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Abbiegeunfall im Einmündungsbereich einer Straßenkreuzung, oder: Haftungsverteilung

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Im „Kessel Buntes“ habe ich dann heute mal wieder zwei Entscheidungen zu Verkehrsunfällen. Die erste, das LG Saarbrücken, Urt. v. 03.07.2020 – 13 S 34/20 -, befasst sich mit mit der Haftungsverteilung bei einer Kollision im Einmündungsbereich einer Straßenkreuzung.

Das LG geht von folgendem Sachverhalt aus

„Die Klägerin befuhr mit dem bei der Drittwiderbeklagten haftpflichtversicherten Opel Agila 1,2 (amtl. Kennz. pp.) die pp., in die sie unmittelbar zuvor aus der pp. von pp. kommend mit einer Wendung abgebogen war und beabsichtigte, nach links wieder in die bevorrechtigte pp. (Zeichen 205 StVO) in Richtung … zurück einzubiegen. Der Erstbeklagte befuhr mit seinem bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversicherten 1er BMW (amtl. Kennz. pp.) die pp. aus pp. kommend und hielt im Bereich einer unmittelbar vor der Einmündung … rechtsseitig gelegenen Bushaltestelle an, weil er einen Kollegen zusteigen lassen wollte. Er hupte kurz, da er glaubte, den Mitfahrer am gegenüberliegenden Straßenrand erkannt zu haben. Als sich dies als Irrtum erwies, setzte er seine Fahrt auf der pp. fort, woraufhin es zur Kollision mit dem Fahrzeug der Klägerin kam, die mit dem Einbiegen in die pp. begonnen hatte. An beiden Fahrzeugen entstand Sachschaden. Die Klägerin nahm insoweit ihre Vollkaskoversicherung in Anspruch. Die Zweitbeklagte zahlte die geltend gemachte Selbstbeteiligung von 300 € vollumfänglich und auf die Auslagenpauschale unter Zugrundelegung eines eigenen Mithaftungsanteils von 1/3 8,67 €.“

Die Klägerin ist dann von einer Alleinhaftung der Beklagten ausgegangen, die Beklagetn von einer der Klägerin, sie haben Widerklage erhoben. Das AG hat „halbe/halbe“ gemacht Hiergegen wenden sich die Klägerin und die Beklagten mit Berufung und Anschlussberufung unter Weiterverfolgung ihrer erstinstanzlichen Ziele.

Das LG verteilt die Haftung 30 % zu 70 % zu Lasten der Beklagten:

„2. Nicht zu folgen vermag die Kammer der angefochtenen Entscheidung, soweit der Erstrichter in die gemäß § 17 Abs. 1, Abs. 2 StVG vorzunehmende Haftungsabwägung einen unfallursächlichen Verstoß der Klägerin gegen § 8 StVO (Vorfahrt) eingestellt hat.

a) Nach ständiger Rechtsprechung bei der Ausgleichspflicht mehrerer Unfallbeteiligter dürfen gemäß § 17 StVG nur erwiesene Umstände herangezogen werden (vgl. BGH, Urteil vom 16. Oktober 1956 – VI ZR 162/55, VersR 1956, 732; vom 22. November 1960 – VI ZR 23/60, VersR 1961, 69; vom 10. Januar 1995 – VI ZR 247/94, VersR 1995, 357 m.w.N.), wobei nach allgemeinen Beweisgrundsätzen jeweils der eine Halter die Umstände zu beweisen hat, die dem anderen zum Nachteil gereichen (vgl. BGH, Beschluss vom 3. Juli 1990 – VI ZR 319/89, VersR 1990, 1406, 1407; OLG Frankfurt VersR 1981, 841). Der Vorfahrtberechtigte, der sich auf einen Vorfahrtsverstoß beruft, hat daher grundsätzlich nachzuweisen, dass er für den Wartepflichtigen erkennbar war. Denn der Wartepflichtige hat das Vorfahrtsrecht eines herannahenden Verkehrsteilnehmers nur dann zu beachten, wenn das bevorrechtigte Fahrzeug in dem Augenblick, in dem der Wartepflichtige mit dem Einfahren beginnt, bereits sichtbar ist. Die bloße Möglichkeit, dass auf der Vorfahrtstraße ein Kraftfahrzeug herannahen könnte, löst noch keine Wartepflicht aus (vgl. BGH, Urteil vom 25. Januar 1994 – VI ZR 285/92, DAR 1994, 195; OLG Düsseldorf, Urteil vom 10. Februar 2015 – I-1 U 41/14; LG Osnabrück, Urteil vom 14. März 2018 – 1 S 335/17, RuS 2018, 498).

