Archiv für den Monat: Februar 2021

Nachträgliche Erstreckung nur in Ausnahmefällen, oder: Wo steht das denn?

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Auch mit der zweiten Entscheidung, die ich vorstelle, dem LG Leipzig, Beschl. v. 19.01.2021 – 13 Qs 8/21 – habe ich Probleme. Das Ergebnis ist zwar richtig, ich verstehe allerdings nicht, warum das LG um die nachträögliche Erstreckung so ein Geeiere macht.

„Das als Beschwerde zulässige Rechtsmittel hat auch Erfolg und führt zur Feststellung, dass sich die Beiordnung als Pflichtverteidiger auch auf das Verfahren 4 Ls 108 Js 36754/19 erstreckt.

Zwar ist dem Amtsgericht durchaus recht zu geben, dass die Erstreckung nach Abschluss des Verfahrens nicht nahe liegt, da es sowohl dem Wunsch eines Angeschuldigten als auch des Verteidigers entsprechen kann, dass die Verteidigung im Rahmen eines Wahlmandats ausgeübt wird. Insoweit wird es regelmäßig einen Verteidiger obliegen müssen, einen entsprechenden Beiordnungsantrag zu stellen, da eine nachträgliche Erstreckung jedenfalls kein Regelfall darstellen kann (vgl. Gerold/Schmidt, RVG, 24. Aufl., § 48 RVG, Rdnr. 207).

Dabei wäre grundsätzlich davon auszugehen, dass die Erstreckung auszusprechen ist, wenn eine Beiordnung oder Bestellung unmittelbar bevorgestanden hätte, falls die Verbindung unter-blieben wäre (vgl. u.a. LG Düsseldorf StraFo 2012, 117 m.w.N.). In dem vorliegenden Fall hat der Verteidiger gerade in dem Verfahren unter dem staatsanwaltschaftlichen Aktenzeichen 108 Js 36754/19 trotz nochmaliger Verteidigungsanzeige an das Gericht bzw. gestelltem Antrag auf Akteneinsicht keinen Beiordnungsantrag gestellt.

Insoweit wäre die Beiordnung eines Pflichtverteidigers weiterhin nicht nahe liegend, da – wie bereits ausgeführt – die Vertretung eines Angeklagten auch im Rahmen der Ausübung eines Wahlmandates erfolgen könnte.

Insoweit wäre eine Erstreckung wohl nicht nahe liegend.

c) Allerdings vermag die Kammer in der vorliegenden Konstellation dem Beschwerdeführer die Erstreckung nicht zu versagen, da die amtsgerichtliche Vorgehensweise widersprüchlich ist.

Dem Gericht hat im Rahmen der Verfügung vom 06.11.2019 in dem Verfahren 950 Js 55313/19 den Beschwerdeführer dem Angeklagten als Pflichtverteidiger beigeordnet, wobei dem Gericht schon nach der Anklageschrift bewusst gewesen sein muss, dass dieser den Angeklagten auch in diesem Verfahren als (Wahl-)Verteidiger vertritt. Eine Notwendigkeit, den Beschwerdeführer als Pflichtverteidiger für dieses Verfahren beizuordnen, bestand aus der Argumentation des Amtsgerichts heraus nicht. Insbesondere wäre in dem Verfahren 950 Js 55313/19 in weitaus geringerem Umfang als in dem Verfahren 108 Js 36754/19 die Beiordnung eines Pflichtverteidigers geboten, was sich insbesondere auch in den unterschiedlichen Einzelstrafen hinsichtlich der jeweiligen Anklagevorwürfe zeigt.

Aufgrund dieser aus Sicht der Kammer widersprüchlichen Herangehensweise bzw. Sachbehandlung vermag die Kammer kein solches Eigenverschulden des Beschwerdeführers, dass er nicht auch in dem Verfahren 108 Js 36754/19 frühzeitig einen Erstreckungs- und/oder Beiordnungsantrag gestellt hat, zu erkennen, dass einer nachträglichen Erstreckung entgegen-stehen könnte. Eine solche Erstreckung kann auch noch nachträglich beantragt und ausgesprochen werden (vgl. Gerold/Schmidt, a.a.O., § 48 RVG, Rdnr. 209 m.w.N.).

