Archiv für den Monat: November 2020

Unfall an der Bushaltestelle, oder: Umfang des dort geltenden Halteverbots

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Die zweite Entscheidung stammt auch vom LG Saarbrücken. Das hat im LG Saarbrücken, Urt. v. 13.11.2020 – 13 S 92/20 – über einen Verkehrsunfall im Bereich einer Bushaltestelle entschieden.

Dem lag folgendes Geschehen zugrunde:

„Die Klägerin parkte mit ihrem Fahrzeug auf dem Gehweg der pp.. im Bereich einer mit Haltstellenzeichen ausgewiesenen Bushaltestelle. Der Beklagte zu 1) fuhr mit dem Linienbus der Beklagten zu 2) diese Haltestelle an. Beim Verlassen der Örtlichkeit fuhr er an einem vor ihm stehenden weiteren Bus links vorbei und berührte hierbei mit seiner hinteren rechten Karosserie das parkende Fahrzeug der Klägerin auf dessen linker Seite. Auf den von der Klägerin vorgerichtlich geltend gemachten Schaden von insgesamt 9.617,40 € zahlte die Beklagte zu 2) ausgehend von einer eigenen Haftungsquote von 75 % einen Betrag von 6.200,76 € sowie weitere 1.008,54 €. Auf vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten leistete die Zweitbeklagte einen Betrag von 650,34 €.

Die Klägerin ist von einer Alleinhaftung der Beklagten ausgegangen und hat Klage erhoben. Das AG hat der Klage stattgegeben. Das LG ist von einer Haftungsverteilung von 25 % zu 75 % ausgegangen:

„1. Vorliegend hat neben den Beklagten auch die Klägerin grundsätzlich für die Folgen des streitgegenständlichen Unfallgeschehens gemäß §§ 7, 17 Abs. 1, 2 StVG i.V.m. § 115 VVG einzustehen, weil die Unfallschäden jeweils bei dem Betrieb eines Kraftfahrzeugs entstanden sind, der Unfall nicht auf höhere Gewalt zurückzuführen ist und für keinen der beteiligten Fahrer ein unabwendbares Ereignis im Sinne des §§ 17 Abs. 3 StVG darstellte.

a) Ein im Verkehrsraum geparktes Fahrzeug befindet sich im Betrieb, solange es den Verkehr irgendwie beeinflussen und für diesen eine Gefahr darstellen kann (vgl. BGH, Urteil vom 11. Februar 2020 – VI ZR 286/19, NJW 2020, 2116). Vorliegend stellte das verbotswidrig auf dem Gehweg neben der Bushaltestelle abgestellte Fahrzeug der Klägerin ein Hindernis im öffentlichen Verkehrsraum dar. Die damit einhergehende Gefahr einer Kollision anderer Verkehrsteilnehmer mit diesem Hindernis hat sich hier durch den Anstoß des die Bushaltestelle verlassenden Linienbusses verwirklicht, so dass der erforderliche Haftungszusammenhang gegeben ist.

b) Weiterhin hat die hierfür darlegungs- und beweisbelastete Klägerin den Unabwendbarkeitsnachweis nicht zu führen vermocht. Unabwendbar nach § 17 Abs. 3 StVG ist ein Ereignis nur dann, wenn es auch durch äußerste Sorgfalt – gemessen an den Anforderungen eines Idealfahrers, die erheblich über den Maßstab der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt i.S.v. § 276 BGB hinausgehen (BGH, Urteil vom 18. Januar 2005 – VI ZR 115/04, NZV 2005, 305) – nicht abgewendet werden kann (Scholten in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, a.a.O., § 17 StVG, Rn. 14 f. m.w.N.). Die besondere Sorgfalt des Idealfahrers muss sich dabei nicht nur in der konkreten Gefahrensituation, sondern auch bereits im Vorfeld manifestieren. Ein Idealfahrer hätte vorliegend eine mögliche Behinderung des Busverkehrs in seine Überlegungen mit einbezogen und sein Fahrzeug erst gar nicht verbotswidrig unmittelbar neben der Bushaltestelle auf dem Gehweg geparkt. Dass ein Bus an der Haltestelle rangieren oder diese wie vorliegend aufgrund Blockierung der Fahrspur schrägwinklig verlassen und dabei in den Bereich des angrenzenden Bürgersteigs geraten könnte, liegt im Bereich des Vorhersehbaren. Das Zuparken der in der Nähe befindlichen Behindertenparkplätze durch Nichtberechtigte stellte aus Sicht der Klägerin zwar verständlicherweise ein Ärgernis dar, zwang diese jedoch keinesfalls, verbotswidrig im Bereich der Bushaltestelle zu parken.

