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Strafantrag I: Schriftform als Wirksamkeitserfordernis, oder: Online-Strafanzeige

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Und dann auf die 16. KW., allerdings womit 🙂 ?. Ich habe im Moment kein „Klima“, kein „beA“. Also gibt es StPO – das geht immer 🙂 -, und daraus zwei Entscheidungen zum Thema Strafantrag, und zwar einmal vom BGH und einmal vom KG.

Hier zunächst der BGH, Beschl. v. 21.11.2023 – 4 StR 72/23 -, also schon etwas älter und inzwsichen auch schon veröffentlicht. Aber dennoch..

Das LG hat den Angeklagten u.a. wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Übergriff verurteilt. Dagegen wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision, die teilweise Erfolg hatte. Der BGH hat das Urteil in drei Fällen der Verurteilung aufgehoben und eingestellt:

„In den Fällen II.5, II.7 und II.8 der UrteilsgrĂĽnde war das Urteil aufzuheben und das Verfahren gemäß § 206a StPO einzustellen, weil der Verurteilung wegen Verleumdung in drei Fällen gemäß § 187 StGB ein Verfahrenshindernis entgegensteht. Es fehlt an dem nach § 194 Abs. 1 Satz 1 StGB, § 158 Abs. 2 StPO erforderlichen schriftlichen Strafantrag der Verletzten.

1. Dem liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:

Am 8. Juli 2021 erstattete die Zeugin G. online auf dem Portal des Polizeipräsidiums Anzeige und schilderte, dass ein ihr unbekannter Mann am Vortag an ihrer Arbeitsstelle, in der Personalabteilung und in einer anderen Filiale ihres Arbeitgebers angerufen und behauptet habe, die Zeugin habe seinen Sohn sexuell belästigt und missbraucht. Zur Vorgeschichte schildert die Zeugin in der Online-Anzeige, dass dieser Mann ihre Cousine zwei Monate zuvor auf Snapchat kontaktiert und sie aufgefordert habe, ihr Trikot hochzuheben. Nach dem Telefonat habe sie den Mann aufgefordert damit aufzuhören und mit dem Gang zur Polizei gedroht. In der Folge wurde die Zeugin am 27. August 2021 in dem daraufhin eingeleiteten Verfahren wegen versuchten sexuellen Missbrauchs zum Nachteil ihrer Cousine polizeilich vernommen. Dabei machte sie auch Angaben zu der Verleumdung an ihrer Arbeitsstelle, die Anlass für ihre Anzeige war. Das Vernehmungsprotokoll wurde von der Zeugin unterschrieben. In dem weiteren Ermittlungsverfahren wegen Verleumdung zu ihrem Nachteil erschien die Zeugin dann nicht mehr zur Vernehmung.

2. Damit ist dem sich aus § 158 Abs. 2 StPO ergebenden Schriftformerfordernis für einen Strafantrag nicht genügt.

a) § 158 Abs. 2 StPO verlangt grundsätzlich die Unterschrift des Antragsstellers (vgl. BGH, Beschluss vom 6. Oktober 2020 – 4 StR 168/20 Rn. 6 mwN). Dazu kann auch ein unterschriebenes Vernehmungsprotokoll ausreichen, sofern dadurch der Verfolgungswille unmissverständlich und schriftlich zum Ausdruck gebracht wird (vgl. BGH, Urteil vom 18. Januar 1995 – 2 StR 462/94 Rn. 6). Für eine vergleichbare zweckorientierte Abschwächung des Formerfordernisses, wie sie für die Einreichung in Papierform anerkannt ist, lässt die für die Einreichung elektronischer Dokumente allein maßgebliche Vorschrift des § 32a StPO keinen Raum (vgl. BGH, Beschluss vom 12. Mai 2022 – 5 StR 398/21, BGHSt 67, 69 Rn. 9).

b) Daran gemessen genügen weder die online auf dem Portal des Polizeipräsidiums erstattete Anzeige noch das unterschriebene Vernehmungsprotokoll den Formerfordernissen eines Strafantrags.

