Archiv für den Monat: Oktober 2020

Entziehung der Fahrerlaubnis I: Arzneimitteleinnahme/ illegaler Anbau, oder: Unmittelbarkeitgrundsatz

entnommen wikimedia.org
Author H. Zell

Im „Kessel Buntes“ heute dann mal wieder zwei verwaltungsrechtliche Entscheidungen zur Entziehung der Fahrerlaubnis.

Ich beginne die Berichterstattung mit dem VG Aachen, Beschl. v. 18.08.2020 – 3 L 445/20. Ergangen ist der Beschluss im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO. Beantragt war, die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Ordnungsverfügung der Verwaltungsbehörde hinsichtlich der Entziehung der Fahrerlaubnis wiederherzustelle. Gestützt war die Entziehung auf  § 3 Abs. 1 StVG in Verbindung mit § 46 Abs. 1 Satz 2 FeV in Verbindung mit  Nr. 9.2.1 der Anlage 4 zur FeV . Der Fahrerlaubnisinhabe ist wegen regelmäßiger Einnahme von Cannabis im Sinne als ungeeignet angesehen worden. Man ist von täglichem oder nahezu täglichem Cannabis-Konsum ausgegangen. Die Einwände dagegen haben nicht durchgegriffen:

„Ohne Erfolg bleibt der sinngemäß erhobene Einwand, die vorgenannten Vorschriften über die Fahrungeeignetheit seien nicht anwendbar, weil beim Antragsteller eine Dauerbehandlung mit dem Arzneimittel Medizinal-Cannabis (Nr. 9.6.2 der Anlage 4 zur FeV) vorliege. So ist nach Aktenlage die Annahme gerechtfertigt, dass der Antragsteller neben dem ärztlichen verordneten (legalen) Cannabis über einen längeren Zeitraum regelmäßig zusätzlich (illegales) Cannabis aus eigenem Anbau konsumiert hat.

Am 12. Dezember 2019 entdeckten die Beamten der Kreispolizeibehörde Heinsberg bei der Vollstreckung eines Durchsuchungsbeschlusses eine kleinere Cannabisplantage unter der Anschrift des Antragstellers. Im Rahmen einer Beschuldigtenvernehmung wegen des Vorwurfs des illegalen Anbaus von Betäubungsmitteln (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 BtMG) gab der Antragsteller an: Die Pflanzen seien seine Medizin. Er habe Atteste, in denen ihm Cannabis als Schmerzmittel verschrieben werde. Er leide an einem abgebrochenen Wirbelkörper im Nackenbereich und an porösen Knochen sowie an Bandscheibenvorfällen. Ohne den Konsum von Cannabis würde er seit fünf Jahren im Rollstuhl sitzen. Er bekomme „Cannabis Flos Bedrocan 4,8 Gramm“ verschrieben, wie ärztliche Atteste vom 25. November 2019 und vom 7. Oktober 2019 zeigten. Dies sei aber zu wenig. Er brauche etwa „50 Gramm im Monat“. Der Anbau von Cannabispflanzen erfolge zum Eigenbedarf als Medikament.

Zu Recht hat der Antragsgegner diesen von der Polizei mitgeteilten Sachverhalt als fahreignungsausschließenden Cannabiskonsum nach Nr. 9.2.1 der Anlage 4 zur FeV gewertet. Eine Dauerbehandlung mit Arzneimitteln (Nr. 9.6.2 der Anlage 4 zur FeV) liegt nicht vor. Der Antragsteller hat nach eigenem Bekunden über einen längeren Zeitraum hinweg nicht ausschließlich Medizinal-Cannabis nach ärztlicher Anweisung, sondern darüber hinaus illegales Cannabis konsumiert. Wer aber außerhalb einer medizinisch-indizierten Medikation Cannabis konsumiert, entspricht typischerweise dem Regelfall, für den der Verordnungsgeber nach Nr. 9.2.2 der Anlage 4 zur FeV eine bindende Bewertung über die (fehlende) Fahreignung getroffen hat, vgl. dazu Satz 1 der Vorbemerkung Nr. 3 der Anlage 4 zur FeV. Eine Abweichung ist in diesem Fall nicht gerechtfertigt, vgl. dazu Satz 2 der Vorbemerkung Nr. 3 der Anlage 4 zur FeV.