2. In die danach gebotene Haftungsabwägung der wechselseitigen Verursachungs- und Verschuldensanteile gemäß § 17 Abs. 1, 2 StVG hat die Erstrichterin einen den Beklagten zuzurechnenden, unfallursächlichen Verstoß gegen die allgemeinen Sorgfaltspflichten nach § 1 Abs. 2 StVO eingestellt. Dies ist zutreffend und wird von der Berufung auch nicht in Abrede gestellt.

3. Nicht zu folgen vermag die Kammer der erstinstanzlichen Entscheidung, soweit diese einen unfallursächlichen Verkehrsverstoß auf Seiten der Klägerin nicht berücksichtigt.

a) Zutreffend ist allerdings, dass sich der Verstoß der Klägerin gegen das aus § 12 Abs. 4 Satz 2, Abs. 4a StVO folgende allgemeine Parkverbot auf Gehwegen im Rahmen der Haftungsabwägung nach § 17 Abs. 1, 2 StVG nicht zu deren Lasten auswirkt. Denn das Verbot dient ausschließlich dem hier nicht berührten Schutz des Gehwegbenutzers. Ein Verstoß gegen ein Halte- oder Parkverbot begründet daher dann keine Mithaftung, wenn es – wie hier – nicht dem Schutz des Geschädigten dient (vgl. OLG Karlsruhe, Urteil vom 18. Mai 2012 – 9 U 128/11, NJW-RR 2012, 1237; LG Nürnberg-Fürth, Urteil vom 26. Juli 2007 – 8 O 2722/07, DAR 2007, 709).

b) Gleiches gilt, soweit § 20 Abs. 5 StVO dem Linienverkehr mit öffentlichen Verkehrsmitteln und Schulbussen den Vorrang vor dem fließenden Verkehr einräumt. Zum einen handelte es sich bei dem parkenden Fahrzeug der Klägerin nicht um fließenden, sondern um ruhenden Verkehr, zum anderen dient die Vorschrift dem Schutz von Fußgängern, die im räumlichen Bereich eines solchen Verkehrsmittels auf die Fahrbahn treten (vgl. (Spelz in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 1. Aufl. 2016, § 20 StVO, Rn. 9).

c) Eine Mithaftung der Klägerin lässt sich vorliegend auch nicht aus dem Umstand herleiten, dass im Bereich der streitgegenständlichen Haltestelle auch das Verkehrszeichen 283 (§ 41 StVO, Anlage 2) ein absolutes Halteverbot ausspricht. Denn dieses Zeichen bezieht sich lediglich auf die Fahrbahn, nicht aber auf den angrenzenden Gehweg (vgl. Lafontaine in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 1. Aufl., § 41 StVO (Stand: 09.06.2020), Rn. 271 mwN).