Zumindest im Rahmen dieser Konstellation vermag die Kammer auch unter Berücksichtigung des Grundsatzes, dass Erstreckungen nur in Ausnahmefällen möglich sein sollen, den Antrag des Beschwerdeführers noch als zulässig und begründet erachten.

Nach alledem war das Rechtsmittel des Beschwerdeführers der Beschluss des Amtsgerichts Torgau aufzuheben, die Erstreckung i.S. des § 48 Abs. 6 S. 3 RVG auszusprechen und die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers der Staatskasse aufzuerlegen.2

Vor allem finde ich es immer ganz „reizend“, wenn ich zitiert werde – hier mit dem Gerold/Schmidt – aber dort nicht das steht, was belegt werden soll. So auch hier.

Rücknahme des Einspruchs gegen den Strafbefehl, oder: Das AG Tiergarten hat ein anderes RVG

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Und den Reigen der RVG-Entscheidungen eröffne ich heute mit dem AG Tiergarten, Beschl. v. 04.02.2021 – 254 Ds 231/19, den mir der Kollege Pagels aus Torgau geschickt hat.

Der Kollege war Pflichtverteidiger.  Als der angeklagte Mandant zur Hauptverhandlung beim AG nicht erschienen ist, hat das AG gem. § 408a Abs. 1 StPO einen Strafbefehl erlassen. Da der Kollege zunächst keinen Kontakt zu seinem Mandanten bekommen konnte, um die Frage zu besprechen, ob Einspruch eingelegt werden soll oder nicht, hat er gem. § 410 StPO Einspruch eingelegt. Nachdem er nach etwa drei Wochen die Angelegenheit besprechen konnte, ist der Einspruch zurückgenommen worden. Bei der Vergütungsfestsetzung hat der Kollege dann auch die zusätzliche Verfahrensgebühr Nr. 4141 Nr. 3 VV RVG geltend gemacht. Die wurde nicht festgesetzt. Das Rechtsmittel des Kollegen hatte keinen Erfolg.

„Die Gebühr gemäß VV 4141 RVG ist hier nicht entstanden.

Sofern ein Verteidiger den Angeklagten dahingehend berät, gegen einen Strafbefehl nach § 408 a StPO keinen Einspruch einzulegen, entsteht diese unstreitig nicht (u, a. OLG Nürnberg, 20.05.2009 — 2 Ws 132/09). Dies gilt entsprechend auch für eine baldige Rücknahme des Einspruchs.

VV 4141 I Nr. 3 RVG bezieht sich auf originäre Cs-Sachen, in denen durch Rücknahme des Einspruchs eine Hauptverhandlungstermin entbehrlich wird. Hier handelt es sich jedoch um eine Ds-Sache, in der die Hauptverhandlung bereits anberaumt war und am 07.05.2020 nur mangels Anwesenheit des Angeklagten nicht bis zum Abschluss durchgeführt werden konnte. Anders wäre der kostenrechtliche Ansatz nur dann zu bewerten, wenn nach der Eröffnung des Hauptverfahrens und vor Terminierung der Verteidiger an dem Erlass eines Strafbefehls mitwirkt (AG Bautzen AGS 2007, 307), so dass der Hauptverhandlungstermin entbehrlich wird, was hier nicht der Fall war.

Auch in den Konstellationen, in denen ein Hauptverhandlungstermin bereits stattgefunden hat, ausgesetzt wurde und nur durch Rücknahme des Rechtsmittels der neu anberaumte Hauptverhandlungstermin entbehrlich wird, entsteht die Gebühr nach VV 4141 RVG nicht (OLG Frankfurt. Beschl. v. 05.03.2011, 2 Ws 177/11). Dasselbe gilt für das Entfallen von Fortsetzungsterminen (OLG Köln, AGS 2006, 339). Daher ergibt sich auch aus einer analogen Anwendung von VV 4141 RVG hier keine andere Bewertung.“

Für mich ist es erschreckend, wie Gerichte zum Teil mit den anwaltlichen Gebühren umgehen und wie gering die Kenntnisse im Gebührenrecht sind. Zudem hat man auch den Eindruck – zumindest mal wieder bei dieser Entscheidung -, dass man als Entscheider nicht mal eben in einen Kommentar schaut, um eine Frage/Antwort abzusichern. Da wird offenbar einfach nur in Internetbanken pp. gesucht und die Entscheidung, die zu passend scheint, als das non plus ultra dargestellt, ohne zu hinterfragen, ob das überhaupt die h.M. ist und ob man, wenn man ein wenig gesucht hätte, auf der dann gefundenen Grundlage nicht ggf. anders entscheiden müsste. Aber: Warum soll man sich die Mühe machen? Es ist ja nicht das eigene Geld, um das es geht.