Vgl. Verwaltungsgericht Aachen, Beschluss vom 14. Dezember 2018 – 3 L 1028/18 -, juris Rn. 24 und Beschluss vom 19. Oktober 2017 – 3 L 1246/17 -, juris Rn. 37.

Eine für die Fahreignung des Antragstellers günstigere Beurteilung ergibt sich nicht aus den Eingaben, die er nach der Entdeckung seiner Cannabisplantage am 12. Dezember 2019 gemacht hat.

Der „Widerruf“ mit Schreiben vom 25. Dezember 2019 an die Kreispolizeibehörde Heinsberg, wonach er „sämtliche Aussagen und Unterschriften, die am 12. 12. 19 [Tag der Beschuldigtenvernehmung] unter Druck“ gemacht worden seien, widerrufe, geht jedenfalls im fahrerlaubnisrechtlichen Verfahren vor dem Verwaltungsgericht ins Leere.

Zunächst fehlt schon jedweder Anhalt, dass der vernehmende Polizeibeamte, KHK L. , bei der Beschuldigtenvernehmung am Vorfallstag einen unzulässigen Druck auf den Antragsteller ausgeübt haben könnte. Insbesondere ist der Antragsteller ausweislich des Protokolls über die Beschuldigtenvernehmung vom 12. Dezember 2019 um 12:26 Uhr ordnungsgemäß über seine Rechte als Beschuldigter belehrt worden. Seine pauschale Distanzierung von den Angaben in der Beschuldigtenvernehmung durch das „Widerrufsschreiben“ vom 25. Dezember 2019 vermittelt den Eindruck, dass er es bereue, gegenüber dem Polizeibeamten den Sachverhalt offenbart zu haben.

Ferner kann aus dem vom Antragsteller erklärten „Widerruf“ nicht etwa ein Beweisverwertungsverbot abgeleitet werden mit der Folge, dass die polizeiliche Beschuldigtenvernehmung vom 12. Dezember 2019 als mittelbares Beweismittel unberücksichtigt bleiben müsste.

Die strengen strafprozessualen Regeln über die Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme (vgl. u.a. §§ 250 Satz 2, 254 der Strafprozessordnung – StPO -) sind auf den Prozess vor den Verwaltungsgerichten nicht übertragbar. Insbesondere lässt der für den Verwaltungsprozess in § 96 Abs. 1 VwGO normierte Grundsatz der (lediglich formellen) Unmittelbarkeit der Beweiserhebung es regelmäßig zu, dass das Verwaltungsgericht – wie hier – seine Beweiswürdigung auf den Inhalt der beigezogenen Akten und damit auf ein mittelbares Beweismittel stützt.

Vgl. zum Unterschied zwischen formeller und materieller Unmittelbarkeit ausführlich: OVG NRW, Urteil vom 23. Juli 2009 – 1 A 2084/07 -, juris Rn. 54 ff. (58); für die mit § 96 Abs. 1 Satz 1 VwGO identische Regelung des § 81 Abs. 1 Satz 1 FGO: Rüsken, Beweis durch beigezogene Akten, BB 1994, 761 ff. (765 f.); Böhm, Die Verwertung mittelbarer Beweismittel im Verwaltungsgerichtsprozess, NVwZ 1996, 427 ff. (431).

Eine analoge Anwendung des § 250 StPO im fahrerlaubnisrechtlichen Verwaltungsprozess kommt nicht in Betracht. Diese zentrale Norm der Strafprozessordnung verbietet für den Fall, dass der Beweis einer Tatsache auf der Wahrnehmung einer Person beruht, die Vernehmung dieser Person in der Hauptverhandlung durch die Verlesung des über eine frühere Vernehmung aufgenommenen Protokolls oder einer schriftlichen Erklärung zu ersetzen. Eine analoge Anwendung dieser Vorschrift im Verwaltungsprozess verbietet sich schon deshalb, weil der Gesetzgeber ein solches striktes Verbot erkennbar bereichsspezifisch allein für den Strafprozess aufgestellt, aber im Rahmen der (vielfach geänderten) Verwaltungsgerichtsordnung bis heute darauf verzichtet hat, eine vergleichbare Regelung oder eine Verweisung auf Regelungen der Strafprozessordnung zu schaffen. Der letztgenannte Umstand fällt deshalb besonders ins Gewicht, weil die Verwaltungsgerichtsordnung, wie insbesondere § 173 Satz 1 VwGO zeigt, durchaus die Regelungstechnik der Verweisung auf eine andere Prozessordnung – die Zivilprozessordnung – kennt, welcher im Übrigen eine Regelung wie die des § 250 StPO ebenfalls fremd ist.