d) Unstreitig hat die Klägerin hier aber ebenfalls gegen das aus § 41 Abs. 1 StVO i.V.m. Verkehrszeichen 224 folgende Parkverbot innerhalb einer Strecke von 15 Metern vor und hinter einer Bushaltestelle verstoßen. Zwar dient das Zeichen 224 in erster Linie dem Zweck, die Fahrbahn der Haltestelle für das öffentliche Verkehrsmittel freizuhalten, um diesem ein ungehindertes An- und Abfahren i.S.v. § 20 Abs. 5 StVO zu ermöglichen (vgl. z.B. LG Karlsruhe, Urteil vom 20. Februar 2002 – 1 S 140/01, DAR 2003, 321). Es bezieht sich allerdings auch auf den Seitenstreifen, um das unbeeinträchtigte Ein- und Aussteigen von Fahrgästen zu gewährleisten (vgl. Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 43. Auflage, § 12 StVO, Rn. 51). Des Weiteren muss der Bereich neben den Haltebuchten auch deshalb freigehalten werden, da z.B. Gelenkbusse Überhänge haben, die beim Ein- und Ausfahren erfahrungsgemäß über die Bordsteinkante hinausragen können (vgl. LG Essen, Urteil vom 20. Februar 1980 – 1 S 27/80, VersR 1981, 963; Freymann in Geigel, Der Haftpflichtprozess, 28. Auflage, Kap. 27, Rn. 361). Dass ein Linienbus, wie vorliegend, aufgrund eines weiteren vor ihm haltenden Busses die Haltestelle schrägwinklig verlässt, dabei ein Teil des Hecks auf den Gehweg ausschwenkt und ein dort in unmittelbarer Nähe zur Bordsteinkante abgestelltes Fahrzeug berührt, gehört zu den vorhersehbaren Gefahren in einem Haltestellenbereich, vor denen das Parkverbot gerade auch schützen soll. Anders als die Klägerin meint, geht diese Ausweitung des Schutzbereichs des Parkverbotes auch nicht mit einer unkontrollierbaren Gefährdung von Fußgängern im Bereich der Bushaltestelle einher. Wie häufig, wenn im Straßenverkehr verschiedene Teilnehmer aufeinandertreffen, kann ein Ausschluss jeglicher denkbaren Gefahren für sämtliche Beteiligte nicht garantiert werden. Dies gilt insbesondere für den Schutz vor Gefahren, die auf die Beschaffenheit der am Verkehr teilnehmenden Fahrzeuge sowie deren Abmessungen zurückzuführen und für jedermann gut erkennbar sind. Dass ein zu nahes Herantreten an einen an- oder abfahrenden Kraftomnibus für einen Fußgänger im Bereich der Haltestelle mit Gefahren verbunden sein kann und er deshalb einen angemessenen Sicherheitsabstand zu dem Gefährt einhalten muss, versteht sich von selbst. Im Gegensatz zu einem abgestellten Fahrzeug ist ein Mensch in der konkreten Situation auch in der Lage, einer etwaigen Gefährdung durch ein vorhersehbares Ausschwenken eines Linienbusses vorzubeugen bzw. auszuweichen, zumal an der konkreten Haltestelle ausreichend Raum für Fußgängerverkehr bzw. wartende Fahrgäste vorhanden ist.

e) Bei der Abwägung der wechselseitigen Verursachungsbeiträge ist der Sorgfaltsverstoß der Klägerin mit 25 % gegenüber einer akzeptierten Mithaftung der Beklagten von 75 % angemessen berücksichtigt, weshalb die erstinstanzlich angenommene Alleinhaftung der Beklagten nicht aufrechterhalten bleiben kann. Dies gilt selbst dann, wenn man hier einen Verkehrsverstoß der Klägerin verneinen wollte. Denn das Abstellen eines Fahrzeugs unmittelbar neben einer Linienbushaltestelle begründet ein Hindernis, welches bereits aus sich heraus die Gefahr birgt, dass es zu Beschädigungen im Zusammenhang mit dem Personentransportverkehr kommt. Diese Gefahr hat sich vorliegend gerade verwirklicht, so dass auch gegen die Gewichtung der reinen Betriebsgefahr mit 25 % keine Bedenken bestehen.“

Abbiegeunfall im Einmündungsbereich einer Straßenkreuzung, oder: Haftungsverteilung

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Im „Kessel Buntes“ habe ich dann heute mal wieder zwei Entscheidungen zu Verkehrsunfällen. Die erste, das LG Saarbrücken, Urt. v. 03.07.2020 – 13 S 34/20 -, befasst sich mit mit der Haftungsverteilung bei einer Kollision im Einmündungsbereich einer Straßenkreuzung.

Das LG geht von folgendem Sachverhalt aus

„Die Klägerin befuhr mit dem bei der Drittwiderbeklagten haftpflichtversicherten Opel Agila 1,2 (amtl. Kennz. pp.) die pp., in die sie unmittelbar zuvor aus der pp. von pp. kommend mit einer Wendung abgebogen war und beabsichtigte, nach links wieder in die bevorrechtigte pp. (Zeichen 205 StVO) in Richtung … zurück einzubiegen. Der Erstbeklagte befuhr mit seinem bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversicherten 1er BMW (amtl. Kennz. pp.) die pp. aus pp. kommend und hielt im Bereich einer unmittelbar vor der Einmündung … rechtsseitig gelegenen Bushaltestelle an, weil er einen Kollegen zusteigen lassen wollte. Er hupte kurz, da er glaubte, den Mitfahrer am gegenüberliegenden Straßenrand erkannt zu haben. Als sich dies als Irrtum erwies, setzte er seine Fahrt auf der pp. fort, woraufhin es zur Kollision mit dem Fahrzeug der Klägerin kam, die mit dem Einbiegen in die pp. begonnen hatte. An beiden Fahrzeugen entstand Sachschaden. Die Klägerin nahm insoweit ihre Vollkaskoversicherung in Anspruch. Die Zweitbeklagte zahlte die geltend gemachte Selbstbeteiligung von 300 € vollumfänglich und auf die Auslagenpauschale unter Zugrundelegung eines eigenen Mithaftungsanteils von 1/3 8,67 €.“