Zur Sache: Hätte hier der Amtsrichter mal in einen Kommentar geschaut, er wäre – hoffentlich – zu einer anderen Entscheidung gekommen bzw. hätte kommen müssen. Denn schon der Ansatz, die Nr. 4141 Anm. 1 Nr. 3 VV RVG beziehe sich – nur – auf originäre Cs-Sachen, in denen durch Rücknahme des Einspruchs eine Hauptverhandlungstermin entbehrlich werde, ist falsch. Das ergibt sich nicht aus dem Gesetz. Das unterscheidet in Nr. 4141 Anm. 1 Nr. 3 VV RVG nämlich nicht zwischen einem „originärem“ Strafbefehlsverfahren und einem nach § 408a StPO erlassenen Strafbefehl. In der Nr. 3 heißt es einfach nur: „..durch Rücknahme gegen den Strafbefehl …“. Dementsprechend wird auch an keiner Stelle in Rechtsprechung oder Literatur bisher die vom AG vertretene Auffassung vertreten. Gott sei Dank,. Denn sie widerspricht auch Sinn und Zweck der Nr. 4141 VV RVG, die honorieren soll, dass das Verfahren ohne Hauptverhandlung zu Ende geht, wodurch dem Verteidiger Gebühren, nämlich die Terminsgebühr für die Teilnahme am Hauptverhandlungstermin, verloren gehen. Dafür bietet die Nr. 4141 VV RVG einen Ausgleich. Das gilt aber auch in den Fällen, in denen ggf. ein Strafbefehl nach § 408a StPO erlassen worden und vom Verteidiger, der keinen Kontakt zum Mandanten hat, vorsorglich Einspruch eingelegt worden ist.

Mehr zu dem Ganzen demnächst in AGS und/oder StRR.

Kann ich den Entbindungsantrag per beA stellen?, oder: Ja, aber beim AG Frankfurt besser 4 Tage vor der HV

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Und zum Schluss des Tages dann eine Entscheidung aus dem Bußgeldverfahren, und zwar der OLG Frankfurt am Main, Beschl. v. 20.10.2020 – 1 Ss-OWi 1097/20. Der hinterlässt bei mir zumindest leichtes Kopfschütteln.

Entschieden hat das OLG über die Rechtzeitigkeit eines Entbindungsantrags (§ 73 Abs. 2 OWiG). Gegen den Betroffenen ist ein Bußgeldbescheid erlassen worden. Auf den Einspruch des Betroffenen hat das AG Termin zur Hauptverhandlung auf den 05.06.2020 um 8:40 Uhr anberaumt. Am 04.06.2020 stellte der Verteidiger des Betroffenen per besonderem elektronischen Anwaltspostfach (beA) einen Antrag, den Betroffenen von der Erscheinungspflicht in der Hauptverhandlung zu entbinden, der um 16:58 Uhr bei dem elektronischen Gerichts- und Verwaltungspostfach (EGVP) des AG einging. Der Antrag wurde am 05.06.2020 um 7:19 Uhr ausgedruckt, über die Hauspost verteilt und erreichte die Geschäftsstelle am 09.06.2020. Das AG hat in der Hauptverhandlung den Einspruch des Betroffenen nach § 74 Abs. 2 OWiG verworfen. Dagegen die Rechtsbeschwerde des Betroffenen, die – man glaubt es nicht – beim OLG Frankfurt keinen Erfolg hatte:

„Der Entbindungsantrag wurde jedoch nicht rechtzeitig gestellt.

a) Bei Beantwortung der Frage, wann ein Entbindungsantrag noch als „rechtzeitig“ gestellt anzusehen ist, verbietet sich jede schematische Lösung.