Vgl. OVG NRW, Urteil vom 23. Juli 2009 – 1 A 2084/07 -, juris Rn. 64.

Das Schreiben des Antragstellers vom 26. Dezember 2019 an das Landgericht Mönchengladbach rechtfertigt ebenso wenig eine günstigere Beurteilung der Fahreignung. Darin erhebt der Antragsteller Einwände gegen die polizeiliche Durchsuchung vom 12. Dezember 2019 und macht geltend, er sei „nach ärztlicher Anweisung auf 1,5 Gramm Bedrocan Flos 26 %“ eingestellt, und zwar „täglich“. Eine entsprechende ärztliche Verschreibung bzw. Anweisung ist dieser Eingabe nicht beigelegt. Unabhängig davon würde die ärztliche Verschreibung im angegebenen Umfang nichts daran ändern, dass Überwiegendes dafür spricht, dass der Antragsteller jedenfalls in der Vergangenheit Cannabis aus illegalem Anbau konsumiert hat und sich daher nicht darauf berufen kann, er habe Medizinal-Cannabis eingenommen.

Ohne Erfolg weist der Antragsteller mit Schreiben vom 29. Mai 2020 darauf hin, dass ihm ausweislich einer – in Kopie beigefügten – ärztlichen Verschreibung vom 20. Dezember 2019 Cannabis Flos Bedrocan verschrieben worden sei, und zwar monatlich 45 Gramm bzw. täglich 1,5 Gramm. Dazu ergänzt er: In der Vergangenheit sei die Quantität und Qualität von ihm genau nach ärztlicher Anweisung erfolgt und sei „bis zu dem Raub am 12.12.19“ [Vorfall] mittels Feinwaage exakt eingehalten, danach aufgrund seiner Erfahrung geschätzt worden.

Hier genügt der erneute Hinweis des Gerichts, dass im Sinne des Fahrerlaubnisrechts ein Cannabiskonsum und nicht etwa eine Arzneimitteleinnahme vorliegt, wenn das ärztlich verordnete Cannabis – auch nur teilweise – durch illegalen Eigenanbau beschafft wird.

Zwar enthält illegal angebautes Cannabis denselben Wirkstoff, den das Medizinal-Cannabis aus der Apotheke besitzt. Es unterfällt aber nicht der gesetzlichen Privilegierung betäubungsmittelhaltiger Arzneimittel. Anders als bei der Einnahme des aus der Apotheke bezogenen Medizinal-Cannabis ist bei der Einnahme von illegal angebautem Cannabis keine exakte Kontrolle über die Menge des Konsums und deren Wirkstoffgehalt möglich. Eine gleichbleibende Dosierung kann nicht entsprechend sichergestellt werden. Damit können auch die Auswirkungen des Konsums auf die Fahreignung nicht zuverlässig überprüft werden.

Vgl. dazu: Verwaltungsgericht Karlsruhe, Urteil vom 30. Juni 2016 – 3 K 3375/15 -, juris Rn. 31.

Des Weiteren steht die Vorschrift des § 3 Abs. 3 Satz 1 StVG der Rechtmäßigkeit der Entziehungsverfügung nicht entgegen.

Danach darf die Fahrerlaubnisbehörde, solange gegen den Inhaber der Fahrerlaubnis ein Strafverfahren anhängig ist, in dem die Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 69 des Strafgesetzbuchs (StGB) in Betracht kommt, den Sachverhalt, der Gegenstand des Strafverfahrens ist, in einem Entziehungsverfahren nicht berücksichtigen. Sinn des in § 3 Abs. 3 Satz 1 StVG angeordneten Vorrangs der Entscheidung der Strafgerichte vor derjenigen der Fahrerlaubnisbehörde ist es, überflüssige und aufwändige Doppelprüfungen zu vermeiden und die Gefahr sich widersprechender Entscheidungen hinsichtlich der Frage der Fahreignung auszuschließen. Der Fahrerlaubnisbehörde fehlt daher in den in Absatz 3 geregelten Fällen bis zum rechtskräftigen Abschluss des Strafverfahrens die Entscheidungsbefugnis. Ob eine Entziehung der Fahrerlaubnis im Sinne der Vorschrift „in Betracht kommt“, beurteilt sich danach, ob das Strafverfahren eine Straftat zum Gegenstand hat, die von ihrer Art her eine Entziehung der Fahrerlaubnis zu rechtfertigen vermag, ob es mit anderen Worten in dem Strafverfahren um eine Straftat geht, wie sie § 69 StGB für eine Entziehung der Fahrerlaubnis voraussetzt.