Die Klägerin ist dann von einer Alleinhaftung der Beklagten ausgegangen, die Beklagetn von einer der Klägerin, sie haben Widerklage erhoben. Das AG hat „halbe/halbe“ gemacht Hiergegen wenden sich die Klägerin und die Beklagten mit Berufung und Anschlussberufung unter Weiterverfolgung ihrer erstinstanzlichen Ziele.

Das LG verteilt die Haftung 30 % zu 70 % zu Lasten der Beklagten:

„2. Nicht zu folgen vermag die Kammer der angefochtenen Entscheidung, soweit der Erstrichter in die gemäß § 17 Abs. 1, Abs. 2 StVG vorzunehmende Haftungsabwägung einen unfallursächlichen Verstoß der Klägerin gegen § 8 StVO (Vorfahrt) eingestellt hat.

a) Nach ständiger Rechtsprechung bei der Ausgleichspflicht mehrerer Unfallbeteiligter dürfen gemäß § 17 StVG nur erwiesene Umstände herangezogen werden (vgl. BGH, Urteil vom 16. Oktober 1956 – VI ZR 162/55, VersR 1956, 732; vom 22. November 1960 – VI ZR 23/60, VersR 1961, 69; vom 10. Januar 1995 – VI ZR 247/94, VersR 1995, 357 m.w.N.), wobei nach allgemeinen Beweisgrundsätzen jeweils der eine Halter die Umstände zu beweisen hat, die dem anderen zum Nachteil gereichen (vgl. BGH, Beschluss vom 3. Juli 1990 – VI ZR 319/89, VersR 1990, 1406, 1407; OLG Frankfurt VersR 1981, 841). Der Vorfahrtberechtigte, der sich auf einen Vorfahrtsverstoß beruft, hat daher grundsätzlich nachzuweisen, dass er für den Wartepflichtigen erkennbar war. Denn der Wartepflichtige hat das Vorfahrtsrecht eines herannahenden Verkehrsteilnehmers nur dann zu beachten, wenn das bevorrechtigte Fahrzeug in dem Augenblick, in dem der Wartepflichtige mit dem Einfahren beginnt, bereits sichtbar ist. Die bloße Möglichkeit, dass auf der Vorfahrtstraße ein Kraftfahrzeug herannahen könnte, löst noch keine Wartepflicht aus (vgl. BGH, Urteil vom 25. Januar 1994 – VI ZR 285/92, DAR 1994, 195; OLG Düsseldorf, Urteil vom 10. Februar 2015 – I-1 U 41/14; LG Osnabrück, Urteil vom 14. März 2018 – 1 S 335/17, RuS 2018, 498).

b) Zwar ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass bei einem Zusammenstoß eines bevorrechtigten Fahrzeugs mit einem wartepflichtigen Fahrzeug im Vorfahrtsbereich grundsätzlich ein Anscheinsbeweis für eine unfallursächliche Vorfahrtsverletzung durch den Wartepflichtigen spricht (BGH, st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 15.06.1982 – VI ZR 119/81, VersR 1982, 903 m.w.N.; Kammer, st. Rspr.; vgl. Urteil vom 28.03.2014 – 13 S 196/13, Zfs 2014, 446 m.w.N.; Urteil vom 29.04.2016 – 13 S 3/16, NJW-RR 2016, 1307 m.w.N.). Das „Kerngeschehen“ (hier einer Vorfahrtssituation) als solches ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (Urteil vom 13. Dezember 2016 – VI ZR 32/16, NJW 2017, 1177 m.w.N. zu den Grundsätzen des Anscheinsbeweises am Beispiel des Auffahrunfalls) als Grundlage eines Anscheinsbeweises allerdings dann nicht ausreichend, wenn weitere Umstände des Unfallereignisses bekannt sind, die als Besonderheit gegen die bei derartigen Fallgestaltungen gegebene Typizität sprechen. Ob der Sachverhalt in diesem Sinne im Einzelfall wirklich typisch ist, kann nur aufgrund einer umfassenden Betrachtung aller tatsächlichen Elemente des Gesamtgeschehens beurteilt werden, die sich aus dem unstreitigen Parteivortrag und den getroffenen Feststellungen ergeben (vgl. BGH a.a.O., NJW 2017, 1177).