Die Anzeige, die die Geschädigte am 8. Juli 2021 online auf dem Portal des Polizeipräsidiums erstattet hat, enthält keine Unterschrift. Auch das unterschriebene Vernehmungsprotokoll genĂĽgt den Anforderungen nicht, denn ein unmissverständlicher Verfolgungswille hinsichtlich des Antragsdelikts der Verleumdung lässt sich dem Protokoll nicht entnehmen. Soweit sich die Zeugin bei dieser Vernehmung zu den Verleumdungen äuĂźert, beschreibt sie lediglich den Grund fĂĽr ihre Anzeige; dass sie aber auch hinsichtlich dieser Delikte zu ihrem Nachteil eine Strafverfolgung erstrebt, ergibt sich daraus nicht.“

Die richtige Form des Strafantrages ist ja derzeit ggf. noch ein Verteidigungsansatz. Durch das „Gesetz zur weiteren Digitalisierung der Justiz“  sind aber Änderungen beim Schriftformerfordernis betreffend den Strafantrag geplant. Ich habe darüber berichtet. Das macht es demnächst ggf. schwieriger.

Strafantrag II: Formwirksamkeit des Strafantrags, oder: Keine Unterschrift, aber Verfolgungswillen erkennbar

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Die zweite Entscheidung kommt vom BGH. Der hat im BGH, Beschl. v. 23.08.2023 – 2 StR 176/23 – ebenfalls zur Wirksamkeit eines Strafantrages Stellung genommen, und zwar zur ausreichenden Form:

„Die auf die allgemeine SachrĂĽge veranlasste PrĂĽfung der Verfahrensvoraussetzungen hat ergeben, dass hinsichtlich der Beleidigung ein formgerechter Strafantrag des Geschädigten A.  vorliegt.

Der gemäß § 194 Abs. 1 StGB zur Verfolgung der Tat erforderliche Strafantrag kann nach § 158 Abs. 2 StPO bei Gericht oder der Staatsanwaltschaft schriftlich oder zu Protokoll der Geschäftsstelle angebracht werden, bei den Polizeibehörden dagegen nur schriftlich. Zur Wahrung der Schriftform ist grundsätzlich eine Unterschrift des Antragstellers erforderlich (BGH, Beschlüsse vom 6. Oktober 2020 ? 4 StR 168/20; vom 6. November 2019 – 4 StR 392/19).

Für Strafanträge, die als Papierdokument angebracht werden, sind angesichts des Zwecks der vorgeschriebenen Schriftform gewisse Lockerungen bei ihrer Einhaltung anerkannt. Durch das Formerfordernis soll nur sichergestellt werden, dass über den Verfolgungswillen des Antragstellers kein Zweifel entstehen kann (LR/Erb, StPO, 27. Aufl., § 158 Rn. 47). Zudem soll (im Wege des Freibeweises jederzeit nachprüfbare) Klarheit über die Identität des Antragstellers geschaffen werden (KK-StPO/Weingarten, 9. Aufl., § 158 Rn. 44 mwN). Diese Zwecke können im Einzelfall auch ohne eine Unterschrift erfüllt sein, wenn aus dem Schriftstück in einer jeden Zweifel ausschließenden Weise ersichtlich ist, von wem die Erklärung herrührt, und feststeht, dass es sich nicht nur um einen Entwurf handelt, sondern es mit Wissen und Wollen des Berechtigten der zuständigen Stelle zugeleitet worden ist (vgl. BGH, Beschluss vom 12. Mai 2022 – 5 StR 398/21 mwN; Goers in Beck-OK/StPO, 48. Ed., § 158 Rn. 48).