Im vorliegenden Fall kommt für den hier Gegenstand des Strafverfahrens bildenden Sachverhalt eine Entziehung der Fahrerlaubnis nicht in Betracht. Das Strafverfahren gegen den Antragsteller wegen eines Verstoßes gegen § 29 Abs. 1 Nr. 1 BtMG, (illegaler Anbau von Betäubungsmitteln) eingeleitet.

Im Hinblick auf den Verstoß gegen § 29 Abs. 1 Nr. 1 BtMG ist die gerichtliche Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 69 StGB als ausgeschlossen anzusehen. Es handelt sich hierbei zunächst nicht um ein Vergehen, das gemäß § 69 Abs. 2 StGB bereits im Regelfall ohne weitere Gesamtprüfung die Ungeeignetheit des Fahrerlaubnisinhabers zum Führen von Kraftfahrzeugen indiziert und damit die Entziehung der Fahrerlaubnis rechtfertigt.

Eine Entziehung der Fahrerlaubnis nach Maßgabe von § 69 Abs. 1 Satz 1 StGB dürfte ebenfalls ausscheiden. Die Vorschrift setzt für die Anordnung dieser Maßregel der Besserung und Sicherung (vgl. § 61 Nr. 5 StGB) eine rechtwidrige Tat voraus, die bei oder im Zusammenhang mit dem Führen eines Kraftfahrzeugs oder unter Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers begangen worden ist. Da § 69 StGB den Schutz der Sicherheit des Straßenverkehrs bezweckt, erfordert die strafgerichtliche Entziehung der Fahrerlaubnis wegen charakterlicher Ungeeignetheit bei Taten im Zusammenhang mit dem Führen eines Kraftfahrzeugs, dass die Anlasstat tragfähige Rückschlüsse darauf zulässt, der Täter werde bereit sein, die Sicherheit des Straßenverkehrs seinen eigenen kriminellen Interessen unterzuordnen. Maßstab ist die Gefährlichkeit des Täters für den öffentlichen Straßenverkehr. Die Ungeeignetheit des Täters kann sich bei Begehung verkehrsunspezifischer Anlasstaten nur dann aus der Tat ergeben, wenn konkrete Umstände der Tatausführung im Zusammenhang mit einer Gesamtwürdigung von Tat und Täterpersönlichkeit Anhaltspunkte dafür ergeben, dass der Täter bereit ist, zur Erreichung seiner eigenen Ziele die Sicherheit des Verkehrs zu beeinträchtigen.

Vgl. Bundesgerichtshof (BGH), Großer Senat für Strafsachen, Beschluss vom 27. April 2005 – GSSt 2/04 -, NJW 2005, 1957.

Dafür bestehen hier keinerlei Anhaltspunkte. Vor diesem Hintergrund ist nach Aktenlage nicht davon auszugehen, dass im gegen den Antragsteller noch anhängigen Strafverfahren eine Entziehung der Fahrerlaubnis zu erwarten ist.

Die weitere Interessenabwägung fällt ebenfalls zu Ungunsten des Antragstellers aus……“

Ich habe da mal eine Frage: Ist die Vernehmungsterminsgebühr entstanden?

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Und jetzt ist „RVG-Rätsel-Time“. Dazu hatte ich ja neulich schon darauf hingewiesen, dass mein Ordner insoweit ziemlich leer ist. Daher kam mir die nachstehende Frage gestern in der FB-Gruppe „Strafverteidiger“ gerade recht. Da hieß es:

„Mal ne Gebührenfrage:

Mandant saß in U-Haft.

  1. HV-Termin im März wurde irgendwie wegen Corona in Haftprüfungstermin umgewandelt und HB-aufgehoben (war alles irgendwie nicht ganz so sauber)
  2. neuer HV-Termin im August. Mandant erscheint nicht. 230er HB
  3. HB-Verkündungstermin folgt zeitnah (ich konnte nicht anwesend sein)
  4. erneut erster HV-Termin im September
  5. Fortsetzungstermin Anfang Oktober mit Haftverschonung gegen Meldeauflage. Nächster Fortsetzungstermin in drei Wochen. Mandant hält Meldeauflage nicht ein. Wiedervollzugssetzung des Haftbefehls.
  6. Heute dann die Haftbefehlsverkündung nach Ergreifung, bei der ich anwesend war und zur Haftfrage verhandelt habe.