c) Zweifelsohne wies vorliegend das Verkehrszeichen Nr. 205 (Vorfahrt achten) den aus der … kommenden Verkehr – und damit grundsätzlich auch die Klägerin – auf die Bevorrechtigung der die … befahrenden Verkehrsteilnehmer, wie den Erstbeklagten, hin. Besondere Bedeutung erlangt hier allerdings der Umstand, dass der Erstbeklagte nach übereinstimmender Darstellung der unfallbeteiligten Parteien sein Fahrzeug vorkollisionär in der unmittelbar vor dem Einmündungsbereich am rechten Fahrbahnrand befindlichen Bushaltestelle zum Stehen gebracht hatte und kurz vor dem Unfall von dort in die … eingefahren war. Nach den Ermittlungen des Sachverständigen … ist der Erstbeklagte – ausgehend von einer mittleren Anfahrgeschwindigkeit – auch bei einer für ihn günstigen Betrachtungsweise erst in einer Entfernung von ca. 16 m zu dem übereinstimmend in der Fahrbahnmitte der … angegebenen Kollisionsort auf die Fahrbahn eingefahren (vgl. Bl. 263, 284, 285 d.A.). Dies steht auch in Einklang mit seinem schriftsätzlichen Vortrag, er habe von der Bushaltstelle aus eine Wegstrecke von ca. 15 m zurückgelegt, als die Klägerin in die … eingefahren und es zur Kollision gekommen sei (Bl. 29 d.A.). Damit befand sich der Erstbeklagte allerdings bei Einfahrt in die … in einer Distanz zum Einmündungsbereich, innerhalb derer noch nicht sicher von einer Wiedereingliederung in den fließenden und damit bevorrechtigten Verkehr ausgegangen werden kann (vgl. BGH, Urteil vom 20. November 2007 – VI ZR 8/07, NJW 2008, 1305 zur Einfahrt aus einem verkehrsberuhigten Bereich in einer Entfernung von bis zu 30 m vor der Kreuzung). Hinzu kommt, dass sich nach den Feststellungen des Sachverständigen vorliegend die Darstellung der Klägerin, beide Fahrzeuge seien zeitgleich losgefahren, nicht widerlegen lässt. Daher kommt hier die ernsthafte Möglichkeit in Betracht, dass die Absicht des Erstbeklagten, in die … einzubiegen – ob er den Blinker betätigt hatte, steht ebenfalls nicht fest –, jedenfalls zum Zeitpunkt des Anfahrens der Klägerin für diese noch nicht erkennbar war. Damit fehlt dem zu beurteilenden Sachverhalt die für die Annahme eines gegen die Klägerin sprechenden Anscheinsbeweises erforderliche Typizität, ohne dass einer abschließenden Klärung bedürfte, ob die Vorfahrtsregelung des § 8 StVO in derartigen Konstellationen in einem Konkurrenzverhältnis zu der Vorfahrtsregelung des § 10 StVO steht (vgl. BGH, a.a.O., NJW 2008, 1305) oder beide Sorgfaltspflichten wechselseitig zur Anwendung kommen können (so wohl LG Kiel, Urteil vom 26. Februar 2019 – 1 S 67/18, NZV 2019, 370).

1. Die Klägerin trifft vorliegend allerdings ein nicht unerheblicher Sorgfaltsverstoß nach § 1 Abs. 2 StVO. Denn nach den Feststellungen des Sachverständigen hätte sie auch dann, wenn beide Fahrzeuge nahezu gleichzeitig angefahren wären, bei aufmerksamer Fahrweise und ausreichender Blickzuwendung das Einfahren des Erstbeklagten auf die … unmittelbar nach Beginn ihres eigenen Einfahrvorgangs erkennen und diesen noch unfallvermeidend wieder abbrechen können (Bl. 281, 283 d.A.). Die Klägerin selbst hatte insoweit erstinstanzlich eingeräumt, das in Kreuzungsnähe haltende Fahrzeug des Erstbeklagten – in welcher Entfernung und ob innerhalb der Bushaltestelle oder auf der Fahrbahn vermochte sie nicht mehr sicher zu sagen – erkannt zu haben und sich sodann auf ein Hupsignal (sowie ein nicht bestätigtes Aufblenden) des Erstbeklagten als Fahraufforderung verlassen zu haben. Demgegenüber wäre bei der gebotenen aufmerksamen Blickzuwendung auch während des Einfahrvorgangs eine gefahrvermeidende Reaktion der Klägerin auf das Anfahren des Beklagtenfahrzeugs möglich gewesen.

