Archiv für den Monat: März 2021

Entziehung der Fahrerlaubnis II: Eigene Erwägungen des VG retten ein unschlüssiges Gutachten nicht

entnommen wikidmedia.org
Fotograf Faßbender, Julia

Und dann die zweite Entscheidung zur Entziehung der Fahrerlaubnis. Die kommt mit dem OVG Münster, Beschl. v. 16.02.2021 – 16 B 1496/20 -, aus Münster. Die Entscheidung behandelt auch noch einmal die Frage der Ungeeignetheit und/oder die Anforderungen an die Überzeugung der Verwaltungsbehörde. Die Ungeeignetheit muss „feststehen“. Das war hier (auch) nicht der Fall. Daher hat das OVG die aufschiebende Wirkung der Klage des Fahrerlaubnisinhabers wieder hergestellt, und zwar trotz eines Gutachtens. Begründung:

Die in dem Bescheid des Antragsgegners vom 10. Januar 2020 erfolgte Entziehung der Fahrerlaubnis des Antragstellers erweist sich voraussichtlich als rechtswidrig, weil die Voraussetzungen hierfür nicht vorliegen. Gemäß § 3 Abs. 1 Satz 1 StVG, § 46 Abs. 1 Satz 1 FeV hat die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich deren Inhaber als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Für diese Entscheidung, die nicht im Ermessen der Fahrerlaubnisbehörde steht, muss die Fahrungeeignetheit des Betroffenen feststehen. Dieses Erfordernis ist und war im maßgeblichen Zeitpunkt für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entziehungsverfügung, dem Zeitpunkt ihres Erlasses,

vgl. insoweit BVerwG, Urteile vom 11. Dezember 2008 – 3 C 26.07 -, juris, Rn. 16, und vom 11. April 2019 – 3 C 14.17 -, juris, Rn. 11,

nicht gegeben. Es steht nicht fest, dass der Antragsteller zum Führen von Kraftfahrzeugen – hier der Gruppe 1 – ungeeignet ist. Zum Zeitpunkt des anlassgebenden Vorfalls, der Verkehrskontrolle am 30. Mai 2019, war der Antragsteller gelegentlicher Konsument von Cannabis. Dies ergibt sich aus seinen Angaben im Rahmen seiner medizinisch-psychologischen Begutachtung durch das Medizinisch-Psychologische Institut der U. O. N. GmbH & Co. KG, denen zufolge er erstmalig mit 17 Jahren Cannabis probiert, anschließend von Dezember 2017 bis Januar 2018 unregelmäßig konsumiert und von April 2019 bis Mai 2019 zweimal in der Woche insgesamt ein Gramm geraucht habe. Den gelegentlichen Konsum dieses Betäubungsmittels hat er auch im gerichtlichen Verfahren nicht in Abrede gestellt.

Gemäß Nr. 9.2.2 der Anlage 4 zur FeV ist bei gelegentlicher Einnahme von Cannabis die Fahreignung nur gegeben, wenn zwischen Konsum und Fahren getrennt werden kann und kein zusätzlicher Gebrauch von Alkohol oder anderen psychoaktiv wirkenden Stoffen, eine Störung der Persönlichkeit oder kein Kontrollverlust vorliegt. Dass der Antragsteller diese Voraussetzungen nicht erfüllt, namentlich nicht zwischen Konsum von Cannabis und Fahren trennen kann, ist nicht nachgewiesen.

Eine entsprechende Annahme ergibt sich nicht aus dem medizinisch-psychologischen Gutachten des Medizinisch-Psychologischen Instituts der U. O. N. GmbH & Co. KG vom 18. November 2019. Dieses Gutachten ist keine taugliche Beurteilungsgrundlage für die Feststellung der Fahrungeeignetheit des Antragstellers, weil es unter erheblichen Mängeln leidet. Der Antragsteller weist in seiner Zulassungsbegründung zu Recht daraufhin, dass dieses Gutachten nicht schlüssig ist. Ein – wie hier – nach § 46 Abs. 3, § 14 Abs. 1 Satz 3 FeV angeordnetes medizinisch-psychologisches Gutachten, das zu einem für den Betroffenen negativen Schluss kommt, muss nachvollziehbar aufzeigen, dass und warum ein solcher Schluss im Einzelfall gerechtfertigt ist. Diesem Erfordernis wird das Gutachten vom 18. November 2019 nicht gerecht.

Das Gutachten gelangt zu dem Ergebnis, dass der Antragsteller ein Kraftfahrzeug der Gruppe 1 zwar sicher führen könne, es jedoch zu erwarten sei, dass er künftig ein Kraftfahrzeug unter dem Einfluss von Betäubungsmitteln führen werde (S. 13 des Gutachtens). Dem liegt die Feststellung zugrunde, dass bei dem Antragsteller eine fortgeschrittene Drogenproblematik vorliege, so dass ein Abstinenzbeleg in der Regel über 12 Monate bzw. Belege über den konsequenten Verzicht auf jeden Drogenkonsum zu fordern sei bzw. seien (S. 12 und 14 des Gutachtens). Das Gutachten legt aber nicht plausibel dar, aus welchem Grund bei dem Antragsteller von einer fortgeschrittenen Drogenproblematik auszugehen ist, und, worauf auch der Antragsteller hinweist, woraus die Forderung nach einer Drogenabstinenz resultiert.