Dies ist vorliegend der Fall. Zwar liegt kein vom Geschädigten unterschriebener Strafantrag vor. Der durch die Messerstiche des Angeklagten schwer verletzte Geschädigte wurde vielmehr noch am Tattag im Krankenhaus mittels Videovernehmung vernommen und erklärte dabei gegenüber der Vernehmungsbeamtin, er stelle Strafantrag. Zu Ablauf und Gegenstand der Videovernehmung fertigte die Vernehmungsbeamtin am selben Tag einen Vermerk, die Vernehmung wurde schließlich am 29. Juli 2022 verschriftet. Das Transkript schließt mit dem Namen der Person, die die Verschriftung gefertigt hat. Ausweislich des Protokolls der Hauptverhandlung wurde der im Transkript enthaltene Strafantrag im Hauptverhandlungstermin vom 20. Dezember 2022 im Beisein des Geschädigten verlesen und die Richtigkeit der Angaben von ihm bestätigt. Angesichts dieser Abläufe besteht hinreichende Klarheit über die Identität des Antragstellers und das Vorhandensein und den Umfang des Verfolgungswillens.

Strafantrag I: Die Wirksamkeit des Strafantrags, oder: Wenn der Antragsteller nicht geschäftsfähig ist/war

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Und auf in die 40. KW., die ja kurz ist, na ja: Sie hat einen Arbeitstag weniger, aber sonst…. 🙂 .

Ich beginne heute mit zwei Entscheidungen zum Strafantrag (§ 158 StPO und §§ 77 ff. StGB). Dazu hat zunächst das AG Dresden im AG Dresden, Urt. v. 26.07.2023 – 216 Ds 131 Js 54399/20 – Stellung genommen.

Folgender Sachverhalt: Angeklagt war Untreue. Die Angeklagte war mit Generalvollmacht vom 07.11.2018 vom Geschädigten  bevollmächtigt worden, ihn in allen Angelegenheiten zu vertreten. Insbesondere wurde die Angeklagte vom Geschädigten bevollmächtigt, dessen Vermögen zu verwalten und dahingehend alle Rechtshandlungen und Rechtsgeschäfte, darunter auch Schenkungen in dem für einen Betreuer rechtlich gestatteten Rahmen vorzunehmen.

Unter Nutzung der Generalvollmacht des Geschädigten verschaffte sich die Angeklagte unmittelbar nach Vollmachterteilung Zugriff auf die Gemeinschaftskonten des Geschädigten sowie dessen zwischenzeitlich verstorbener Ehefrau bei verschiedenen Banken. Den Zugriff auf die  Konten nutzte die Angeklagte sodann, um diese am 28.11.2018 aufzulösen und die Guthaben in einer Gesamthöhe von 25.137,08 EUR auf ein anderes Konto zu überweisen, um so eine höchstmögliche Liquidität des Kontos zu ermöglichen. Der Tagesendsaldo betrug nach der Auflösung der Konten 40.727,41 EUR.

Von dem noch verbliebenen Konto der Geschädigten überwies sich die Angeklagte sodann verschiedene Beträge auf ihrKonto, obwohl sie wusste, dass ein Rechtsgrund oder ein Ermächtigung der Geschädigten Eheleute für die Überweisungen nicht bestand und die Vollmacht derartige Überweisungen nicht umfasste. Den Geschädigten Eheleuten entstand. wie von der Angeklagten beabsichtigt, ein Schaden in Höhe von insgesamt 25.735,24 EUR.

Strafantrag wurde durch den Geschädigten am 28.10.2020 anlässlich der Befragung durch den Zeugen, offenbar ein Polizeibeamter, schriftlich auf dem ĂĽblichen Formular der Ermittlungsbehörden gestellt. Die Anklage wurde zugelassen und das Hauptverfahren vor dem AG – Strafrichter – eröffnet.

Der hat das Verfahren dann durch Urteil eingestellt:

„Das Verfahren ist gemäß § 260 Abs. 3 StPO einzustellen, weil der nach § 266 Abs. 2, 247 StGB erforderliche Strafantrag durch den Geschädigten pp. nicht wirksam gestellt ist.

Der Zeuge pp. schilderte, dass der Geschädigte Herr in dem Vorgespräch zur beabsichtigten Zeugenvernehmung auf Fragen immer wieder abschweifte und Anekdoten von früher erzählt und was er beruflich gemacht habe. Auch Fragen nach dem Umfang der Generalvollmacht vermochte Herr pp. nicht zutreffend zu beantworten. So schilderte der Zeuge pp. dass Herr pp. das Schriftstück nur in Verbindung mit dem Heimaufenthalt seiner Ehefrau gebracht habe. Insbesondere habe Herr pp. auch die Tragweite und Bedeutung des Strafantrages nicht erkannt. Aus diesen Gründen habe man von einer förmlichen Vernehmung Abstand genommen.