Es ist zu prüfen, ob in dem jeweiligen Einzelfall – angelehnt an den Zugang von Willenserklärungen im Zivilrecht – unter gewöhnlichen Umständen bei üblichem Geschäftsgang und zumutbarer Sorgfalt das Gericht von ihm Kenntnis nehmen hätte nehmen können und ihn deshalb einer Bearbeitung hätte zuführen müssen. Die reine Zeitspanne zwischen Antragseingang bis zum Hauptverhandlungstermin ist dabei nur ein Teilaspekt (OLG Rostock aaO.), wobei in diesem Zusammenhang die gewöhnlichen Geschäftszeiten des jeweiligen Gerichts nicht außer Acht zu lassen sind (vgl. OLG Bamberg, Beschl. v. 30.10.2007 – 2 Ss OWi 1409/07, BeckRS 2007, 19100). Außerdem ist zu berücksichtigen, ob – falls der Kommunikationsweg via Fax gewählt wurde – die Telekopie an den Anschluss der zuständigen Geschäftsstelle oder an einen allgemeinen Anschluss des Gerichts versandt wurde. Im letzteren Fall bedarf es eines Hinweises auf die Eilbedürftigkeit der Vorlage an den zuständigen Richter (OLG Bamberg, Beschl. v. 23.05.2017 – 3 Ss OWi 654/17, BeckRS 2017, 127442).

b) Vorliegend war es dem Gericht trotz ordnungsgemäßer gerichtsinterner Organisation nicht mehr möglich, den Antrag der zuständigen Richterin am Amtsgericht vor dem Hauptverhandlungstermin zur Bearbeitung vorzulegen. Die Übersendung per beA erfolgt an das EGVP, bei welchem es sich um ein zentrales Postfach des jeweiligen Amtsgerichts handelt. Die Eingangspoststelle ist für die Annahme, den Druck und die Verteilung der gesamten elektronischen Post des Amtsgerichts zuständig. Es kann schon angesichts des Regelungszusammenhangs der Arbeitszeitsvorschriften nicht erwartet werden, dass die Poststelle des Gerichts, wo die elektronischen Eingänge in das EGVP ausgedruckt werden, regelmäßig nach 17 Uhr und vor 8 Uhr besetzt ist. Der Antrag ist jedoch am Vorabend vor dem Hauptverhandlungstermin erst um 16:58 Uhr dem EGVP zugeleitet worden und die Verhandlung war auf 8:40 Uhr anberaumt. Damit lagen lediglich knapp 40 Minuten für die gerichtsinterne Weiterleitung des Schreibens in der üblicherweise zu erwartenden Kernarbeitszeit des Amtsgerichts. Dass die notwendigen Arbeitsschritte ohne Weiteres in weniger als einer Stunde Arbeitszeit hätten vorgenommen werden können, ist gänzlich lebensfremd. Zumindest hätte es, wie bei der kurzfristigen Übersendung per Fax an einen allgemeinen Gerichtsanschluss, eines – ohne Weiteres zumutbaren – Hinweises auf die Eilbedürftigkeit der Vorlage an den zuständigen Richter bedurft. Daran fehlt es.“

Wenn man die Entscheidung liest, möchte man dem OLG/der Justiz zurufen: Willkommen im 21. Jahrhundert. Da wird das beA propagiert und die elektronische Akte und der elektronische Rechtsverkehr sollen Pflicht werden, aber die Gerichte brauchen dann vier Tage, um einen Eingang auf die Geschäftsstelle zu transportieren. Das ist lächerlich und nicht hinnehmbar.

Im konkreten Fall ist die Entscheidung m.E. aber auch noch aus einem anderen Grund nicht hinnehmbar. Das OLG propagiert eine Einzelfallentscheidung bei der Beurteilung der Frage der rechtzeitigen Antragstellung. Und was macht es? Es stellt generalisierende Überlegungen an – wobei dahin gestellt bleiben soll, ob diese zutreffend sind. Das OLG übersieht, dass hier ja der Antrag nicht erst nach 8.00 Uhr ausgedruckt worden ist, sondern schon um 7.19 Uhr, so dass 1½ Stunden zur Verfügung standen, um den Antrag zu Geschäftsstelle zu transportieren oder, um dort anzurufen und auf den Antrag hinzuweisen. Warum das nicht möglich sein, erschließt sich nicht. Das hat nichts mit „Arbeitszeitvorschriften“ zu tun, sondern schlicht mit mangelndem Interesse an den Belangen des Betroffenen. Und das OLG Frankfurt am Main unterstützt das mit seinem widersprüchlichen Beschluss, oder: Rechtsschutz nur zwischen 8.00 und 17.00 Uhr. Zudem: Eine Auseinandersetzung mit anders lautender Rechtsprechung – wie z.B. OLG Bamberg, Beschl. v. 25.03.2008 – 3 Ss OWi 1326/08, das 30 Minuten vor HV-Beginn hat ausreichen lassen – erfolgt natürlich auch nicht.