b) Zwar ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass bei einem Zusammenstoß eines bevorrechtigten Fahrzeugs mit einem wartepflichtigen Fahrzeug im Vorfahrtsbereich grundsätzlich ein Anscheinsbeweis für eine unfallursächliche Vorfahrtsverletzung durch den Wartepflichtigen spricht (BGH, st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 15.06.1982 – VI ZR 119/81, VersR 1982, 903 m.w.N.; Kammer, st. Rspr.; vgl. Urteil vom 28.03.2014 – 13 S 196/13, Zfs 2014, 446 m.w.N.; Urteil vom 29.04.2016 – 13 S 3/16, NJW-RR 2016, 1307 m.w.N.). Das „Kerngeschehen“ (hier einer Vorfahrtssituation) als solches ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (Urteil vom 13. Dezember 2016 – VI ZR 32/16, NJW 2017, 1177 m.w.N. zu den Grundsätzen des Anscheinsbeweises am Beispiel des Auffahrunfalls) als Grundlage eines Anscheinsbeweises allerdings dann nicht ausreichend, wenn weitere Umstände des Unfallereignisses bekannt sind, die als Besonderheit gegen die bei derartigen Fallgestaltungen gegebene Typizität sprechen. Ob der Sachverhalt in diesem Sinne im Einzelfall wirklich typisch ist, kann nur aufgrund einer umfassenden Betrachtung aller tatsächlichen Elemente des Gesamtgeschehens beurteilt werden, die sich aus dem unstreitigen Parteivortrag und den getroffenen Feststellungen ergeben (vgl. BGH a.a.O., NJW 2017, 1177).