Zu der Annahme einer fortgeschrittenen Drogenproblematik bei dem Antragsteller gelangt das Gutachten nach der Darstellung der medizinischen und psychologischen Untersuchungsbefunde, die u. a. eine ausführliche Wiedergabe der eigenen Angaben des Antragstellers enthalten, und nach den Feststellungen, dass aus verkehrsmedizinischer Sicht keine Befunde erhoben worden seien, die unter Berücksichtigung der Grundsätze der Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung das ausreichend sichere Führen von Kraftfahrzeugen ausschlössen, körperliche Zeichen für einen aktuellen Drogenmissbrauch oder für Auswirkungen eines früheren Drogenkonsums nicht nachweisbar seien und die Analyse der Urinprobe keine Hinweise auf einen Drogenkonsum ergeben habe und damit in Übereinstimmung mit den Angaben zum aktuellen Drogenverzicht stehe. Inwieweit gleichwohl von einer fortgeschrittenen Drogenproblematik beim Antragsteller auszugehen ist, welche aus dessen Untersuchung gewonnenen fachlichen Erkenntnisse hierfür aus welchen Gründen maßgeblich sind, legt das Gutachten auch in der nachfolgenden psychologischen Beurteilung jedenfalls nicht hinreichend dar. Denn hieraus ergibt sich schon nicht, inwieweit die dort aufgeführten, aus verkehrspsychologischer Sicht beurteilungsrelevanten Aspekte den Schluss auf das Vorliegen einer fortgeschrittenen Drogenproblematik beim Antragsteller zulassen. Soweit es auf S. 11 des Gutachtens heißt, die fortgeschrittene Drogenproblematik habe sich „im missbräuchlichen Konsum von Suchtstoffen, in einem polyvalenten Konsummuster oder auch im Konsum hoch suchtpotenter Drogen gezeigt“, fehlt es an näheren Belegen, insbesondere für die – auch in der Gutachtenanordnung nicht aufgestellte – Behauptung eines Konsums hoch suchtpotenter Drogen.

Ferner lässt das Gutachten nicht erkennen, warum darin eine Drogenabstinenz des Antragstellers – einhergehend mit Abstinenznachweisen – für notwendig erachtet wird. Eine entsprechende Darlegung wäre aber auch insbesondere mit Blick darauf erforderlich gewesen, dass, wie sich auch aus der der Begutachtung des Antragstellers zugrunde liegenden Fragestellung ergibt, bei dem Antragsteller von einem gelegentlichen Cannabiskonsum auszugehen ist, bei dem allein die Einnahme dieses Betäubungsmittels die Fahreignung nicht entfallen lässt. Gelangt ein medizinisch-psychologisches Gutachten gleichwohl zu dem Ergebnis, dass im konkreten Fall ein vollständiger Konsumverzicht erforderlich sei, z. B. weil andernfalls ein Trennen zwischen Konsum und Fahren nicht zu gewährleisten sei, muss das Gutachten die Gründe für diese Einschätzung nachvollziehbar darlegen.

Eine Verwertbarkeit des hier in Rede stehenden Gutachtens für die Entziehung der Fahrerlaubnis des Antragstellers ergibt sich auch nicht aus den – eigenen, nicht im Gutachten enthaltenen – Erwägungen des Verwaltungsgerichts in dem angefochtenen Beschluss, mit denen es aufzeigen will, aus welchen Gründen das Gutachten gleichwohl schlüssig sei. Ist – wie vorliegend – ein Gutachten aus sich heraus nicht nachvollziehbar oder fehlt es ihm aus anderen Gründen an der Schlüssigkeit, kann dieser Mangel nicht durch eigene Erwägungen des Gerichts behoben werden. Das Gericht darf sich nicht an die Stelle des oder der sachverständigen Gutachter(s) begeben, weil ihm hierfür regelmäßig die einschlägige Fachkunde fehlt.

Vgl. in diesem Zusammenhang BayVGH, Beschluss vom 26. Juli 2019 – 11 CS 19.1093 -, juris, Rn. 14.

Nach alledem bestehen lediglich Zweifel in Bezug auf die Fahreignung des Antragstellers. Insoweit sei ergänzend darauf hingewiesen, dass diese entgegen seiner Auffassung weder durch seine zwischenzeitliche Drogenabstinenz noch durch eine von ihm geltend gemachte Kompensation des Cannabiskonsums durch Meditation und/oder durch zwischenmenschlichen Austausch ausgeräumt worden sind. Zur Klärung dieser Eignungszweifel ist vielmehr der Nachweis erforderlich, dass der Antragsteller in der Lage ist, bei fortgesetzter gelegentlicher Einnahme von Cannabis ein nach den Wertungen der Fahrerlaubnis-Verordnung hinnehmbares Konsummuster – Verzicht auf den zusätzlichen Gebrauch von Alkohol oder anderen psychoaktiv wirkenden Stoffen, Trennung zwischen Konsum und Fahren, keine Störung der Persönlichkeit, kein Kontrollverlust (vgl. Nr. 9.2.2 der Anlage 4 zur FeV) – einzuhalten. Ob der Antragsteller diese Voraussetzungen erfüllt, ist – anders als er meint – allein mit einem belegten temporären Drogenverzicht nicht nachgewiesen. Zusätzlich ist der Nachweis eines tiefgreifenden und stabilen Einstellungswandels zu führen, der es hinreichend wahrscheinlich macht, dass der Antragsteller die von ihm geltend gemachte derzeitige Abstinenz auch in Zukunft einhalten oder zumindest ein im Sinne der Nr. 9.2.2 der Anlage 4 zur FeV hinnehmbares Konsummuster an den Tag legen wird. Die Frage, ob sich bei ihm eine derartige nachhaltige Einstellungsänderung vollzogen hat, ist aber nur auf der Grundlage einer medizinisch-psychologischen Begutachtung zu beantworten.

Vgl. hierzu OVG NRW, Beschlüsse vom 4. November 2013 – 16 B 1205/13 -, vom 18. Februar 2020 – 16 B 210/19 -, juris, Rn. 5 f., und vom 10. November 2020 – 16 B 1417/20 -.