FRAGE: ist die Terminsgebühr für die heutige Vorführung durch die Termine 1 und 3 blockiert?

Termin 1 war ursprünglich ein regulärer HV-Termin, bei dem keine Zeugen erschienen waren und nur ein Vertretungsrichter da war. Der meinte dann nur, ach, wir machen dann einfach mal einen Haftprüfungstermin daraus und gut ist. Und bei Termin 3 (HB-Verkündungstermin) war ich nicht anwesend. Beim heutigen Termin Nr. 6 müsste dann die 4102 mit Zuschlag anfallen oder verkenne ich da etwas?“

Rücknahme des Strafantrags, oder: Wer trägt die Auslagen des Angeklagten?

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Und als zweite Entscheidung dann ein kostenrechtlicher Beschluss zu einer Vorschrift, die häufiger übersehen wird. Nämlich § 470 StPO, der die Kostentragungspflicht bei Zurücknahme des Strafantrags regelt. Dazu hat das LG Trier im LG Trier, Beschl. v. 05.10.2020 -1 Qs 65/20 – Stellung genommen.

Hier hatte die Geschädigte Strafantrag gestellt, die Staatsanwaltschaft hatte Anklage wegen Beleidigung erhoben. Das AG hatte das Hauptverfahren eröffnet, die Anklage zur Hauptverhandlung zugelassen und Termin zur Hauptverhandlung bestimmt. Dann hatte die Geschädigte, nachdem die Angeklagten sich bei ihr entschuldigt hatten, ihren Strafantrag zurückgenommen. Das AG hat das Verfahren nach § 206a Abs. 1 StPO eingestellt. Die Kosten des Verfahrens hat es gemäß § 467 Abs. 1 und 3 Nr. 2 StPO der Staatskasse überbürdet, die notwendigen Auslagen der Angeklagten wurden diesen auferlegt. Mit Schreiben vom 24.09.2020 hat einer Angeklagten über seinen Verteidiger sofortige Beschwerde gegen die Kostenentscheidung eingelegt. Die hatte Erfolg:

„Prozessual führt die Rücknahme zur Kostenlast für den Zurücknehmenden gemäß § 470 StPO. Nach der Eröffnung des Hauptverfahrens richtet sich die Kostenentscheidung nach der Regelung des § 470 S. 2 StPO, wonach in Abweichung von der Regel des Satz 1 die Kosten und Auslagen auch dem Angeklagten auferlegt werden können, soweit er sich zur Übernahme bereit erklärt hat. Der Angeklagte A. war zur Übernahme der Kosten nicht bereit, so dass die Kostenentscheidung insoweit schon aufzuheben ist.

Jedoch kommt eine Belastung der Staatskasse in Betracht, wenn es unbillig wäre die Beteiligten damit zu belasten. Im Rahmen dieser Kostenentscheidung aufgrund richterlichen Ermessens darf die Staatskasse jedoch gleichwohl nur ausnahmsweise – belastet werden, wenn anerkennenswerte Gründe vorliegen, die es unbillig erscheinen lassen würden, die Anzeigeerstatterin mit den Kosten und Auslagen zu belasten (Meier-Goßner/Schmitt, StPO 63. Aufl., § 470 Rdnr. 6).

Eine Überbürdung der notwendigen Kosten des Angeklagten auf die Anzeigenerstatterin und Geschädigte wäre vorliegend aber nicht sachgerecht. So hat nicht nur die Staatsanwaltschaft Trier das öffentliche Interesse bejaht und Anklage erhoben, statt die Anzeigenerstatterin auf den Privatklageweg zu verweisen. Das Amtsgericht hatte die Anklage bereits zugelassen und Hauptverhandlungstermin bestimmt. Die Anzeigenerstatterin hat den Strafantrag erst zurückgenommen, nachdem die Angeklagten sich bei ihr entschuldigt hatten und das Jugendamt, welches ihre Anzeige unterstützt hatte, der Rücknahme zugestimmt hatte. Das Amtsgericht erachtete es als angemessen, dass die Staatskasse die Kosten des Verfahrens trägt. Damit bestehen mehrere anerkennenswerte Gründe, die es ausnahmsweise rechtfertigen, der Staatskasse auch die notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers aufzuerlegen.“

Toleranzgrenze bei der Rahmengebühr, oder: Abstellen auf Gesamtgebühren oder auf Einzelgebühr?