c) Zweifelsohne wies vorliegend das Verkehrszeichen Nr. 205 (Vorfahrt achten) den aus der … kommenden Verkehr – und damit grundsätzlich auch die Klägerin – auf die Bevorrechtigung der die … befahrenden Verkehrsteilnehmer, wie den Erstbeklagten, hin. Besondere Bedeutung erlangt hier allerdings der Umstand, dass der Erstbeklagte nach übereinstimmender Darstellung der unfallbeteiligten Parteien sein Fahrzeug vorkollisionär in der unmittelbar vor dem Einmündungsbereich am rechten Fahrbahnrand befindlichen Bushaltestelle zum Stehen gebracht hatte und kurz vor dem Unfall von dort in die … eingefahren war. Nach den Ermittlungen des Sachverständigen … ist der Erstbeklagte – ausgehend von einer mittleren Anfahrgeschwindigkeit – auch bei einer für ihn günstigen Betrachtungsweise erst in einer Entfernung von ca. 16 m zu dem übereinstimmend in der Fahrbahnmitte der … angegebenen Kollisionsort auf die Fahrbahn eingefahren (vgl. Bl. 263, 284, 285 d.A.). Dies steht auch in Einklang mit seinem schriftsätzlichen Vortrag, er habe von der Bushaltstelle aus eine Wegstrecke von ca. 15 m zurückgelegt, als die Klägerin in die … eingefahren und es zur Kollision gekommen sei (Bl. 29 d.A.). Damit befand sich der Erstbeklagte allerdings bei Einfahrt in die … in einer Distanz zum Einmündungsbereich, innerhalb derer noch nicht sicher von einer Wiedereingliederung in den fließenden und damit bevorrechtigten Verkehr ausgegangen werden kann (vgl. BGH, Urteil vom 20. November 2007 – VI ZR 8/07, NJW 2008, 1305 zur Einfahrt aus einem verkehrsberuhigten Bereich in einer Entfernung von bis zu 30 m vor der Kreuzung). Hinzu kommt, dass sich nach den Feststellungen des Sachverständigen vorliegend die Darstellung der Klägerin, beide Fahrzeuge seien zeitgleich losgefahren, nicht widerlegen lässt. Daher kommt hier die ernsthafte Möglichkeit in Betracht, dass die Absicht des Erstbeklagten, in die … einzubiegen – ob er den Blinker betätigt hatte, steht ebenfalls nicht fest –, jedenfalls zum Zeitpunkt des Anfahrens der Klägerin für diese noch nicht erkennbar war. Damit fehlt dem zu beurteilenden Sachverhalt die für die Annahme eines gegen die Klägerin sprechenden Anscheinsbeweises erforderliche Typizität, ohne dass einer abschließenden Klärung bedürfte, ob die Vorfahrtsregelung des § 8 StVO in derartigen Konstellationen in einem Konkurrenzverhältnis zu der Vorfahrtsregelung des § 10 StVO steht (vgl. BGH, a.a.O., NJW 2008, 1305) oder beide Sorgfaltspflichten wechselseitig zur Anwendung kommen können (so wohl LG Kiel, Urteil vom 26. Februar 2019 – 1 S 67/18, NZV 2019, 370).

1. Die Klägerin trifft vorliegend allerdings ein nicht unerheblicher Sorgfaltsverstoß nach § 1 Abs. 2 StVO. Denn nach den Feststellungen des Sachverständigen hätte sie auch dann, wenn beide Fahrzeuge nahezu gleichzeitig angefahren wären, bei aufmerksamer Fahrweise und ausreichender Blickzuwendung das Einfahren des Erstbeklagten auf die … unmittelbar nach Beginn ihres eigenen Einfahrvorgangs erkennen und diesen noch unfallvermeidend wieder abbrechen können (Bl. 281, 283 d.A.). Die Klägerin selbst hatte insoweit erstinstanzlich eingeräumt, das in Kreuzungsnähe haltende Fahrzeug des Erstbeklagten – in welcher Entfernung und ob innerhalb der Bushaltestelle oder auf der Fahrbahn vermochte sie nicht mehr sicher zu sagen – erkannt zu haben und sich sodann auf ein Hupsignal (sowie ein nicht bestätigtes Aufblenden) des Erstbeklagten als Fahraufforderung verlassen zu haben. Demgegenüber wäre bei der gebotenen aufmerksamen Blickzuwendung auch während des Einfahrvorgangs eine gefahrvermeidende Reaktion der Klägerin auf das Anfahren des Beklagtenfahrzeugs möglich gewesen.

Nichts Anderes gilt diesbezüglich im Übrigen auch, wenn man die Unfallversion des Zeugen – Fahrzeug des Erstbeklagten hielt auf der Straße, Klägerin bereits angefahren, als Erstbeklagter anfuhr – zugrunde legen würde. Denn wie die Simulation des Sachverständigen pp. zeigt, wäre selbst dann wenn das Klägerfahrzeug bis etwa 1 Sekunde vor dem Beklagtenfahrzeug angefahren wäre, dessen Anfahrvorgang für die Klägerin erkennbar gewesen, zumal diese sich zu diesem Zeitpunkt maximal mit der linken Vorbauecke in die Fahrbahn der pp. hineinbewegt hatte (Bl. 242). Ohnehin wäre eine gesteigerte Aufmerksamkeit der Klägerin schon deshalb zu fordern gewesen, da sich das Beklagtenfahrzeug bei dieser Unfallvariante von Beginn an unübersehbar auf der Fahrbahn selbst in unmittelbarer Nähe zum streitgegenständlichen Einmündungsbereich und damit bereits innerhalb des Gefahrenbereiches befunden hätte.