Die also weiterhin bestehenden Zweifel an der Fahreignung des Antragstellers hat, wie sich aus § 3 Abs. 1 Satz 3, § 2 Abs. 7 und 8 StVG, § 46 Abs. 3 i. V. m. §§ 11 ff. FeV ergibt, die Fahrerlaubnisbehörde des Antragsgegners (weiter) aufzuklären.

Vgl. hierzu VG München, Beschluss vom 14. November 2016 – M 26 S 16.4261 -, juris, Rn. 31 und 39; VG Augsburg, Beschluss vom 4. Juli 2018 – Au 7 S 18.936 -, juris, Rn. 92; im Ergebnis ebenso OVG NRW, Beschlüsse vom 4. Februar 2021 – 16 E 648/20 -, vom 5. November 2014 – 16 E 179/14 -, und vom 10. Oktober 2016 – 16 B 673/16 -, juris, Rn. 3, und VG Arnsberg, Beschluss vom 30. Mai 2016 – 6 L 389/16 -, juris, Rn. 17.“

Entziehung der Fahrerlaubnis I, oder: Beweislast für die Ungeeignetheit hat die Behörde

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Heute köcheln im „Kessel Buntes“ zwei verwaltungsgerichtliche Entscheidungen zur Entziehung der Fahrerlaubnis.

Ich beginne mit dem VG Weimar, Beschl. v. 18.01.2021 – 1 E 1532/20 We -, den mir die Kollegin Klein aus Weimar geschickt hat. Der Beschluss enthält nichts weltbewegend Neues, aber er ruft noch einmal in Erinnerung: Die Fahrerlaubnisbehörde muss beweisen, dass der Fahrerlaubnisinhaber „ungeeignet“ ist:

„Vorliegend begegnen der Entziehungsverfügung selbst rechtliche Bedenken.

Rechtsgrundlage für die Entziehung der Fahrerlaubnis des Antragstellers ist § 3 Abs. 1 Satz 1 Straßenverkehrsgesetz – StVO – i.V.m. § 46 Abs. 1 Satz 1 Fahrerlaubnisverordnung – FeV Danach hat die Fahrerlaubnisbehörde dem Inhaber einer Fahrerlaubnis, der sich als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist, die Fahrerlaubnis zu entziehen.

Bereits der Wortlaut dieser Vorschrift setzt voraus, dass die Ungeeignetheit des Antragstellers erwiesen sein muss. Die Entziehung der Fahrerlaubnis ist daher nur möglich, wenn die Ungeeignetheit oder mangelnde Befähigung des Fahrerlaubnisinhabers aufgrund erwiesener Tatsachen positiv festgestellt werden kann (Bundesverwaltungsgericht NJW 05, 3081). Die insoweit bestehende Beweislast hierfür trägt die Fahrerlaubnisbehörde (vgl. hierzu Dauer in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 45. Auflage, § 3 StVG Rn. 24 m. w. N. aus der Rechtsprechung). Ein solcher Nachweis der Ungeeignetheit ist dem Antragsgegner nicht gelungen. Insbesondere folgt die Ungeeignetheit des Antragstellers nicht aus dem Gutachten der pp. GmbH vom 18.02.2020. Der Umstand, dass nach dem Gutachten ein aktiver Konsum von Betäubungsmitteln nicht sicher ausgeschlossen werden kann, genügt gerade nicht den Nachweispflichten des Antragsgegners zur Ungeeignetheit des Antragstellers. Denn – anders als der Antragsgegner offensichtlich meint (vgl. den Schriftsatz des Antragsgegners vom 24.11.2020, Bl. 4) – ist nicht der Antragsteller dazu verpflichtet, seine Geeignetheit, sondern der Antragsgegner ist verpflichtet die Ungeeignetheit des Antragstellers nachzuweisen. Soweit das Gutachten trotz der aufgefundenen Menge von Amphetamin (0,10 ng/mg) nicht zu einem eindeutigen Nachweis des Konsums gekommen ist, da aufgrund des geringfügigen Befundes ein aktiver Konsum nicht unterstellt werden konnte (vgl. Bi. 11 des Gutachtens), ergibt das Gutachtenergebnis keine Ungeeignetheit des Antragsstellers.

Auch unabhängig vom erstellten Gutachten kann keine Ungeeignetheit des Antragstellers festgestellt werden. Dies gilt auch in Ansehung des Vorfalls vom 14.01.2016, als der Antragsteller mit einer Methamphetaminkonzentration von 31 ng/ml festgestellt wurde. Denn der Antragsgegner hat, nachdem ihm dies mit am 15.03.2016 bei ihm eingegangenen Schreiben mitgeteilt wurde (vgl. Bl. 112 der Verwaltungsakten), erstmals mit Anordnung vom 21.08.2019 ein Drogenscreening angeordnet. In diesem Fall liegt jedoch keine aktuelle Einnahme von Betäubungsmitteln i. S. v. § 14 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 FeV mehr vor, da die Anknüpfungstatsachen im Zeitpunkt der Anordnung zur Beibringung des Drogenscreenings bereits mehr als 3 Jahre zurücklagen (vgl. Hessischer VGH, Urteil vom 24.11.2010 – 2 B 2190/10 – juris für den Fall eines 2 1/2 Jahre zurückliegenden Konsums von Cannabis).

Da mithin eine Ungeeignetheit des Antragstellers nicht festgestellt werden kann, war die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen den Entziehungsbescheid wiederherzustellen.“

Ich habe da mal eine Frage: Gebühren als Schadensersatz, wenn der Geschädigte einen Anwalt beauftragt?

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Und dann noch die Frage der Woche, nämlich:

„Ich habe einen jugendlichen Mandanten in einem Strafverfahren wegen gefährlicher Körperverletzung vertreten. Der Geschädigte hatte einen Anwalt beauftragt, der dann auch im Ermittlungsverfahren Akteneinsicht genommen und geschrieben hat, wie schlimm doch alles war.

