diesem aber auch deshalb zu erwarten, weil in der Anklageschrift die c/o-Adresse genannt war, weshalb Versuche einer (Ersatz-)Zustellung von Terminsladungen an dieser Anschrift zumindest nicht von vornherein ausgeschlossen erscheinen durften.

Ob dieses Verschulden des Verteidigers dem Angeklagten zuzurechnen ist (vgl. hierzu BGH, Beschlüsse vom 11. Januar 2016 – 1 StR 435/15 Rn. 7; vom 8. April 1992 – 2 StR 119/92 Rn. 4; vom 16. Februar 1990 – 4 StR 663/89; vom 12. April 1989 – 4 StR 71/89 Rn. 2 f.; vom 30. Mai 1985 – 4 StR 214/85 Rn. 4 und vom 12. Januar 1984 – 4 StR 762/83 Rn. 2; vgl. auch: BGH, Beschlüsse vom 1. Februar 2000 – 4 StR 635/99 Rn. 3 und vom 3. Dezember 1997 – 3 StR 514/97 Rn. 2), kann indes offenbleiben. Denn den Angeklagten trifft ein eigenes Verschulden an der Versäumung der (auch) für die erhobene Verfahrensrüge geltenden Begründungsfrist, weil dieser schon mit Blick auf die in der Anklage genannte c/o-Anschrift, an der die Anklageschrift im Wege der Ersatzzustellung zugestellt worden war, hätte in Erfahrung bringen müssen, ob dort auch – konsequenterweise – eine Ladung zur Hauptverhandlung zugestellt wurde. Für diesbezüglichen Vortrag innerhalb der Revisionsbegründungsfrist hätte der Angeklagte sorgen müssen.

Im Übrigen ist auch nicht glaubhaft gemacht, dass die c/o-Adresse ohne Zutun des Angeklagten als ladungsfähige Anschrift in den Datensatz der Staatsanwaltschaft und des Landgerichts aufgenommen wurde. Der Wiedereinsetzungsantrag verhält sich zudem auch nicht dazu, in welchem Verhältnis der Angeklagte zu der in der c/o-Anschrift genannten Person steht und ob er von dieser Kenntnis von der dort zugestellten Ladung erhalten hat. Die naheliegende Annahme, dass der Angeklagte die c/o-Anschrift selbst in einem früheren Verfahrensstadium für an ihn zu bewirkende Zustellungen angegeben hatte, so dass es ihm bereits aus diesem Grund oblegen hätte, sich innerhalb der Revisionsbegründungsfrist nach einer etwa dort eingegangenen Ladung zu erkundigen und für diesbezüglichen Vortrag zu sorgen, ist damit nicht ausgeräumt. Ein Verschulden des Angeklagten an der Versäumung der für die Verfahrensrüge geltenden Revisionsbegründungsfrist ist dabei auch nicht etwa deshalb ausgeschlossen, weil sein Verteidiger noch vor der Ladungsverfügung im Rahmen einer Vorbesprechung darauf hingewiesen hatte, dass der Angeklagte in Ägypten lebt. Dies allein schließt nämlich nicht von vornherein aus, dass der Angeklagte eine weitere – etwa in Form von regelmäßigen, nicht nur ganz kurzen Aufenthalten in Deutschland genutzte – Wohnung an der c/o-Adresse unterhält. Dass gegenüber dem Gericht im Rahmen der Vorbesprechung deutlich gemacht worden wäre, dass der Angeklagte an der c/o-Adresse keine Wohnung im Sinne von § 37 Abs. 1 StPO, § 178 Abs. 1, § 180 ZPO hat, ist dem Wiedereinsetzungsantrag nicht zu entnehmen. Eine Wiedereinsetzung zur Nachholung von Verfahrensrügen kommt unter diesen Umständen nicht in Betracht.“

Wiedereinsetzung I: Quasi-Verlängerung der Begründungsfrist, oder: Nachholung von Verfahrensrügen

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Heute am „Vatertag“ – wird sicherlich noch einmal ein etwas ruhigerer „Festtag“ – drei Entscheidungen zur Wiedereinsetzung. Es ist zwar Feiertag heute, aber ich lasse das Programm durchlaufen.