Nichts Anderes gilt diesbezüglich im Übrigen auch, wenn man die Unfallversion des Zeugen – Fahrzeug des Erstbeklagten hielt auf der Straße, Klägerin bereits angefahren, als Erstbeklagter anfuhr – zugrunde legen würde. Denn wie die Simulation des Sachverständigen pp. zeigt, wäre selbst dann wenn das Klägerfahrzeug bis etwa 1 Sekunde vor dem Beklagtenfahrzeug angefahren wäre, dessen Anfahrvorgang für die Klägerin erkennbar gewesen, zumal diese sich zu diesem Zeitpunkt maximal mit der linken Vorbauecke in die Fahrbahn der pp. hineinbewegt hatte (Bl. 242). Ohnehin wäre eine gesteigerte Aufmerksamkeit der Klägerin schon deshalb zu fordern gewesen, da sich das Beklagtenfahrzeug bei dieser Unfallvariante von Beginn an unübersehbar auf der Fahrbahn selbst in unmittelbarer Nähe zum streitgegenständlichen Einmündungsbereich und damit bereits innerhalb des Gefahrenbereiches befunden hätte.

2. Zu Recht hat der Erstrichter weiterhin einen Verstoß des Erstbeklagten gegen § 10 S. 1 StVO bejaht, wonach ein vom Fahrbahnrand oder einem anderen Straßenteil Anfahrender die Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer auszuschließen hat. Wie der Bundesgerichtshof in seiner jüngeren Rechtsprechung klargestellt hat, ist als „anderer Verkehrsteilnehmer“ jede Person anzusehen, die sich selbst verkehrserheblich verhält, d.h. körperlich und unmittelbar auf den Ablauf eines Verkehrsvorgangs einwirkt. Darunter fällt zwar „primär“ und „insbesondere“, aber nicht nur der fließende Durchgangsverkehr auf der Straße. Erfasst werden auch andere auf die Straße einfahrende oder am Straßenrand anfahrende Kraftfahrzeuge (vgl. BGH, Urteil vom 15. Mai 2018 – VI ZR 231/17). Den vom Fahrbahnrand Anfahrenden trifft insoweit der Beweis des ersten Anscheins, wenn es – wie hier – im räumlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem Anfahren zu einem Unfall mit dem fließenden Verkehr kommt (vgl. Scholten in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 1. Aufl. 2016, § 10 StVO, Rn. 60 m.w.N.). Dass der Erstbeklagte bis zum Kollisionspunkt bereits einige Meter auf der … zurückgelegt hatte, ändert hieran grundsätzlich nichts. Denn die Wiedereingliederung des Fahrzeuges in den fließenden Verkehr ist erst dann abgeschlossen, wenn jede Auswirkung des Anfahrvorganges auf das weitere Verkehrsgeschehen ausgeschlossen ist, und sich gerade nicht die typische Gefahr verwirklicht, dass andere Verkehrsteilnehmer sich noch nicht auf das Hineinbegeben des Fahrzeuges in den fließenden Verkehr eingestellt haben (vgl. OLG Hamm, Urteil vom 27. März 2015 – I-11 U 44/14, juris). Dies ist vorliegend aber gerade der Fall. Insbesondere haben die für eine etwaige fehlende Typizität des Sachverhalts beweisbelasteten Beklagten – anders als in dem der Kammerentscheidung vom 19.05.2017 – 13 S 4/17, DAR 2017, 470, zugrundeliegenden Sachverhalt – hier nicht nachzuweisen vermocht, dass der Anfahrvorgang des Erstbeklagten für die in der untergeordneten … stehende Klägerin vor Einleitung ihres eigenen Abbiegemanövers erkennbar war. Vielmehr verbleibt nach den Feststellungen des gerichtlichen Sachverständigen … hier gerade die Möglichkeit, dass beide Fahrzeuge zeitgleich anfuhren, so dass der Erstbeklagte der Klägerin gegenüber die höchstmögliche Sorgfalt zu beachten hatte.
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3. Vor diesem Hintergrund rechtfertigt sich im Rahmen der gemäß § 17 Abs. 1, 2 StVG gebotenen Abwägung der Verursachungsbeiträge die Annahme einer Haftungsverteilung von 30 % zu 70 % zu Lasten der Beklagtenseite. Dies trägt dem Gewicht des Verstoßes gegen die höchstmögliche Sorgfaltspflicht beim Anfahren nach § 10 S. 1 StVO einerseits sowie der Missachtung des Rücksichtnahmegebots andererseits angemessen Rechnung. Soweit der Erstbeklagte unter Verstoß gegen § 16 Abs. 1 StVO ein Hupsignal abgegeben und die Klägerin dieses entgegen § 16 Abs. 1 StVO (reines Warnzeichen) unzutreffend als Fahraufforderung gedeutet hat, erhöht sich die Betriebsgefahr auf beiden Seiten gleichermaßen.“