Adhäsionsverfahren ging nicht, da Jugendlicher, Nebenklage auch nicht, da keine schweren Folgen.

Mandant wurde verwarnt und zu 30 Arbeitsstunden verurteilt. Nun meldet sich der Anwalt und verlangt als Schadensersatz:

300 € Schmerzensgeld (absolut angemessen)
400 € Rechtsverfolgungskosten (soll die Selbstbeteiligung sein, wohl zu der Vertretungen im Strafverfahren bzw. AE usw?)
12 € AE-Gebühr
+ Geschäftsgebühr aus 700 €.

Kann der wirklich die Akteneinsicht und den Schriftsatz im Strafverfahren dann als normale Gebühren abrechnen (sonst käme er ja nie auf über 400 €)?“

Mittelgebühren im straßenverkehrsrechtlichen OWi-Verfahren, oder: Der richtige Umsatzsteuersatz

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Und als zweite Entscheidung dann der LG Itzehoe, Beschl. v. 18.02.2021 – 2 Qs 209/20 -, mal wieder zur Bemessung der Gebühren in straßenverkehrsrechtlichen Bußgeldverfahren und zur Frage der Anwendung des „richtigen“ Umsatzsteuersatzes

Dem Betroffenen war im Bußgeldverfahren vorgeworfen worden, beim Abbiegen in ein Grundstück einen Unfall verursacht zu haben. Deswegen war gegen ihn in einem Bußgeldbescheid eine Geldbuße von 100,00 EUR festgesetzt und angekündigt worden, bei Rechtskraft ein Punkt im FAER eingetragen werde. Der Verteidiger, der Kollege Ermer aus Marne, hat Einspruch eingelegt und Einstellung des Verfahrens angeregt. Das Verfahren wurde an das AG abgegeben. Dort hat dann eine dreißigminütige Hauptverhandlung stattgefunden, in der sich der Betroffene zur Sache eingelassen hat. Außerdem sind vier Zeugen vernommen worden. Das AG hat den Betroffenen freigesprochen und die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Betroffenen der Staatskasse auferlegt.

Der Betroffene hat insgesamt 910,47 EUR notwendige Auslagen geltend gemacht. Diese hat das AG nur teilweise festgesetzt, und zwar von den bei den Verfahrensgebühren Nr. 5103 VV RVG und Nr. 5109 VV RVG jeweils geltend gemachten Mittelgebühren lediglich 80,00 EUR bzw. 100,00 EUR und von der bei der Terminsgebühr Nr. 5110 VV RVG angesetzten Mittelgebühr lediglich 160,00 EUR. Außerdem hat es die Umsatzsteuer nach Nr. 7008 VV RVG gekürzt. Die dagegen gerichtete sofortige Beschwerde hatte Erfolg:

„…. Nach diesen Maßstäben hat das Amtsgericht die oben genannten Gebühren zu Unrecht nur gekürzt dem Kostenfestsetzungsbeschluss zugrunde gelegt.

Allgemein ist voranzustellen, dass die in Teil 5 des Vergütungsverzeichnisses zum RVG vorgesehenen Gebührenraten für die Vergütung in sämtlichen Bußgeldsachen heranzuziehen sind. Dies sind neben Verkehrsordnungswidrigkeiten auch solche aus den Bereichen des Bau-, Gewerbe-, Umwelt- oder Steuerrechts, die häufig mit Bußgeldern im oberen Bereich des Bußgeldrahmens von 60,00 bis 5.000,00 Euro geahndet werden und mit rechtlichen Schwierigkeiten und/oder umfangreicher Sachaufklärung verbunden sind. Zwar können auch Verkehrsordnungswidrigkeiten im Einzelfall einen gleich hohen oder höheren Aufwand als andere Ordnungswidrigkeiten verursachen. Sie betreffen auch eine Vielzahl der Ordnungswidrigkeitenverfahren. Allerdings werden sie dadurch nicht bedeutsamer oder schwieriger. Durchschnittliche Verkehrsordnungswidrigkeiten mit einfachen Sach- und Rechtsfragen, niedrigen Geldbußen und wenigen Punkten im Verkehrszentralregister sind daher nach Auffassung der Kammer grundsätzlich als unterdurchschnittliche Bußgeldsachen anzusehen. Für sämtliche der hier im Wege der Beschwerde verfolgten Gebührenansätze ist die Kammer unter Berücksichtigung dieser Grundsätze gleichwohl der Auffassung, dass der vorgenommene Ansatz der Mittelgebühren jedenfalls nicht nach den eingangs aufgezeigten Maßstäben unbillig ist.

Zwar ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass die Sache für den Betroffenen eine besondere Bedeutung gehabt hätte. Ein Fahrverbot drohte ihm nicht. Auch kommt der möglichen Eintragung eines Punktes in das Fahreignungsregister keine gesteigerte Bedeutung bei. Maßgeblich ist insoweit, dass konkrete über die Eintragung hinausgehende Folgen für den Betroffenen nicht ersichtlich sind und eine Löschung der Eintragung nach § 29 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 lit. a StVG bereits nach Ablauf von zwei Jahren und sechs Monaten möglich gewesen wäre. Auf der anderen Seite vermag die Kammer jedoch auch nicht zu erkennen, dass die Sache für den Betroffenen damit eine besonders unterdurchschnittliche Bedeutung hatte. Für die Frage des Umfangs der Tätigkeit des Verteidigers sei neben dem unter I. Dargelegten darauf hingewiesen, dass er nach seinem unwidersprochen gebliebenen und plausiblen Vorbringen die Unfallörtlichkeiten in Augenschein genommen hat. Insofern ist zwar nicht näher ausgeführt, wann dies geschah — mit welcher Gebühr dieser Aufwand also konkret abgegolten ist. Gleichwohl belegt auch dieser Umstand, dass hier kein routinemäßig unter Nutzung von Synergieeffekten abzuarbeitender Massenfall wie eine geringfügige Geschwindigkeitsüberschreitung vorlag. Nach Dafürhalten der Kammer lag nach allem damit insgesamt eine Tätigkeit des Verteidigers in einem Bereich vor, in dem für die geltend gemachten Gebühren für die Betreibung des Verfahrens vor der Verwaltungsbehörde nach Nr. 5103 VV RVG und für die Betreibung des Verfahrens nach Abgabe der Akten an das Amtsgericht nach Nr. 5109 VV RVG der Ansatz der Mittelgebühr von 160,00 Euro jeweils zumindest nicht nach den aufgezeigten Maßstäben unbillig ist.