Aufgrund der glaubhaften Angaben des Zeugen pp. kann das Gericht nicht feststellen, dass Herr pp. im Zeitpunkt der Stellung des Strafantrages geschäftsfähig war. Damit ist die Erklärung unwirksam. Es fehlt demzufolge an dem erforderlichen Strafantrag, sodass das Verfahren gemäß § 260 Abs. 3 StPO einzustellen ist.“

Der (kleine) Fall zeigt sehr schön, auf was man als Verteidiger alles achten kann/sollte/muss. Mir stellt sich allerdings die Frage, warum das AG eröffnet hat. Das macht nur Sinn, wenn sich die Angaben des Zeugen zu den Umständen der Antragstellung erst bei dessen Vernehmung ergeben haben.

StPO III: Schutz höchstpersönlicher Rechtsgüter, oder: Wirksame Stellung des Strafantrags durch Vertreter?

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Und als letzte Entscheidung des Tages dann noch einmal der LG Karlsruhe, Beschl. v. 04.01.2023 – 16 Qs 98/22. Ja – „noch einmal“, denn der Beschluss ist schon zweimal Gegenstand der Berichterstattung gewesen (StGB III: Sind die Audioaufnahmen „unbefugt“ erstellt?, oder: Restriktive Auslegung bei Beweisnot und  StPO I: Voraussetzung fĂĽr den Erlass eines Strafbefehls, oder: Hinreichender Tatverdacht gegeben?). Heute dann zum dritten Mal, und zwar wegen der Frage der rechtzeitigen Stellung des Antrags. Dazu das LG:

„2. Dem Erlass des Strafbefehls steht allerdings bereits ein nicht mehr behebbares Verfahrenshindernis entgegen. Es fehlt an einem form- und fristgerecht gestellten Strafantrag der Geschädigten gegen den Angeschuldigten wegen Verletzung der Vertraulichkeit des Wortes.

Die Strafverfolgung des Angeschuldigten wegen Verletzung der Vertraulichkeit des Wortes gem. § 201 Abs. 1 Nr. 2 StGB würde gem. §§ 205 Abs. 1 Satz 1, 77 Abs. 1, 77b Abs. 1 Satz 1 StGB, 168 Abs. 2 StPO voraussetzen, dass die Geschädigte zuvor form- und fristgerecht einen entsprechenden Strafantrag gestellt hat. Eine Verfolgung von Amts wegen ohne Strafantrag ist ansonsten auch bei Vorliegen eines besonderen öffentlichen Interesses nicht möglich (im Umkehrschluss zu § 205 Abs. 1 Satz 2 StPO; vgl. BeckOK StGB/Dallmeyer, 55. Ed. 1.11.2022, StGB § 77 Rn. 4.1).

Die Frist zur Stellung eines Strafantrags gem. § 77b Abs. 1 StGB beträgt drei Monate nach Kenntniserlangung von der Tat und der Person des Täters. Diese Frist ist bereits abgelaufen, ohne dass die Geschädigte selbst einen Strafantrag in dieser Sache gegen den Angeschuldigten gestellt hätte.

Der Angeschuldigte fertigte die verfahrensgegenständlichen Audioaufnahmen am 31.08.2021. Am 16.09.2021 übergab der Angeschuldigte Kopien der Audioaufnahmen auf einem USB-Stick den Beamten des Polizeipostens Illingen. Es lässt sich anhand der Aktenlage auch nach Rücksprache mit dem Polizeiposten Illingen nicht sicher rekonstruieren, ob die Geschädigte bereits damals über die Audioaufnahmen informiert wurde.