Ich starte mit dem BGH, Beschl. v. 02.12.2020 – 2 StR 267/20. Also schon etwas älter 🙂 . Der Angeklagte hatte einen Wiedereinsetzungsantrag gestellt, den der BGH zurückgewiesen hat:

„1. Der Antrag des Angeklagten, ihm Wiedereinsetzung in die Frist zur Begründung der Revision gegen das Urteil des Landgerichts Köln vom 31. Januar 2020 zu gewähren, ist unzulässig, weil seine Revision bereits von seinen Pflichtverteidigern frist- und formgerecht begründet worden ist.

Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zur Nachholung von Verfahrensrügen kommt nur ausnahmsweise bei besonderen Verfahrenslagen in Betracht, in denen dies zur Wahrung des Anspruchs des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) unerlässlich erscheint (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschlüsse vom 21. Februar 1951 – 1 StR 5/51, BGHSt 1, 44, 46; vom 23. August 2012 – 1 StR 346/12; vom 14. November 2019 – 5 StR 505/19 je mwN). Ein solcher Ausnahmefall liegt hier – wie vom Generalbundesanwalt näher ausgeführt – nicht vor, auch nicht mit Blick darauf, dass die Urteilszustellung an den Wahlverteidiger zunächst nicht bewirkt werden konnte. Durch die sodann erfolgte spätere Zustellung der Urteilsurkunde wurde die Revisionsbegründungsfrist für den Beschwerdeführer insgesamt sogar verlängert.

2. Der weitere Antrag des Angeklagten auf Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zur Heilung der Mängel von nicht den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO entsprechenden Verfahrensrügen ist ebenfalls unzulässig. Die Zulässigkeit des Wiedereinsetzungsgesuchs ergibt sich insbesondere nicht daraus, dass geltend gemacht wird, den Angeklagten treffe an den Mängeln kein Verschulden. Könnte ein Angeklagter, dem durch die Antragsschrift des Generalbundesanwalts ein formaler Mangel in der Begründung einer Verfahrensrüge aufgezeigt worden ist, diese unter Hinweis auf ein Verschulden seines Verteidigers nachbessern, würde im Ergebnis die Formvorschrift des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO außer Kraft gesetzt. Dies würde nicht mit dem öffentlichen Interesse in Einklang stehen, einen geordneten Fortgang des Verfahrens zu sichern und ohne Verzögerung alsbald eine klare Verfahrenslage zu schaffen. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zur Nachbesserung einer Verfahrensrüge kommt daher nur in besonderen Prozesssituationen ausnahmsweise in Betracht, wenn dies zur Wahrung des Anspruchs des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) unerlässlich erscheint (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschlüsse vom 28. August 1991 – 4 StR 384/91, wistra 1992, 28; vom 25. September 2012 – 1 StR 361/12, wistra 2013, 34). Eine solche Ausnahmesituation liegt ersichtlich nicht vor.“

Dagegen hatte der Angeklagte dann noch die Anhörungsrüge erhoben, die der BGH mit BGH, beschl. v. 02.03.2021 – 2 StR 267/20 – zurückgewiesen hat. Da meint der BGH noch:

„Soweit der Verurteilte die Formulierung in dem angefochtenen Beschluss, durch die zweite Zustellung der Urteilsurkunde an den Wahlverteidiger sei die Revisionsbegründungsfrist für den Beschwerdeführer insgesamt sogar verlängert worden, als rechtlich verfehlt beanstandet, vermag der Senat dem nicht zu folgen. Erfolgt in Fällen der Mehrfachverteidigung entgegen Nr. 154 Abs. 1 Satz 2 RiStBV die Zustellung an mehrere Verteidiger zu unterschiedlichen Zeiten, führt dies für den Verurteilten zu einer faktischen Fristverlängerung ( BGH, Urteil vom 30. August 1990 – 3 StR 459/87 , BGHR StPO § 345 Abs. 1 Fristbeginn 4 ; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl., § 37 Rn. 29). Hier wurde die Revisionsbegründungsfrist mit Urteilszustellung an die beiden Pflichtverteidiger am 23. April 2020 in Gang gesetzt und endete aufgrund der zwischenzeitlich erfolgten weiteren Zustellung an Rechtsanwalt S. erst am 8. Juni 2020. Mithin standen dem Verurteilten damit insgesamt mehr als sechs Wochen zur Begründung seiner Revision zur Verfügung.“

StPO III: Zeugnisverweigerungsrecht, oder: Belehrung über wechselseitiges Zeugnisverweigerungsrecht

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Und zum Schluss dann noch einmal der BGH, Beschl. v. 19.01.2021 – 5 StR 496/20 -, über den ich ja schon einmal berichtet habe (vgl. hier: StPO II: Schein- oder Sachverhandlung, oder: Schluss der Beweisaufnahme). Entschieden hat der BGH (auch) über die Rüge einer Verletzung des § 52 Abs. 3 StPO:

„2. Die von den Angeklagten M. und F. T. erhobenen Rügen der Verletzung des § 52 Abs. 3 StPO bleiben ebenfalls erfolglos.

a) Ihnen liegt folgendes Verfahrensgeschehen zu Grunde: Die Staatsanwaltschaft Hamburg hatte Anfang April 2015 ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Brandstiftung gegen die Angeklagten T. (Grundstückspächter) und eine ihrer Töchter eingeleitet, welches am 12. November 2015 nach § 170 Abs. 2 Satz 1 StPO eingestellt wurde. In diesem Verfahren war der Zeuge S. (mit seiner Frau Grundstückseigentümer) am 21. April 2015 von der Polizei als Zeuge vernommen und auch über ein etwaiges Zeugnisverweigerungsrecht nach § 52 Abs. 1, Abs. 3 StPO belehrt worden. Am 27. Mai 2016 nahm die Staatsanwaltschaft das Verfahren wieder auf, welches sich nunmehr gegen die Angeklagten und weitere Personen, unter anderem auch den Zeugen S. und seine Ehefrau als (förmlich) Beschuldigte, richtete. Bei ihnen fand am 6. Juli 2016 auf richterliche Anordnung die Durchsuchung der Wohnung und der Geschäftsräume statt. Hinweise auf eine Tatbeteiligung ergaben sich aber nicht. Am 20. Juli 2017 stellte die Staatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren gegen die Zeugen mangels hinreichenden Tatverdachts nach § 170 Abs. 2 StPO ein.

b) Die Eheleute S. sind in der Hauptverhandlung vom 10. Januar 2020 als Zeugen vernommen und nicht über ein wechselseitig bestehendes Zeugnisverweigerungsrecht nach § 52 Abs. 1 Nr. 2., Abs. 3 StPO, sondern lediglich nach § 55 StPO belehrt worden. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs stellt dies einen Rechtsfehler dar, den auch der nicht mit den Zeugen im Sinne von § 52 Abs. 1 StPO verbundene und deshalb in seinem Rechtskreis nicht unmittelbar betroffene (vgl. BGH, Urteil vom 29. Oktober 1991 – 1 StR 334/90, NStZ 1992, 195 f.; Paul, NStZ 2013, 489, 491) Angeklagte rügen kann (vgl. BGH, Beschluss vom 30. April 2009 – 1 StR 745/08, BGHSt 54, 1, 6 mwN; BGH, Beschluss vom 14. Dezember 2011 – 5 StR 434/11, NStZ 2012, 221). Auf diesem Rechtsfehler beruht das Urteil aber nicht (§ 337 Abs. 1 StPO).