Ich habe da mal eine Frage: Wie rechne ich die Teilnahme an der mündlichen Anhörung in der StVK-Sache ab?

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Und dann noch das Gebührenrätsel, das heute mal wieder aus der FB-Gruppe Strafverteidiger stammt:

„…. erstmal einen guten Start in die Woche!

„Nun zu meinem Problemchen in einer Kostensache, vielleicht hat ja jemand eine grandiose Idee:

Ich wurde in einer Strafvollstreckungssache von einem Kollegen gebeten, als Pflichtverteidiger einen Termin zur mündlichen Anhörung wahrzunehmen. Das Ganze spielt in Brandenburg.

Zu diesem Termin wurde ich vom Gericht dann auch beigeordnet und habe anschließend einen Kostenersattungsanspruch beantragt mit Gebühren 4101, 4103, 7003, 7005 und 7002.

Nun teilt das Gericht mit, dass es nur die Terminsgebühr 4103 + Fahrtkosten 7003 als erstattungsfähig ansieht.

Ich habe nun schon allerhand dazu gelesen und wollte fragen, ob jemand gute Chancen sieht, die weiteren Gebühren durchzudrücken. Ich habe leider meine Zweifel, nachdem ich insbesondere die Rechtsprechung des OLG Brandenburg gelesen habe.

Vielen Dank schon vorab an Euch!“

Na, wer hat eine Idee?

Teilnahme an einem Explorationsgespräch bei einem Sachverständigen, oder: Vernehmungsterminsgebühr?

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Die zweite Entscheidung des Tages stammt vom LG Hamburg. Das hat im LG Hamburg, Beschl. v. 13.10.2020 – 601 Qs 28/20 – noch einmal zur Frage Stellung genommen, ob die Nr. 4102 VV RVG – also Vernehmungsterminsgebühr – entsprechend auf andere Termine anwendbar ist. In der Sache ging es um die Teilnahme des Verteidigers an einem Explorationsgespräch bei einem Sachverständigen.

Das LG hat die Frage erneut bejaht:

„In der Rechtsprechung und in der Literatur werden zu der Frage, ob die enumerative Aufzählung in Nr. 4102 VV RVG abschließend oder einer Auslegung bzw. einer analogen Anwendung zugänglich ist, unterschiedliche Auffassungen vertreten (zum Meinungsstand. Knaudt, in BeckOK, RVG, 49. Edition, Stand. 01 09.2020, RVG 4102 W, Rn. Il m.w.N.).

Die Kammer schließt sich insoweit der Auffassung des Landgerichts Hamburg in dem Beschluss vom 24. November 2016 (Az.: 617 Ks 22/16 bei Juris) sowie des Landgerichts Freiburg vom 04. Juli 2014 (Az.: 3 KLS 250 Js 24324/12 bei Juris) an, dass eine Terminsgebühr für die Teilnahme des Verteidigers an der Exploration seines Mandanten durch einen gerichtlich bestellten Sachverständigen anfällt und die Vergütungsvorschrift des Nr. 4102 VV RVG insoweit entsprechende Anwendung findet.

Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf die überzeugenden Erwägungen in der Entscheidung des Landgerichts Hamburg vom 24. November 2016 (BI. 535-539 d. A.) verwiesen. Zu Recht hat das Amtsgericht Hamburg-Altona in dem angegriffenen Beschluss ausgeführt, dass die Entscheidung des Landgerichts Hamburg vom 20. August 2019 (Az.: 603 Qs 53/19) eine andere Fallkonstellation in Form der anwaltlichen Teilnahme an der Gegenüberstellung zweier Fahrzeuge durch den Sachverständigen betrifft (BI. 565 d. A.) — mithin nicht die Teilnahme des Verteidigers an einem Explorationsgespräch durch einen gerichtlich bestellten Sachverständigen. Die Sachverhalte sind entsprechend nicht vergleichbar und stehen nicht im Widerspruch zu der Entscheidung des Landgerichts Hamburg vom 24. November 2016. Für eine entsprechende Anwendung der Vergütungsvorschrift des Nr. 4102 VV RVG bedarf es nämlich stets einer vergleichbaren Interessenslage, die bei der Teilnahme des Verteidigers an der Exploration des Mandanten nach hiesiger Rechtsaufassung unter Berücksichtigung der sachgerechten Erwägungen des Landgerichts Hamburg in seiner Entscheidung vom 24.November 2016 gegeben ist, was jedoch nicht zwangsläufig bei der Teilnahme des Verteidigers an der Gegenüberstellung zweier Fahrzeuge durch den Sachverständigen der Fall ist.“

Die Entscheidung ist falsch. Die Nr. 4102 VV RVG ist nicht entsprechend anwendbar.

Einziehung des Führerscheinformulars, oder: Entsteht die zusätzliche Verfahrensgebühr?

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Und im normalen Programm dann heute eine AG-Entscheidung und eine LG-Entscheidung.

Ich beginne mit der AG-Entscheidung, dem AG Freiburg, Urt. v. 06.11.2020 – 4 C 1193/20 -, das mit der Kollege Rinklin aus Freiburg geschickt hat. Das AG nimmt zu zwei zusätzlichen Gebühren Stellung, und zwar zur Nr. 4141 VV RVG und zur Nr. 4142 VV RVG. Geklagt worden ist gegen eine Rechtsschutzversicherung, die beide Gebühren nicht zahlen wollte. Sie muss aber, und zwar:

„a) Dem Kläger steht die streitige Gebühr nach VV 4141 RVG zu. Durch die Rücknahme des Einspruchs mit Schriftsatz vom 04.06.2019 hatte der Kläger daran mitgewirkt, dass eine Hauptverhandlung entbehrlich ist. Zum Zeitpunkt der Rücknahme war ein Hauptverhandlungstermin nicht bestimmt, so dass die Ausschlussfrist des Abs. 1 Nr. 3 nicht greift. Dass zuvor ein Hauptverhandlungstermin angesetzt gewesen war, vor Rücknahme des Einspruchs aber abgesetzt wurde, spielt keine Rolle. Insbesondere ist die Mitwirkung des Verteidigers an einer Verfahrensbeendigung nach § 411 Abs. 1 S. 3 StPO (Beschränkung des Einspruchs auf die Tagessatzhöhe mit Schriftsatz vom 14.05.2019) nicht fristgebunden und hat damit die Verfahrensgebühr selbst ohne Rücknahme des Einspruchs ausgelöst (VV 4141 Abs. 1 Nr. 4 RVG). Dass danach eine Rücknahme des gesamten Einspruchs erfolgte, führt nicht zum Wegfall der Verfahrensgebühr.“

Noch interessante ist der zweite Teil der Entscheidung, in dem es nämlich um die Nr. 4142 VV RVG geht. Die hatte der Kollege wegen der Einziehung des Führerscheinformulars im Verfahren – es handelte sich um eine Trunkenheitsfahrt – geltend gemacht. Das AG spricht die Gebühr zu:

„b) Dem Kläger steht auch die streitige Gebühr nach VV 4142 RVG zu. Die Einziehung des Führerscheinformulars fällt unter den Anwendungsbereich dieser Norm (Burhoff in Gerold/Schmidt, RVG-Kommentar, 24. Aufl., RVG VV 4142, Rn. 9 – zitiert nach Beck online).“

Das ist m.E. die erste gerichtliche Entscheidung, die sich zu der Frage der Nr. 4142 VV RVG in den Fällen verhält. Und die Frage wird richtig entschieden. Habe ich immer schon gesagt 🙂 . Und genauso interessant ist die Frage des Gegenstandswertes. Dazu hat sich das AG nicht geäußert, der Kollege hat mir aber mitgeteilt, dass er 5.000 EUR als Regelgegenstandswert angesetzt hatte. Und damit hatte das AG keine Probleme. Also: Immer an diese Gebühr denken.