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Am „Gebührenfreitag“ heute dann zunächst eine Entscheidung, die aus dem Sozialgerichtsverfahren stammt. Ja, richtig gelesen. Aber: Die Ausführungen des BayLSG im BayLSG, Beschl. v. 24.03.2020 – L 12 SF 271/16 E – passen auch für das Straf- oder Bußgeldverfahren. Der Beschluss behandelt nämlich eine Problematik in Zusammenhang mit § 14 RVG – also Rahmengebühr.

Dazu führt das BayLSG aus:

„…..

Innerhalb dieses Gebührenrahmens bestimmt der Rechtsanwalt nach § 14 Abs. 1 Satz 1 RVG die Gebühr im Einzelfall unter Berücksichtigung aller Umstände, vor allem des Umfangs und der Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit, der Bedeutung der Angelegenheit sowie der Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Auftraggebers und des Haftungsrisikos des Rechtsanwalts nach billigem Ermessen. Hiermit ist dem Rechtsanwalt ein Beurteilungs- und Entscheidungsvorrecht eingeräumt, das mit der Pflicht zur Berücksichtigung jedenfalls der in § 14 RVG genannten Kriterien verbunden ist. Unter Zugrundelegung der genannten Kriterien ist vorliegend mit der Ansicht des SG von einer deutlich überdurchschnittlichen Angelegenheit auszugehen.

Der Umfang und die Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit stellt sich auch nach Auffassung des Senats deutlich überdurchschnittlich dar……..

Zusammenfassend ist festzustellen, dass von einer deutlich überdurchschnittlichen Angelegenheit auszugehen ist, die auch nach Auffassung des Senats zwar nicht die Höchstgebühr, aber den Ansatz einer um 2/3 erhöhten Mittelgebühr gerechtfertigt.

b) Allerdings ist dem Rechtsanwalt nach § 14 1 RVG bei Rahmengebühren wie der Verfahrensgebühr ein Ermessensspielraum von 20 % (sog. Toleranzgrenze) zuzugestehen, der von Dritten wie von den Gerichten zu beachten ist (vgl. zuletzt BSG vom 12.12.2019, – B 14 AS 48/18 R -; vgl. auch BGH vom 11.07.2012 – VIII ZR 323/11 – juris RdNr.10; BGH vom 05.02.2013 – VI ZR 195/12 – juris RdNr 8). Ist die Gebühr – wie hier – von einem Dritten zu ersetzen, ist die von dem Rechtsanwalt getroffene Bestimmung nicht verbindlich, wenn sie unbillig ist (§ 14 Abs. 1 Satz 4 RVG). Der Ermessensspielraum verhindert, dass die Gerichte im Einzelfall bei relativ geringfügigen Überschreitungen (vor allem der Mittelgebühr) ihr Ermessen an die Stelle des Ermessens des Rechtsanwalts setzen und dabei oftmals aufwändige Überprüfungen vornehmen, ob die Tätigkeit vielleicht doch in gewissem Umfang anders zu bewerten (z.B. als leicht überdurchschnittlich) war (vgl. BGH, Urteil vom 08.05.2012, Az.: VI ZR 273/11). Damit wird der Aufwand für die Kostenbeamten und die Spruchkörper der Gerichte reduziert und Streit darüber, was noch als billig oder schon als unbillig zu gelten hat, leichter vermieden (vgl. BSG, Urteil vom 01.07.2009, Az.: B 4 AS 21/09 R); nicht zuletzt trägt die Vereinfachung auch dem verfassungsrechtlichen Gebot des Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG) Rechnung, gleich liegende Fälle gleich und unterschiedliche Fälle entsprechend ihren Unterschieden ungleich zu behandeln (BayLSG, Beschluss vom 01.04.2015, Az.: L 15 SF 259/14). Streitig ist jedoch, ob der Toleranzrahmen für die einzelnen Gebührentatbestände separat zu prüfen ist oder ob die 20 % auf die Gesamtgebühr (ohne Auslagen) bezogen sind. Für letzteres spricht – wie das SG zu Recht ausführt -, dass die Gebühren als Gesamtbetrag festgesetzt und zur Überprüfung gestellt werden (so auch BayLSG, Beschluss vom 01.04.2015, Az.: L 15 SF 259/14 E; LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 02.05.2012, Az.: L 20 AY 139/11 B; Toussaint in Hartmann/ders., Kostengesetze, 49. Aufl. 2019, § 14 RVG, RdNr. 24 unter Verweis auf OLG Koblenz, NJW 2005, 918).