Der Senat schließt aus, dass sich der Belehrungsfehler auf das Aussageverhalten der Zeugen ausgewirkt hat. Ungeachtet dessen, dass jedenfalls der Zeuge S. durch die Belehrung anlässlich der polizeilichen Vernehmung vom April 2015 sein Zeugnisverweigerungsrecht gekannt und gleichwohl umfangreiche und ausführliche Angaben gemacht hat, zeigt das Prozessverhalten beider nach § 55 StPO belehrter Zeugen in der Gesamtschau, dass sie auch bei Belehrung in der Hauptverhandlung nach § 52 Abs. 3 StPO wie geschehen ausgesagt hätten (vgl. BGH, Beschluss vom 14. Dezember 2011 – 5 StR 434/11, aaO; Urteil vom 30. Mai 1984 – 2 StR 233/84, NStZ 1984, 464). Zudem hat das Landgericht seine Feststellungen zu keinem Punkt maßgeblich auf deren Angaben gestützt.“

StPO II: Entfernung des Angeklagten aus der HV, oder: Unterrichtung durch Videovernehmung?

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Die zweite Entscheidung des Tages kommt mit dem BGH, Beschl. v. 23.03.2021 – 3 StR 60/21 – auch vom BGH. Ist in meinen Augen auch eine Dauerbrennerentscheidung.

Das LG hat den Angeklagten der u.w. wegen Vergewaltigung verurteilt. Dagegen  Verfahrensrügen, u.a. mit der Rüge eines Verstoßes gegen § 247 Satz 4 StPO. Sie hatte keinen Erfolg:

„Der Erörterung bedarf allein die Verfahrensrüge, mit der der Angeklagte einen Verstoß gegen die Pflicht zur Unterrichtung nach § 247 Satz 4 StPO geltend macht.

1. Der Rüge liegt folgendes Verfahrensgeschehen zu Grunde:

Die Strafkammer beschloss in der Hauptverhandlung vor der Zeugenvernehmung eines geschädigten Kindes gemäß § 247 Satz 1 StPO die Entfernung des Angeklagten aus dem Sitzungssaal und ordnete zugleich an, dass die Vernehmung dieser Zeugin über eine Videoanlage in einen Nebenraum übertragen wurde, von dem aus der Angeklagte die Vernehmung audiovisuell verfolgen konnte. Im Rahmen der Vernehmung des Kindes wurde mit diesem eine Grundrisszeichnung der Wohnräume des Angeklagten erörtert; ferner wurde dem Kind ein Chatverkehr durch Verlesung vorgehalten. Nach der Vernehmung wurde der Angeklagte in den Sitzungssaal zurückgerufen und erklärte, dass er der Vernehmung von dem Nebenraum aus habe folgen können, allerdings Nachfragen an die Zeugin habe. Seinem Wunsch entsprechend wurde die Zeugin dann in seiner erneuten Abwesenheit ergänzend befragt; auch diese Befragung konnte der Angeklagte im Wege der Videoübertragung von dem Nebenraum aus verfolgen. Der Angeklagte wurde anschließend wiederum in den Sitzungssaal gerufen und gefragt, ob er noch weitere Fragen an die Zeugin habe, woraufhin er erklärte, dass er der Vernehmung habe folgen können und keine Nachfragen mehr habe. Daraufhin wurde die Zeugin entlassen. Dieser Geschehensablauf wiederholte sich am darauffolgenden Hauptverhandlungstag bei der Zeugenvernehmung eines weiteren geschädigten Kindes, wobei dieser Zeugin während ihrer Vernehmung neben der Grundrisszeichnung als weiterer Vernehmungsbehelf ein Foto vorgelegt wurde.