Entschuldigung/Wiedergutmachung über Verteidiger, oder: Reicht das für einen Täter-Opfer-Ausgleich?

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Die zweite Entscheidung, der BGH, Beschl. v. 12.01.2021 – 4 StR 139/20 -, betrifft das StGB, und zwar die Frage nach einem Täter-Opfer-Ausgleich und/oder die Strafzumessung (§§ 46 ff. StGB).

Das LG hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Freiheitsberaubung, versuchter Nötigung und Sachbeschädigung zu der Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Dagegen die Revision, die hinsichtlich des Strafausspruchs Erfolg hatte:

„Der Strafausspruch des angefochtenen Urteils kann nicht bestehen bleiben, weil die Begründung, mit der das Landgericht dem Angeklagten eine Strafmilderung nach § 46a Nr. 1 StGB versagt hat, einer rechtlichen Prüfung nicht standhält.

1. Nach den Feststellungen zahlte der Angeklagte vor Beginn der Hauptverhandlung an die Prozessbevollmächtigte des Nebenklägers einen Betrag von 3.000 € und entschuldigte sich über seine Verteidigerin in schriftlicher Form beim Nebenkläger. Die Nebenklagevertreterin nahm den Geldbetrag und die Entschuldigung in schriftlicher Form für den Nebenkläger an.

Die Zahlung des Geldbetrages sowie die über die Verteidigerin erfolgte schriftliche Entschuldigung hat die Strafkammer bei der Strafrahmenwahl und der Strafzumessung im engeren Sinne als Strafmilderungsgesichtspunkt gewertet. Die tatbestandlichen Voraussetzungen einer Strafmilderung nach § 46a Nr. 1 StGB hat sie dagegen als nicht erfüllt angesehen. Die geständige Einlassung des Angeklagten in der Hauptverhandlung und die schriftliche Entschuldigung beim Nebenkläger seien lediglich über die Verteidigerin erfolgt. Die von der Verteidigung in der Hauptverhandlung gestellten Beweisanträge, mit welchen Beleidigungen und Bedrohungen des Geschädigten gegenüber dem Angeklagten vor und nach der ausgeurteilten Tat unter Beweis gestellt werden sollten, hätten gerade nicht gezeigt, dass der Angeklagte die Opferrolle des Geschädigten vollständig akzeptiert habe. Darüber hinaus sei vor dem Hintergrund des im Plädoyer der Nebenklage für angemessen erachteten Geldbetrages für die Wiedergutmachung in Höhe von 30.000 bis 36.000 € nicht erkennbar, dass der Geschädigte den Täter-Opfer-Ausgleich „ernsthaft mitgetragen“ und diesen als friedensstiftende Konfliktregelung „innerlich akzeptiert“ habe.

2. Diesen Erwägungen zur Versagung des Strafmilderungsgrundes aus § 46a Nr. 1 StGB begegnen durchgreifende rechtliche Bedenken.