Im Hinblick auf die Gegenerklärung der Bezirksrevisorin im Beschwerdeverfahren sei noch aus-geführt, dass die Kammer die vom Amtsgericht antragsgemäß auf 100,00 Euro festgesetzte Grundgebühr nach Nr. 5100 VV RVG in dieser Höhe nicht für unbillig hält. Selbst wenn man mit der Gegenerklärung der Bezirksrevisorin im Beschwerdeverfahren die Gebühr nur in Höhe von 80,00 Euro für angemessen hielte, wäre eine Überschreitung um 25 % auf 100,00 Euro nach Dafürhalten der Kammer angesichts der nur geringfügigen Überschreitung der eingangs genannten, nur regelmäßig geltenden 20 %-Grenze nicht als unbillig zu qualifizieren.

Zur Verfahrensgebühr Nr. 5109 VV RVG sei ergänzt, dass die nach Aktenlage zu erwartende Vorbereitung der gerichtlichen Hauptverhandlung nach Dafürhalten der Kammer (schon) dem durchschnittlichen Bereich für die von den Gebührentatbeständen erfassten Ordnungswidrigkeiten zuzurechnen ist.

Ebenfalls nicht unbillig ist nach Dafürhalten der Kammer der Ansatz der Mittelgebühr von 255,00 Euro für die Terminsgebühr nach Nr. 5110 VV RVG, bei der vor allem auf die aufgewendete Zeit abzustellen ist: Eine Dauer von 30 Minuten ist bei Hauptverhandlungsterminen in den von Nr. 5110 VV RVG erfassten Bußgeldsachen nach Auffassung der Kammer als durchschnittlich anzusehen (vgl. m.w.N. Burhoff in Gerold/Schmidt, RVG 24. A., Vorbem. 5 Rn. 13).

Nach alldem war auch die nach Nr. 7008 VV RVG anzusetzende Umsatzsteuer wie vom Betroffenen beantragt mit 19 % auf den von ihm beantragten Betrag festzusetzen. Zwar beträgt nach Art. 3 Nr. 3 Abs. 1 des Zweiten Corona-Steuerhilfegesetz (Zweites Gesetz zur Umsetzung steuerlicher Hilfsmaßnahmen zur Bewältigung der Corona-Krise vom 29. Juni 2020) vom 1. Juli 2020 bis 31. Dezember 2020 die Steuer für jeden steuerpflichtigen Umsatz 16 Prozent der Bemessungsgrundlage. Entscheidend für die Anwendung dieses verringerten Steuersatzes ist jedoch der Zeitpunkt der Erledigung des anwaltlichen Auftrags. Der Auftrag des Verteidigers endete hier mit der Erreichung des Rechtsschutzziels durch das bereits im Mai 2020 rechtskräftig gewordene freisprechende Urteil und damit vor dem Zeitraum, in dem der reduzierte Umsatzsteuersatz galt.“

Pauschgebühr im „Oktoberfestattentat-Verfahren“, oder: Das OLG München springt über seinen Schatten

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Heute am RVG-Tag dann zunächst eine Entscheidung zu § 51 RVG. Dazu gibt es ja nicht mehr viele, über die man berichten könnte. Hier ist dann aber mal wieder eine, die ein Posting wert ist. Es handelt sich um den OLG München, Beschl. v. 22.01.2021 – 1 AR 251/20 – 1 AR 266/20, den mir der Kollege Dietrich aus München geschickt hat.

Ergangen ist der Beschluss im Verfahren betreffend das sog. Oktoberfestattentat. Ich erinnere Am 26.09.1980 wurde gegen 22:20 Uhr am Haupteingang der Theresienwiese in München ein Sprengkörper gezündet. Durch die Explosion inmitten der Menschenmenge auf dem Oktoberfest wurden dreizehn Personen getötet, mehr als 200 Menschen erlitten – z.T. schwerste – Verletzungen. Nach dem Ergebnis der Ermittlungen hatte ein bei dem Anschlag selbst getöteter Attentäter den Sprengsatz gebaut, ihn zum Tatort gebracht und gezündet. Ein vom GBA zunächst geführtes Ermittlungsverfahren wurde mit Verfügung vom 23.11.1982 gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt, nachdem sich der Verdacht weder gegen die dortigen Beschuldigten noch gegen unbekannte Mittäter erhärten ließ. Nachdem die förmliche Wiederaufnahme von Ermittlungen zunächst mit Verfügung vom 5.6.1984 abgelehnt worden war, nahm der GBA mit Verfügung vom 05.12.2014 die Ermittlungen gegen Unbekannt wieder auf. Das Ermittlungsverfahren wurde – nach der Durchführung weiterer, äußerst umfangreicher Ermittlungen – mit Verfügung vom 06.07.2020 erneut gem. § 170 Abs. 2 StPO eingestellt.