 

2. Der Angeklagte macht geltend, mit dieser Vorgehensweise habe die Strafkammer jeweils gegen § 247 Satz 4 StPO verstoßen. Zum einen sei der Angeklagte entgegen § 247 Satz 4 StPO nach seiner Rückkehr in den Sitzungssaal nicht vom Vorsitzenden von dem wesentlichen Inhalt dessen unterrichtet worden, was während seiner Abwesenheit ausgesagt oder sonst verhandelt wurde. Die Videoübertragung habe den Bericht des Vorsitzenden nicht ersetzen können, weil die Unterrichtung nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut vorzunehmen sei, sobald der Angeklagte wieder anwesend ist, also erst nach seiner Rückkehr in den Sitzungssaal. Zum anderen hätte der Vorsitzende im Rahmen einer Unterrichtung nach § 247 Satz 4 StPO angesichts der den Zeuginnen als Vernehmungsbehelfe vorgelegten Unterlagen abklären müssen, ob der Angeklagte auch insofern die Vernehmungsinhalte vollständig erfassen konnte.

3. Soweit die Verfahrensrüge mit der Stoßrichtung erhoben worden ist, die nach § 247 Satz 4 StPO gebotene Unterrichtung sei unterblieben, ist sie unbegründet.

Nach vielfach vertretener Auffassung kann die Unterrichtung auch in Form einer Videosimultanübertragung der Vernehmung in einen Nebenraum erfolgen, in dem sich der Angeklagte aufhält; einer weiteren Information des Angeklagten nach dessen Rückkehr in den Sitzungssaal durch einen Bericht des Vorsitzenden bedarf es dann nicht (BGH, Beschluss vom 11. Dezember 2018 – 2 StR 250/18, NJW 2019, 692 Rn. 15; Urteil vom 22. August 2017 – 1 StR 216/17, NJW 2017, 3397 Rn. 18; Beschluss vom 19. Dezember 2006 – 1 StR 268/06, BGHSt 51, 180 Rn. 15; LR/Becker, StPO, 27. Aufl., § 247 Rn. 48; BeckOK StPO/Berg, 39. Ed., § 247 Rn. 16; KK-StPO/Diemer, 8. Aufl., § 247 Rn. 15; SK-StPO/Frister, 5. Aufl., § 247 Rn. 67; SSW-StPO/Tsambikakis, 4. Aufl., § 247 Rn. 36; ablehnend in einem Fall einer von technischen Störungen begleiteten Videoübertragung BGH, Beschluss vom 26. August 2005 – 3 StR 269/05, NStZ 2006, 116 sowie generell MüKoStPO/Cierniak/Niehaus, § 247 Rn. 17; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl., § 247 Rn. 14a, 16a). Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs sieht eine solche Videoübertragung sogar als die regelmäßig rechtlich vorrangig gebotene Form der Unterrichtung an (BGH, Urteil vom 22. August 2017 – 1 StR 216/17, NJW 2017, 3397 Rn. 20 ff.; aA BGH, Beschluss vom 16. Juni 2009 – 3 StR 193/09, NStZ 2009, 582; LR/Becker, StPO, 27. Aufl., § 247 Rn. 48; BeckOK StPO/Berg, 39. Ed., § 247 Rn. 16; Mosbacher, JuS 2018, 129, 133; Schneider, NStZ 2018, 128, 129 ff.).