a) Nach der Regelung des § 46a Nr. 1 StGB kann das Gericht die Strafe gemäß § 49 Abs. 1 StGB mildern, wenn der Täter in dem Bemühen, einen Ausgleich mit dem Verletzten zu erreichen, die Tat ganz oder zum überwiegenden Teil wiedergutgemacht oder deren Wiedergutmachung ernsthaft erstrebt hat. Dies erfordert grundsätzlich einen kommunikativen Prozess zwischen Täter und Opfer, bei dem das Bemühen des Täters auf einen umfassenden friedensstiftenden Ausgleich der durch die Straftat verursachten Folgen angelegt und Ausdruck der Übernahme von Verantwortung sein muss. Der kommunikative Prozess setzt keinen persönlichen Kontakt zwischen Täter und Opfer voraus, sondern kann auch durch Dritte vermittelt werden. Unverzichtbar ist nach dem Grundgedanken des Täter-Opfer-Ausgleichs aber eine von beiden Seiten akzeptierte, ernsthaft mitgetragene Regelung, was grundsätzlich voraussetzt, dass das Opfer die Leistungen des Täters als friedensstiftenden Ausgleich akzeptiert. Daher sind regelmäßig tatrichterliche Feststellungen dazu erforderlich, wie sich das Opfer zu den Wiedergutmachungsbemühungen des Täters gestellt hat (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteile vom 15. Januar 2020 . 2 StR 412/19 Rn. 8; vom 9. Oktober 2019 . 2 StR 468/18, NJW 2020, 486 Rn. 7 f.; vom 24. August 2017 . 3 StR 233/17 Rn. 13 ff.; vom 12. Januar 2012 . 4 StR 290/11, NStZ 2012, 439, 440; vom 7. Dezember 2005 . 1 StR 287/05, NStZ 2006, 275, 276).

b) Von diesen Grundsätzen ausgehend erweist sich die Begründung, mit welcher das Landgericht eine Strafmilderung nach § 46a Nr. 1 StGB verneint hat, in rechtlicher Hinsicht als nicht tragfähig.

Da der Ausgleich zwischen Täter und Opfer auch durch dritte Personen vermittelt werden kann, steht die Tatsache, dass die Entschuldigung beim Opfer und das für einen Täter-Opfer-Ausgleich in aller Regel erforderliche Geständnis des Täters (vgl. Eschelbach in Satzger/Schluckebier/Widmaier, StGB, 5. Aufl., § 46a Rn. 30 mwN) über die Verteidigerin erfolgten, der Annahme eines kommunikativen Prozesses im Sinne des § 46a Nr. 1 StGB nicht entgegen. Davon abgesehen, dass Prozesserklärungen eines Verteidigers dem Angeklagten nicht ohne Weiteres als eigene Erklärungen zugerechnet werden können, ist mit den in der Hauptverhandlung gestellten Beweisanträgen schon deshalb keine unzutreffende Relativierung der Opferrolle des Geschädigten verbunden gewesen, weil der Geschädigte den Angeklagten nach den vom Landgericht getroffenen Feststellungen sowohl vor als auch nach der ausgeurteilten Tat tatsächlich verbal bedrohte. Schließlich bleibt nach den Ausführungen in den Urteilsgründen unklar, wie sich der Nebenkläger zu den Ausgleichsbemühungen des Angeklagten gestellt hat. So zieht die Strafkammer aus dem von der Nebenklägervertreterin in ihrem Plädoyer in den Raum gestellten Geldbetrag für eine angemessene Wiedergutmachung den Schluss, dass nicht erkennbar sei, dass der Geschädigte den Täter-Opfer-Ausgleich ernsthaft mitgetragen und innerlich akzeptiert habe. Dies lässt sich indes mit der Feststellung, wonach die Nebenklagevertreterin die Zahlung von 3.000 € und die schriftliche Entschuldigung des Angeklagten für den Geschädigten annahm, nicht ohne weitere Darlegungen in Einklang bringen. Zu der Frage, ob die Zahlung von 3.000 € bei Anlegung eines objektivierenden Maßstabs (vgl. BGH, Urteile vom 15. Januar 2020 . 2 StR 412/19 Rn. 12; vom 9. Oktober 2019 . 2 StR 468/18, aaO, Rn. 9) der Höhe nach als ausreichende Leistung anzusehen ist, die geeignet erscheint, die Folgen der Tat zumindest zum überwiegenden Teil wiedergutzumachen, verhalten sich die Urteilsgründe nicht.“

Vernehmung eines Jugendlichen ohne Verteidiger und ohne Erziehungsberechtigte, oder: „So nicht!“

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Heute dann ein „Querbeet-Tag“, also von allem ein bisschen. Ein bisschen StPO, ein bisschen StGB und ein bisschen OWi.