Der Kollege ist im Oktober 1982 von mehreren Geschädigten mandatiert worden. Er bestellte sich mit Schriftsatz vom 14.10.1982 gegenüber dem GBA und verfolgte diesem gegenüber in den Folgejahren im Auftrag der Geschädigten das Ziel, die Einstellung der Ermittlungen zu verhindern bzw. ihre Wiederaufnahme zu erreichen. Im Jahr 2008 wurde ihm von den gleichen Geschädigten erneut eine schriftliche Vollmacht erteilt; der Antragsteller zeigte mit Schriftsätzen vom 05.12.2008 und 30.01.2009 gegenüber dem GBA deren Vertretung an – er sei beauftragt „im Lichte neuerer kriminaltechnischer Erkenntnismöglichkeiten sowie sonstiger neuer Informationen (…) eine Wiederaufnahme der Ermittlungen zu erreichen.“ In der Folgezeit korrespondierte er weiterhin mit dem GBA und verschiedenen Institutionen und nahm auch Einsicht in verschiedene Spurenakten, bis er mit Schriftsatz vom 25.09.2014 außerdem die Vertretung weiterer Geschädigter anzeigte und erneut die Wiederaufnahme der Ermittlungen insbesondere die Beiziehung verschiedener näher bezeichneter Akten beantragte, was dann am 05.12.2014 geschah.

Mit Beschlüssen des Ermittlungsrichters beim BGH vom 08.02.2016, vom 09.02.2016 und vom 02.11.2017 wurde der Kollege insgesamt 16 Geschädigten gem. § 406g Abs. 1, 3 Satz 1 Nr. 1 StPO a.F., 406h Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 n.F., § 397a Abs. 1 StPO als Beistand beigeordnet. Der Kollege hat am 28.4./25.5.2016 beim BGH einen Antrag auf Gewährung eines Vorschusses i.H.v. 88.000,- bis 110.000,- EUR auf eine Pauschgebühr beantragt. Der sich der Ermittlungsrichter beim BGH hat sich insoweit für unzuständig erklärt (BGH AGS 2016, 398 = RVGreport 2016, 454). Das OLG hat den Antrag mit Beschluss vom 01.06.2017 zurückgewiesen.

Der Kollege  hat nunmehr die Bewilligung einer Pauschgebühr nach § 51 RVG zwischen 130.000,- und 160.000,- EUR beantragt. Die Vertreterin der Bezirksrevisorin hält eine Pauschvergütung in Höhe des Doppelten der Wahlverteidigerhöchstgebühren, welche 1.830,- EUR betragen würden, „zuzüglich eines gewissen Zuschlags im Hinblick auf die Vertretung von 15 Mandanten“ für angemessen. Das OLG hat eine Pauschgebühr von 36.600,– EUR bewilligt.

Das vorab. Hier stelle ich nur zwei Punkte umfangreicher vor. Im Übrigen sagt das OLG: Das Verfahren betreffend die Ermittlungen zum „Oktoberfestattentat“ war sowohl „besonders schwierig“ als auch „besonders umfangreich“ im Sinn des § 51 Abs 1. RVG, was wohl niemand bezweifeln will. Und: Die gesetzlichen Gebühren sind für den bestellten bzw. beigeordneten Rechtsanwalt nicht zumutbar i.S. des § 51 Abs. 1 RVG, wenn sie auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass ihm eine besondere Form der Indienstnahme Privater zu öffentlichen Zwecken abverlangt wird, ein unzumutbares Sonderopfer bedeuten würden,w as das OLG hier m.E. ebenfalls zutreffend bejaht.

Und dann nimmt das OLG noch zu der Frage Stellung, welche Tätigkeiten bei einem Verletztenbeistand für die Gewährung einer Pauschgebühr berücksichtigungsfähig sind, und zur Höhe der Pauschgebühr.

„b) Bei der Bemessung der Pauschvergütung sind jedoch die Tätigkeiten des Antragstellers seit seiner erneuten Vertretungsanzeige vom 05.12.2008 (einschließlich der dafür erforderlichen „Vorarbeiten“ seit 2006) zu berücksichtigen. Die Beiordnung durch den Ermittlungsrichter beim Bundesgerichtshof vom 08./09.02.2016 wirkte gebührenrechtlich zurück (§ 48 Abs. 6 RVG, vgl. Gerold/Schmidt a.a.O., Rn. 201 zu § 48 RVG); davon sind nach der Auffassung des Senats auch solche Tätigkeiten umfasst, die vor der förmlichen Wiederaufnahme der Ermittlungen mit Verfügung des Generalbundesanwalts vom 05.12.2014 vom Antragsteller mit dem Ziel der Wiederaufnahme unternommen wurden, da jedenfalls seit seiner neuen Bestellung klar war, dass seine nunmehrigen Bemühungen, Anregungen, Anträge, Einlassungen etc. bei der Entscheidung über die Wiedereröffnung des Verfahrens zu berücksichtigen sein würden.

c) Auch sind, wie der Antragsteller zutreffend vorträgt, keinesfalls nur solche Tätigkeiten berücksichtigungsfähig, die den Geschädigten unmittelbar zu Gute kamen, also „Beistand“ im engeren Sinne, z.B. bei der Erlangung von Entschädigung nach dem OEG. Den Geschädigten kam es vielmehr auch und gerade darauf an, die sogenannte „Einzeltäterthese“, die zur Einstellung der Ermittlungen am 23.11.1982 führte, zu hinterfragen. Unabhängig davon, ob sich diese These oder die vermutete Beteiligung Dritter an dem Bombenanschlag nach Jahrzehnten noch erhärten ließen oder nicht, kann es nach Auffassung des Senats den Verletzten im Sinne des Opferschutzes nicht versagt werden, sich in die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft „einzumischen“, um eigene Klarheit über den Hergang des ihnen zugefügten Unrechts zu erlangen. Dass dies dem Willen des Gesetzgebers entspricht, folgt bereits aus dem in § 406e Abs. 1 S. 1 StPO niedergelegten Akteneinsichtsrecht des Verletzten und etlichen weiteren Verletztenrechten, wie dem Recht, als Nebenkläger an der Hauptverhandlung teilzunehmen und dort eigene Rechte wahrzunehmen und gehört zu werden (vgl. § 397 Abs. 1 StPO einschließlich des Beweisantragsrechts aus § 244 Abs. 3 bis 6 StPO sowie des Erklärungsrechts, insbesondere des Rechts zum Schlussvortrag (vgl. §§ 257, 258 StPO).