Im vorliegenden Fall hat eine Unterrichtung durch den Vorsitzenden im Sinne des § 247 Satz 4 StPO im Anschluss an die Rückkehr des Angeklagten in den Sitzungssaal stattgefunden, so dass es nicht darauf ankommt, ob ungeachtet des Wortlauts von § 247 Satz 4 StPO schon die Videoübertragung als solche eine ausreichende Unterrichtung darstellt. Denn die Art und Weise der Unterrichtung ist im Rahmen der Verhandlungsleitung (§ 238 Abs. 1 StPO) vom Vorsitzenden zu bestimmen (BGH, Urteil vom 22. August 2017 – 1 StR 216/17, NJW 2017, 3397 Rn. 15; Beschluss vom 19. Dezember 2006 – 1 StR 268/06, BGHSt 51, 180 Rn. 15; LR/Becker, StPO, 27. Aufl., § 247 Rn. 43; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl., § 247 Rn. 16). Sie kann deshalb in der Gestalt erfolgen, dass der Vorsitzende den Angeklagten, sobald dieser wieder anwesend ist, fragt, ob er durch die Videoübertragung den Aussageinhalt habe erfassen und der Vernehmung auch im Übrigen habe folgen können (vgl. zum Erfordernis der Abklärung einer störungsfreien Übertragung BGH, Beschluss vom 19. Dezember 2006 – 1 StR 268/06, BGHSt 51, 180 Rn. 16). Teilt der Angeklagte daraufhin – wie hier geschehen – mit, dass er das Verhandlungsgeschehen audiovisuell habe wahrnehmen können, und macht er keine technischen Störungen oder Ausfälle bei der Übertragung geltend, ist dem Unterrichtungserfordernis Genüge getan.

4. Soweit die Verfahrensrüge mit der Angriffsrichtung erhoben worden ist, die Unterrichtung durch den Vorsitzenden sei unzureichend gewesen, weil dieser nicht mit dem Angeklagten gesondert erörtert habe, ob er der Vernehmung auch insoweit folgen konnte, als der Zeugin eine Grundrisszeichnung beziehungsweise ein Foto vorgelegt wurde (vgl. insofern BGH, Beschluss vom 19. Dezember 2006 – 1 StR 268/06, BGHSt 51, 180 Rn. 23), ist die Rüge unzulässig. Denn insofern rügt der Angeklagte nicht das Unterlassen einer gesetzlich vorgeschriebenen Handlung, sondern die Art und Weise ihrer Vornahme durch den Vorsitzenden, also eine ermessensfehlerhafte Ausgestaltung der Unterrichtung. Daher wäre für die Zulässigkeit der hierauf bezogenen Verfahrensrüge eine Beanstandung der Art und Weise der Unterrichtung des Angeklagten durch den Vorsitzenden in der Hauptverhandlung nach § 238 Abs. 2 StPO erforderlich gewesen (vgl. BGH, Urteil vom 22. August 2017 – 1 StR 216/17, NJW 2017, 3397 Rn. 26; Beschlüsse vom 26. April 2006 – 5 StR 118/06, juris Rn. 2; vom 10. Januar 2006 – 5 StR 341/05, NJW 2006, 1008, 1009; LR/Becker, StPO, 27. Aufl., § 247 Rn. 56; MüKoStPO/Cierniak/Niehaus, § 247 Rn. 26; Schneider, NStZ 2018, 128, 133 f.; aA SK-StPO/Frister, 5. Aufl., § 247 Rn. 90). Eine solche Beanstandung nach § 238 Abs. 2 StPO bringt die Revision jedoch nicht vor.“

StPO I: Körperlicher Übergriff und Bedrohung —-> Und Vergewaltigung, oder: Strafklageverbrauch

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Heute: StPO-Tag. Und den beginne ich mit dem BGH, Beschl. v. 19.01.2021 – 2 StR 458/20 – zum Strafklageverbrauch. Der BGH hat ein Urteil des LG Kassel aufgehoben und das Verfahren gegen den Angeklagten eingestellt:

„1. Gegenstand des vorliegenden Verfahrens ist der Vorwurf, der Angeklagte habe seine Ehefrau am Vormittag des 21. Juni 2018 unter Mitsichführen eines Messers vergewaltigt. Dies sei nach einem körperlichen Übergriff auf sie geschehen, bei dem sie misshandelt und mittels des Messers bedroht worden war, wobei sich die Situation zwischenzeitlich beruhigt hatte und es zu einem Gespräch der Eheleute über ihre gemeinsame Zukunft gekommen war.