Dennoch ist der Senat der Auffassung, dass bei der Festlegung der 20 % Toleranzgrenze nicht die gesamten Gebühren des Verfahrensabschnitts maßgebend sind, sondern vielmehr jeweils abzustellen ist auf die einzelne Gebühr. Eine dem Rechtsanwalt zuzubilligende und durch die Kostenfestsetzung zu beachtende Toleranzgrenze bei der Ermessensausübung kann nicht allgemein, sondern nur für den konkreten Einzelfall unter Bewertung der einzustellenden Kriterien und nach Durchführung einer Gesamtabwägung gezogen werden. Der sein Ermessen ausübende Rechtsanwalt hat die Kriterien des § 14 RVG jedoch bei jeder Gebühr, die er ansetzt (und deren Höhe sich nicht aus dem Gesetz ergibt), zugrunde zu legen und zu beachten, nicht erst bei der Gesamtgebühr. Es erscheint daher nicht sachgerecht, abweichend hiervon bei der Toleranzgrenze, die ein Ersetzen des Ermessens des Anwalts durch das Gericht bei geringfügigen, noch zu tolerierenden Abweichungen verhindern soll, auf die alleinige Betrachtung der insgesamt beantragten Gebühren abzustellen. Zudem wirkt sich – wie das SG zutreffend bemerkt – in Fällen wie dem vorliegenden, wo für einen der Gebührentatbestände (hier Terminsgebühr) die Höchstgebühr als angemessen anerkannt wird, die Toleranzgrenze bei Abstellen auf die Gesamtgebühren allein auf den anderen Gebührentatbestand (hier: Verfahrensgebühr) aus und erhöht die Toleranz insoweit deutlich. Gerade in Fällen, in denen eine Gebühr sehr hoch ist und eine weitere sich im unteren Bereich des Gebührenrahmens bewegt, führt das Abstellen auf die Gesamtgebühren im Ergebnis zu einer überproportionalen Erhöhung der niedrigen Gebühr. Für eine derartige Verzerrung des Gebührenrahmens besteht kein Anlass. Der Gesichtspunkt der Vereinfachung der Prüfpflicht der Kostenbeamten ist zudem auch bei einer Anwendung der Toleranzgrenze bezogen auf die einzelnen Gebühren gewahrt.

Auch der Senat hat wie das SG keine Bedenken, über die Toleranzgrenze zur Höchstgebühr zu gelangen. Zum einen ist die Toleranzgrenze überhaupt nur anzuwenden, wenn der Rechtsanwalt bei der Festsetzung tatsächlich Ermessen ausgeübt hat. Eine „verzerrende“, nur den Toleranzrahmen ausschöpfende Festsetzung wird damit verhindert. Die Toleranzgrenze ergibt sich systematisch aus der analogen Anwendung des § 315 BGB und teleologisch aus der Erwägung, dass möglichst Streit darüber vermieden werden soll, was „billig“ iSv § 14 RVG ist. Diese systematischen und teleologischen Erwägungen gelten unabhängig davon, ob über die Toleranzgrenze die Höchstgebühren erreicht werden oder nicht.“

Strafvollzug III: Die Liebesbeziehung der JVA-Beamtin zum Strafgefangenen, oder: Entfernung aus dem Dienst

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Und die dritte Entscheidung kommt auch aus dem Strafvollzug bzw. hat mit ihm zu tun. Es ist das OVG Koblenz, Urt. v. 15.6.2020 – 3 A 11024/19.OVG. Schon etwas älter, aber der Volltext stand jetzt erst zur Verfügung. Und die Entscheidung ist recht lang. Daher ziehe ich mich hier auf die PM 12/2020 des OVG v. 16.06.2020 zurück.