Der Verletzte soll damit vom Verfahrensobjekt zum Verfahrenssubjekt werden; er hat nicht nur -als ineffektiv erkannte – Defensiv-, sondern „Offensivrechte“ (Anders, ZStW 2012, 374-410, juris). Das damit einhergehende Recht des Verletzten auf „aktive Einflussnahme“ (Anders a.a.O.) auf das Strafverfahren kann nach Auffassung des Senats nicht darauf beschränkt bleiben, sich mit den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft auseinander zu setzen und sich ggf. nach der Ermittlung des Täters im Strafverfahren einzubringen.

Auch im Lichte des bereits fast 20 Jahre alten Rahmenbeschlusses des Europäischen Rates vom 15.03.2001 über die Stellung von Opfern in Strafverfahren (2001/220/JI, Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften L 82/1), dessen Art. 3 S. 1 lautet: „Die Mitglieder gewährleisten, dass das Opfer im Verfahren gehört werden und Beweismittel liefern kann“ (Hervorhebung Senat), steht für den Senat außer Frage, dass Verletzten im Strafverfahren eine eigene, aktive Rolle zusteht.

Ob und in welchem Umfang der Verletztenbeistand diese Verletztenrechte im Ermittlungsverfahren ausübt, muss – vergleichbar dem Verteidigungsverhalten auf Seiten des Beschuldigten – dem pflichtgemäßen Ermessen des Rechtsanwalts überlassen bleiben. Zwar kann auch im Rahmen der Entscheidung über die Zubilligung einer Pauschgebühr nicht außer Betracht bleiben, ob die jeweils entfaltete anwaltliche Tätigkeit bei objektiver Betrachtung zur ordnungsgemäßen Wahrnehmung des Mandats tatsächlich geboten bzw. bei Zubilligung eines entsprechenden Ermessens-spielraums zumindest noch als objektiv sinnvoll anzusehende Handlung zur Wahrung der Interessen des Vertretenen anzusehen war (ständige Senatsrechtsprechung, z.B. B. v. 27.09.2016, 1 AR 293/16; so auch OLG Hamm, Beschluss vom 14. Januar 2013 — 111-5 RVGs 108/12 —, juris, m.w.N.). Die umfängliche Tätigkeit des Antragstellers, die auch und gerade Ermittlungstätigkeit war, ist vorliegend angesichts der überaus schwerwiegenden Tat einerseits und der auch aus der Sicht des Senats jedenfalls aus damaliger Sicht nicht völlig fernliegenden Hinweise auf weitere Täter keinesfalls als sachwidrige Wahrnehmung des Mandats anzusehen.

Der Senat ist daher, anders als die Generalbundesanwaltschaft und die Vertreterin der Bezirksrevisorin, der Auffassung, dass auch diejenigen Tätigkeiten des Antragstellers seit dem Jahr 2006, die auf die Aufklärung der Tat vom 26.09.1980 und ihrer Hintergründe zielten, von seiner Beauftragung als Vertreter der Verletzten umfasst waren und gebührenrechtlich ins Gewicht fallen.

d) Die Höhe der festzusetzenden Pauschgebühr kann vorliegend die Wahlverteidigerhöchstgebühren und auch deren Doppeltes überschreiten.

aa) Die Überschreitung der vom Gesetzgeber grundsätzlich für angemessen erachteten Wahl-verteidigerhöchstgebühren bei der Festsetzung einer Pauschvergütung (BT-Drucks. 15/1971 S. 2, 146) kommt zwar nur in extremen Ausnahmefällen in Betracht, denn diesen wird – anders als Pflichtverteidigern – kein Beitrag für das Allgemeinwohl (BVerfG, Beschluss vom 20. März 2007 – 2 BvR 51/07 —, juris) abverlangt. Erforderlich sind daher Umstände, die weit über die – ohnehin schon außergewöhnlichen – Gründe, die zur Festsetzung einer Pauschgebühr berechtigen, hin-ausgehen. Das OLG Bamberg folgert daraus, dass Gebühren oberhalb der Wahlverteidiger-höchstgebühren grundsätzlich gar nicht in Betracht kommen (OLG Bamberg, B. v. 15.12.2015, 10 AR 29/15). Das OLG München will dagegen für Extremfälle, bei denen die Bemühungen des Pflichtverteidigers auch durch die Wahlverteidigerhöchstgebühren nicht mehr in entferntesten abgegolten werden, die Festsetzung einer Pauschgebühr oberhalb dieser Grenze nicht völlig ausschließen (B. v. 21.01.2016, 1 AR 477/15; so auch OLG Nürnberg, B. v. 30.12.2014, 2 AR 36/14, juris). In Betracht kommen insbesondere solche Fälle, in denen die Gebührenordnung – z.B. mangels abrechenbarer Termine – die Tätigkeiten des Anwalts nicht mehr angemessen erfassen kann.