Wegen des vorangegangenen körperlichen Übergriffs und der Bedrohung am 21. Juni 2018 verurteilte das Amtsgericht in Kassel den Angeklagten am 10. Januar 2019 wegen Körperverletzung in Tateinheit mit Bedrohung zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten, die das Landgericht nunmehr in seine Entscheidung einbezogen hat.

2. Dem weiteren Verfahren steht ein dauerndes Verfahrenshindernis entgegen, weil durch das Urteil des Amtsgerichts Kassel Strafklageverbrauch eingetreten ist. Das Verfahren war daher gemäß § 206a i.V.m. § 354 Abs. 1 StPO einzustellen.

Das amtsgerichtliche Urteil betrifft dieselbe Tat wie das vorliegende Verfahren. Der Begriff der Tat im Sinne des Art. 103 Abs. 3 GG, § 264 Abs. 1 StPO bestimmt sich dabei nach dem von der zugelassenen Anklage umschriebenen geschichtlichen Vorgang, innerhalb dessen der Angeklagte einen Straftatbestand verwirklicht haben soll. Sie erstreckt sich auf das gesamte Verhalten des Täters, das nach natürlicher Auffassung ein mit diesem geschichtlichen Vorgang einheitliches Geschehen bildet (vgl. st. Rspr.; vgl. nur Senat, Beschluss vom 23. September 2020 – 2 StR 606/19; BGH, Beschluss vom 24. November 2004 – 5 StR 206/04, BGHSt 49, 352, 362 f.). Danach stehen der erste Übergriff des Angeklagten auf seine Ehefrau am Vormittag des 21. Juni 2018 und ihre sich mit einem gewissen zeitlichen Abstand anschließende Vergewaltigung im Verhältnis der prozessualen Tatidentität.

Der Angeklagte hatte seine Ehefrau am Morgen des 21. Juni 2018 an der Wohnungstür überrascht, sie in die Wohnung gedrängt und schmerzhaft am Arm festgehalten. Nachdem sich das Geschehen ins Wohnzimmer verlagert hatte, hatte er ein Messer hervorgezogen und es auf die Zeugin mit der Drohung gerichtet, sie umzubringen. Insbesondere diese vom Amtsgericht als Bedrohung ausgeurteilte Drohung und die im hiesigen Verfahren angeklagte und abgeurteilte Vergewaltigung im Schlafzimmer, zu der sich der Angeklagte im Anschluss an den erfolglos gebliebenen Versuch einer Versöhnung mit seiner Ehefrau und deren Ablehnung eines einverständlichen Geschlechtsverkehrs entschlossen hatte, stehen in einem unmittelbaren räumlichen, zeitlichen und personellen Zusammenhang. Daran ändert im Übrigen auch der Umstand nichts, dass mit der zwischenzeitlichen Beruhigung der Situation ein gewisser zeitlicher Abstand zwischen den strafrechtlich relevanten Übergriffen des Angeklagten gegeben ist. Denn Bedrohung und Vergewaltigung sind innerlich dadurch miteinander verknüpft, dass die vorangegangene Bedrohung mit dem Messer auch bei der folgenden Vergewaltigung fortwirkte. Wie das Landgericht ausdrücklich feststellte, entschied sich die Ehefrau des Angeklagten, „unter dem Eindruck der vorangegangenen Bedrohung mit dem Messer und dem Umstand, dass der Angeklagte das Küchenmesser in der Hosentasche bei sich hatte“, dem Ansinnen des Angeklagten (nach Geschlechtsverkehr) keinen Widerstand mehr entgegenzusetzen. Insbesondere auch mit Blick darauf stellt sich das gesamte Verhalten des Angeklagten vom Eindringen in die Wohnung bis zur Vergewaltigung als ein in sich geschlossenes, zusammengehöriges Geschehen dar, dessen getrennte Würdigung und Aburteilung als unnatürliche Aufspaltung eines einheitlichen Lebensvorgangs empfunden würde.“