Ich beginne mit der StPO-Entscheidung, dem AG Westerstede, Beschl. v. 30.09.2020 – 43 Ls 203/20 (345 Js 15556/20). Schon ein wenig älter, der Kollege hat ihn aber (leider) jetzt erst geschickt. Das AG hat zu den Folgen einer nichterfolgten Pflichtverteidigerbestellung und der Vernehmung eines Jugendlichen ohne Anwesenheit der Erziehungsberechtigten Stellung genommen.

Die Staatsanwaltschaft hat gegen den Jugendlichen Anklage wegen Verstoßes gegen das BtMG erhoben. Das AG hat die Eröffnung des Hauptverfahrens aus tatsächlichen Gründen abgelehnt:

„Die Eröffnung des Hauptverfahrens war aus tatsächlichen Gründen abzulehnen, da nicht davon auszugehen ist, dass dem Angeschuldigten in einer Hauptverhandlung eine Schuld an den angeklagten Taten nachzuweisen sein wird. Insgesamt ist aus Sicht des Gerichts keine Aussage in einer Hauptverhandlung zu erwarten, die die Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung begründet, so dass ein hinreichender Tatverdacht nicht gegeben ist.

Die Anklage beruht allein auf einer Einlassung des Angeschuldigten in seiner Beschuldigtenvernehmung am 13.01.2020 hinsichtlich eines Raubdeliktes vor der Polizei in Nordenham. Sein Verteidiger hat bereits angekündigt, dass sich der Angeschuldigte nicht nochmals zur Sache einlassen wird. Hinsichtlich der angeklagten Taten gibt es keine weiteren Zeugen oder Ermittlungsansätze. Damit stehen dem Gericht in einer Hauptverhandlung keinerlei Beweismittel zur Verfügung, die eine Verurteilung wahrscheinlich erscheinen lassen.

Denn das Gericht kann hier in diesem Fall nicht die vernehmenden Polizisten vom 13.01.2020 als Zeugen vernehmen, da hier ein Beweisverwertungsverbot eingreift.

Denn die Erlangung des Geständnisses erfolgte rechtsfehlerhaft. Zum einen war bereits die Festnahme des Beschuldigten am 13.01.2020 mit Rechtsfehlern behaftet. Zwar war die Polizei aufgrund des derzeit ermittelten Tatverdachtes hinsichtlich eines schweren Raubes befugt, den Beschuldigten zur Identitätsermittlung vorläufig festzunehmen und ggf. den Erlass eines Haftbefehls zu beantragen. Hier wurde der Beschuldigte aber nach erfolgter Identitätsfeststellung nicht entlassen und es wurde auch weder ein Antrag auf Erlass eines Haftbefehls bei der zuständigen Staatsanwaltschaft angeregt noch bei dem zuständigen Amtsgericht beantragt. Stattdessen wurde der Beschuldigte auf Grund von „Verdunkelungsgefahr“ polizeilich weiterhin festgehalten, weil er keine Angaben zum Sachverhalt machen wollte. Das Schweigen zu einem ihm vorgeworfenen Delikt ist aber sein Recht als Beschuldigter und stellt keine „Verdunklungsgefahr“ im Sinne des § 112 Abs. 2 Nr. 3 StPO dar. Trotzdem wurde der noch minderjährig Beschuldigte in Gewahrsam genommen und direkt als Beschuldigter vernommen, wo er nunmehr doch Angaben zu dem Raubsachverhalt machte. Hier wurde allerdings von der Polizei übersehen, dass ein Fall der notwendigen Verteidigung vorliegt, da dem Beschuldigten ein Verbrechenstatbestand zur Last gelegt wurde. Seit dem 01.01.2020 ist die Bestellung eines notwendigen Verteidigers für einen Jugendlichen bereits vor der polizeilichen Vernehmung erforderlich (§ 68a Abs. 1 JGG). Dies ist nicht geschehen. Auch wurden weder die Erziehungsberechtigten Eltern des Jugendlichen informiert oder hinzugezogen noch wurde der Jugendliche darüber belehrt, dass er ein Recht darauf hat, dass seine Eltern bei der Vernehmung anwesend sein dürfen bzw. er sich vorher mit diesen besprechen darf. An dem Fehlen der Belehrung ändert auch der Umstand nichts, dass der Jugendliche in der Vernehmung angeben hatte, er möchte nicht, dass seine Eltern an der Vernehmung teilnehmen. Der Jugendliche wurde damit nach einer unberechtigten Ingewahrsamsnahme ohne Beisein eines Verteidigers oder seiner Eltern vernommen. Innerhalb dieser Vernehmung wurde er dann ohne erneute Belehrung, dass er nun zu einem anderen Straftatbestand als den Raub befragt werden soll und ohne Benennung der einschlägigen Strafnormen zu den bei ihm aufgefundenen Drogen vernommen.