Ein solcher Fall liegt hier vor. Auch die Wahlverteidigerhöchstgebühren i.H.v. 1830,– Euro würden die Anstrengungen des Antragstellers nicht im entferntesten vergüten.

bb) Einer höheren Festsetzung als der doppelten Wahlbeistandsgebühr steht der Rechtsgedanke des § 42 Abs. 1 S. 4 RVG zwar im Grundsatz, aber nicht absolut und immer entgegen, da Wahlbeistände – anders als Pflichtbeistände – eine höhere Vergütung frei vereinbaren und insoweit auf außergewöhnlich umfangreiche Belastungen reagieren können (Senatsbeschluss v. 14.10.2015, 1 AR 367/15, (3-fache Wahlverteidigerhöchstgebühr), Senatsbeschluss 18.10.2019, 1 AR 322/19 (5-fache Wahlverteidigerhöchstgebühr); so auch insoweit überzeugend Gerold/Schmitt, a.a.O. Rn 41 zu § 51 RVG m.w.N.).

Der Senat ist bei der Überschreitung dieser für Wahlverteidiger vom Gesetzgeber errichteten Schwelle zwar äußerst zurückhaltend, da, wie ausgeführt, Wahlverteidiger anders als Pflichtverteidigern nicht von der Allgemeinheit in Anspruch genommen werden und ihnen insoweit grundsätzlich höhere Gebühren als Pflichtverteidigern zustehen – vorliegend würde jedoch auch eine Gebühr von insgesamt 3.660,– Euro dem Antragsteller ein Sonderopfer im Sinne des § 51 Abs. 1 S. 1 RVG auferlegen.

e) Nach ständiger Senatsrechtsprechung (z.B. 1 AR 97/18, B. v. 23.05.2018) kommt eine Berechnung der Pauschgebühr anhand der Arbeitszeit des Rechtsanwalts in Form eines „Stundenlohns“ nicht in Betracht. Die aufgewendete Arbeitszeit ist vielmehr Indiz für Umfang und Schwierigkeit des Verfahrens, nicht unmittelbarer Maßstab für die Entscheidung über die Pauschvergütung (BGH Rpfleger 1996, 169 Rdn. 9 nach juris). Das Rechtsanwaltsvergütungsgesetz will zwar im Gegensatz zur Bundesrechtsanwaltsgebührenordnung den Zeitaufwand des Rechtsanwalts stärker berücksichtigen. Es hat aber nicht Zeithonorare eingeführt, sondern es grundsätzlich bei Betragsrahmengebühren belassen (vgl. OLG Hamm Beschluss vom 13.03.2013 – 5 RVGs 108/12, Rdn. 19 nach juris) und lediglich bei den Terminsgebühren hinsichtlich der Zeitdauer der Hauptverhandlungstermine Abstufungen eingeführt (zit. OLG Nürnberg, Beschluss vom 30. Dezember 2014 — 2 AR 36/14 —, juris).

Dies vorausgeschickt, kann bei der Bemessung der Pauschgebühr der immense Aufwand, den der Antragsteller angesichts des vorbeschriebenen Umfanges des Verfahrens betrieben hat, nicht außer Acht gelassen werden. Der Senat ist davon überzeugt, dass der Antragsteller fast 1000 Stunden berücksichtigungsfähige Arbeitszeit seit 2008 aufgewendet hat. Er selbst teilt mit, er habe in den Jahren 1982 bis 2006, die der Senat aus vorbezeichneten Gründen für nicht berücksichtigungsfähig hält, insgesamt 410 Stunden aufgewendet. Bringt man diese von den 1382 Stunden in Abzug, die der Antragsteller – ohne weiteres glaubhaft – für seine gesamte Tätigkeit errechnet hat, bleibt ein Arbeitsaufwand, der den Rahmen einer „gewöhnlichen“ Beistandschaft bei weitem sprengt und zur Bewilligung einer großzügigen Pauschvergütung Anlass gibt.

f) Ebenfalls fällt ins Gewicht, dass der Antragsteller schwer traumatisierte Verletzte zu betreuen hatte. Beispielhaft sei auf den Geschädigten pp. verwiesen, der in seiner Mail vom 21.07.2014 die von ihm unmittelbar miterlebte Explosion und deren jahrzehntelangen schweren Folgen für seinen Lebensweg schilderte. Dass Schilderungen wie diese, die bereits beim Lesen erschüttern, den Antragsteller, der sich persönlich um die Geschädigten bemühte, besonders belasteten, bedarf keiner weiteren Begründung. Auch dieser Umstand ist nach ständiger Senatsrechtsprechung gebührenerhöhend zu berücksichtigen (z.B. Senatsbeschluss vom 08.10.2020, 1 AR 128/20).

g) Der Antragsteller war 16 Geschädigten beigeordnet. Auch wenn eine entsprechende Vervielfachung der ihm zustehenden Gebühren nicht in Betracht kommt, ist der mit der Vielfachvertretung verbundene erhöhte Aufwand selbstverständlich bei der Bemessung der Pauschgebühr erhöhend zu berücksichtigen.

h) Schließlich ist zu berücksichtigen, dass das Verfahren, was bereits die Dauer der erneuten Ermittlungen von 5 1/2 Jahren nahe legt, im höchsten Maße kompliziert und verwickelt war. Der Antragsteller hat sich, was der Inhalt seiner zahlreichen Schriftsätze beweist, zum „Experten“ des Oktoberfestattentates entwickelt. Ausweislich dem der Einstellungsverfügung vom 06.07.2020 zu Grunde liegenden Vermerk des Generalbundesanwalts war der Hinweis des Antragstellers auf eine neue Spur („Spur pp.“) der Anlass für die Wiederaufnahme der Ermittlungen……“

Sorry, war ein wenig mehr Text, aber wenn solch ein Beschluss vom OLG München kommt, ist es das wert 🙂 .