2. Zu Recht hat der Erstrichter weiterhin einen Verstoß des Erstbeklagten gegen § 10 S. 1 StVO bejaht, wonach ein vom Fahrbahnrand oder einem anderen Straßenteil Anfahrender die Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer auszuschließen hat. Wie der Bundesgerichtshof in seiner jüngeren Rechtsprechung klargestellt hat, ist als „anderer Verkehrsteilnehmer“ jede Person anzusehen, die sich selbst verkehrserheblich verhält, d.h. körperlich und unmittelbar auf den Ablauf eines Verkehrsvorgangs einwirkt. Darunter fällt zwar „primär“ und „insbesondere“, aber nicht nur der fließende Durchgangsverkehr auf der Straße. Erfasst werden auch andere auf die Straße einfahrende oder am Straßenrand anfahrende Kraftfahrzeuge (vgl. BGH, Urteil vom 15. Mai 2018 – VI ZR 231/17). Den vom Fahrbahnrand Anfahrenden trifft insoweit der Beweis des ersten Anscheins, wenn es – wie hier – im räumlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem Anfahren zu einem Unfall mit dem fließenden Verkehr kommt (vgl. Scholten in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 1. Aufl. 2016, § 10 StVO, Rn. 60 m.w.N.). Dass der Erstbeklagte bis zum Kollisionspunkt bereits einige Meter auf der … zurückgelegt hatte, ändert hieran grundsätzlich nichts. Denn die Wiedereingliederung des Fahrzeuges in den fließenden Verkehr ist erst dann abgeschlossen, wenn jede Auswirkung des Anfahrvorganges auf das weitere Verkehrsgeschehen ausgeschlossen ist, und sich gerade nicht die typische Gefahr verwirklicht, dass andere Verkehrsteilnehmer sich noch nicht auf das Hineinbegeben des Fahrzeuges in den fließenden Verkehr eingestellt haben (vgl. OLG Hamm, Urteil vom 27. März 2015 – I-11 U 44/14, juris). Dies ist vorliegend aber gerade der Fall. Insbesondere haben die für eine etwaige fehlende Typizität des Sachverhalts beweisbelasteten Beklagten – anders als in dem der Kammerentscheidung vom 19.05.2017 – 13 S 4/17, DAR 2017, 470, zugrundeliegenden Sachverhalt – hier nicht nachzuweisen vermocht, dass der Anfahrvorgang des Erstbeklagten für die in der untergeordneten … stehende Klägerin vor Einleitung ihres eigenen Abbiegemanövers erkennbar war. Vielmehr verbleibt nach den Feststellungen des gerichtlichen Sachverständigen … hier gerade die Möglichkeit, dass beide Fahrzeuge zeitgleich anfuhren, so dass der Erstbeklagte der Klägerin gegenüber die höchstmögliche Sorgfalt zu beachten hatte.
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3. Vor diesem Hintergrund rechtfertigt sich im Rahmen der gemäß § 17 Abs. 1, 2 StVG gebotenen Abwägung der Verursachungsbeiträge die Annahme einer Haftungsverteilung von 30 % zu 70 % zu Lasten der Beklagtenseite. Dies trägt dem Gewicht des Verstoßes gegen die höchstmögliche Sorgfaltspflicht beim Anfahren nach § 10 S. 1 StVO einerseits sowie der Missachtung des Rücksichtnahmegebots andererseits angemessen Rechnung. Soweit der Erstbeklagte unter Verstoß gegen § 16 Abs. 1 StVO ein Hupsignal abgegeben und die Klägerin dieses entgegen § 16 Abs. 1 StVO (reines Warnzeichen) unzutreffend als Fahraufforderung gedeutet hat, erhöht sich die Betriebsgefahr auf beiden Seiten gleichermaßen.“