Hier machte der Jugendliche schlussendlich Angaben zu seinem vermeintlichen Drogenhandel. Unabhängig davon, ob diese Angaben — vor allem hinsichtlich des Zeitrahmens und des Umfanges — glaubwürdig sind, können diese Angaben nicht durch die vernehmenden Polizeibeamten in eine Hauptverhandlung eingeführt werden.

Denn das hier eindeutig vorliegende Beweisermittlungsverbot zieht in diesem konkreten Fall auch ein Beweisverwertungsverbot nach sich. So wird teilweise vertreten, dass bereits das bloße Fehlen der Belehrung auf das Recht der Besprechung mit seinem Erziehungsberechtigten vor der Vernehmung bzw. die rechtzeitige Bestellung eines Verteidigers zu einem Verwertungsverbot führe (vgl. Schuhr, in: Münchener Kommentar zur StPO, 2014, 1. A., § 136 Rd. 65; Eisenberg/Kölbel, JGG Kommentar, 21 A., 2020, § 67 Rd. 11b-d in Verbindung mit § 70c Rd. 28). Aber selbst wenn man der Auffassung folgt, dass ein Verstoß gegen § 67 JGG oder §§ 104, 141a StPO nicht zu einem absoluten Beweisverwertungsverbot führt, sondern dies nach den allgemeinen Grundsätzen der Abwägungslehre zu beurteilen ist (vgl. Schmitt in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO-Kommentar, 63. A., 2020, R 141a Rd. 11), ziehen die Verstöße hier nach einer konkreten Einzelfallbetrachtung ein Beweisverwertungsverbot nach sich. Denn hier liegt aufgrund der Kumulation der Verstöße ein schwerwiegender Rechtsverstoß vor. Da der Jugendliche rechtswidrig in Gewahrsam genommen wurde, ihm suggeriert wurde, er werde festgehalten, weil er von seinem Schweigerecht Gebrauch mache und vor der Vernehmung weder seine Eltern benachrichtigt noch ihm ein Verteidiger bestellt wurde, kann dies nur als ein schwerwiegender Verstoß eingeordnet werden. Solch eine Kumulation von Rechtsverstößen ist nicht hinzunehmen, so dass hier die so gewonnene Einlassung des Angeschuldigten nicht durch die Vernehmung der Polizeibeamten als Beweismittel zur Verfügung steht.

Weder stehen weitere Beweismittel zur Verfügung noch sind weitere Ermittlungsansätze ersichtlich, so dass eine Verurteilung nicht wahrscheinlich ist.“

Man mag es nicht glauben, wenn man es liest: Ein Jugendlicher wird festgehalten, weil er keine Angaben zur Sache machen will, dann wird er zu einem Verbrechenstatbestand ohne vorherige Bestellung eines Pflichtverteidigers und ohne Information der Erziehungsberechtigten vernommen und dann auch noch zu ganz anderen Vorwürfen befragt. Schlimmer geht nimmer. Aber offenbar ist es noch nicht schlimm genug, dass sich nicht eine Staatsanwaltschaft findet, die auch in einem solchen Fall dann auch noch Anklage erhebt. Es ist dann erst das AG, das mit einem mehr als deutlichen: „So nicht!“ die Eröffnung des Verfahrens ablehnt und so – wenn auch spät – wieder zur Rechtsstaatlichkeit zurückkehrt. Und ja: Ich habe §§ 68b JGG, 141a StPO nicht übersehen, sehe aber nach dem vom AG mitgeteilten Sachverhalt keinerlei Ansatzpunkt, um die Voraussetzungen dieser Vorschriften zu bejahen.

Rechtsmittel hat die Staatsanwaltschaft nach Auskunft des Kollegen aber dann nicht auch noch eingelegt. Wenigstens das hat man sich erspart.