In der heißt es:

„JVA-Beamtin nach Liebesbeziehung zu Gefangenem aus dem Dienst entfernt

Eine Beamtin einer Justizvollzugsanstalt (JVA), die über mehrere Monate eine Liebes­beziehung zu einem Gefangenen eingegangen war und ihm dabei mehrere Nacktfotos von sich übersandt hatte, ist aus dem Dienst zu entfernen. Dies entschied das Ober­verwaltungsgericht Rheinland-Pfalz in Koblenz.

Im Dezember 2017 wurden bei einer Postkontrolle in einer JVA zahlreiche Briefe gefunden, die eine – zurzeit vom Dienst freigestellte – Justizvollzugsbeamtin mit einem damaligen Gefangenen ausgetauscht hat, sowie mehrere Nacktfotos von ihr. Auf die Klage des Landes hat die landesweit zuständige Disziplinarkammer des Verwaltungs­gerichts Trier die Justizvollzugsbeamtin aus dem Dienst entfernt, weil diese gegen das als Kernpflicht von Bediensteten im Strafvollzug ausgestaltete Zurückhaltungsgebot (Distanzgebot) verstoßen habe. Die Beamtin sei über mehrere Monate eine Liebes­beziehung zu einem Gefangenen eingegangen. Hierbei sei es unter Verschleierung der wahren Identität zu umfangreichem Briefverkehr – u.a. mit Offenbarung sexueller Vor­lieben und Phantasien sowie einer avisierten gemeinsamen Zukunft – sowie zur Über­lassung von Nacktfotos von ihr gekommen; ferner hat die Beamtin ein Armband und ein T-Shirt des Gefangenen unerlaubt mit nach Hause genommen. Eine Offenbarung der Beziehung und des Briefkontakts gegenüber der Anstaltsleitung sei nicht erfolgt. Mit diesen Verhaltensweisen habe sie ein schweres Dienstvergehen begangen und sich insgesamt als untragbar für den öffentlichen Dienst erwiesen. Sie habe aus eigensinni­gen Motiven verantwortungslos eine Gefährdungslage für den Strafvollzug geschaffen und dabei alle Kollegen schwer hintergangen, was einer Vertrauensbasis sowohl aus Sicht des Dienstherrn als auch aus Sicht der Allgemeinheit die Grundlage entziehe. Indem sie dem Gefangenen Nacktaufnahmen von sich überlassen habe, habe sie sich in erheblicher Weise erpressbar gemacht. Selbst nachdem der Gefangene verlegt und das Disziplinarverfahren eingeleitet worden sei, habe sie über Dritte versucht, ihr distanzloses Verhalten zum Gefangenen aufrechtzuerhalten. Schließlich habe die Beklagte sich bis zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung völlig uneinsichtig ins­besondere hinsichtlich des Umstands ihrer Erpressbarkeit gezeigt. Das Vertrauen in eine ordnungsgemäße Dienstverrichtung in der Zukunft sei damit nachhaltig zerstört (vgl. Pressemitteilung des Verwaltungsgerichts Trier Nr. 12/2019).

Mit ihrer gegen das verwaltungsgerichtliche Urteil eingelegten Berufung machte die Beamtin geltend, sie habe keine sexuelle oder sonstige intime Beziehung zu dem Gefangenen gehabt. Außerdem sei sie im Jahr 2016 wegen einer akuten Belastungs­reaktion und einer Anpassungsstörung in ärztlicher Behandlung gewesen. Das Ober­verwaltungsgericht wies nach Durchführung einer Beweisaufnahme, bei der unter anderem die aufgefundenen Briefe verlesen, der Gefangene als Zeuge vernommen und die Beamtin angehört wurden, die Berufung zurück.

Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme stehe zur Überzeugung des Gerichts fest, dass die Justizvollzugsbeamtin eine sexuelle bzw. Liebesbeziehung zu dem Gefange­nen über mehrere Monate eingegangen sei. Dies ergebe sich unzweifelhaft aus den aufgefundenen Briefen. Die Angaben sowohl des Gefangenen als auch der Beamtin selbst erschienen demgegenüber als nicht glaubhaft. Hiervon ausgehend teile das Gericht die Rechtsauffassung der Vorinstanz, dass die Beamtin ein schweres Dienst­vergehen begangen habe, das ihre Entfernung aus dem Dienst erfordere. Für eine ver­minderte Steuerungsfähigkeit der Beamtin seien keine hinreichenden Anhaltspunkte erkennbar.“