Jedenfalls hatte die Geschädigte spätestens nach Akteneinsicht ihrer Bevollmächtigten am 26.01.2022 sicher Kenntnis von Existenz und Übergabe der von ihr durch den Angeschuldigten gefertigten Audioaufnahmen. Spätestens nach dem 26.04.2022 war damit die gem. § 77b Abs. 1 Satz 1 StGB maßgebliche Frist für einen wirksamen Strafantrag der Geschädigten abgelaufen. Bis dahin hat die Geschädigte selbst keinen entsprechenden Strafantrag gestellt.

Die Prozessbevollmächtigten der angeblich Verletzten haben zwar am 03.02.2022 mittels qualifizierter elektronischer Signatur über das besondere elektronische Anwaltspostfach gemäß der damaligen Fassung von § 32a Abs. 3 Alt. 1 StPO formgerecht ein Strafverfolgungsbegehren wegen der Audioaufnahmen im eigenen Namen zum Ausdruck gebracht. Strafanträge sind auch grundsätzlich von der Vollmacht der Geschädigten gedeckt gewesen. Der in dem Schriftsatz hervorgehobene Begriff „Strafanzeige“ steht der Behandlung als Strafantrag ebenfalls nicht entgegen (vgl. BGH NJW 1992, 2167).

Allerdings haben die Prozessbevollmächtigten die Strafverfolgung im eigenen Namen beantragt und nicht lediglich den Strafantrag ihrer Mandantin übermittelt. Der gesamte Schriftsatz der Bevollmächtigten differenziert zwischen der Geschädigten (“unsere Mandantin“) und den Bevollmächtigten (“wir“). Den Strafantrag stellen dabei die Bevollmächtigten im eigenen Namen (“wir“) und nicht im Namen ihrer Mandantin.

Es handelt sich somit erkennbar nicht lediglich um eine Vertretung in der Erklärung, sondern um die Fallgruppe einer „Vertretung im Willen“ ĂĽber den Strafantrag selbst. Selbst mit entsprechender Vollmacht ist eine solche Vertretung im Willen nach vorherrschender Auffassung unwirksam, wenn das jeweilige Antragsdelikt immaterielle, höchstpersönliche RechtsgĂĽter betrifft (vgl. OLG Bremen, NJW 1961, 1489; RGSt 21, 231 (233); MĂĽKoStGB/Mitsch, 4. Aufl. 2020, StGB § 77 Rn. 29; BeckOK StGB/Dallmeyer, 55. Ed. 01.11.2022, § 77 Rn. 20; krit. Fischer, StGB, 70. Aufl. 2023, § 77 Rn. 22 m.w.N.). So liegt der Fall bei der Verletzung der Vertraulichkeit des Wortes.“

Verkehrsrecht I: Eingriff in den StraĂźenverkehr, oder: Beinaheunfall durch Einwirkung auf ein Pferd?

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Und heute dann ein wenig Verkehrsrecht, und zwar zunächst der BayObLG, Beschl. v. 16.12.2022 – 202 StRR 110/22 – zu den Voraussetzungen fĂĽr einen gefährlichen Eingriff in den StraĂźenverkehr durch Einwirkung auf ein Pferd.

Das AG hat die Angeklagten u.a. wegen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr verurteilt. Das LG hat dann frei gesprochen. Die dagegen gerichteten Revisionen hatten keinen Erfolg.

Die Berufungskammer war von folgenden Feststellungen ausgegangen:

„Die beiden miteinander verheirateten Angeklagten und die Nebenklägerin sind Nachbarn. Am Nachmittag des 19.01.2021 ritt die Nebenklägerin auf ihrem Pferd auf der öffentlichen GemeindestraĂźe zwischen den Anwesen der Angeklagten und der Familie der Nebenklägerin. Der Nebenklägerin war aufgrund vorangegangener Vorfälle mit den Angeklagten bekannt, dass diese aufgrund einer langjährigen Nachbarschaftsstreitigkeit mit der Familie der Nebenklägerin immer wieder versuchen, die Pferde der Nebenklägerin beim Passieren ihres GrundstĂĽcks zu erschrecken. Aus diesem Grund hatte die Nebenklägerin ca. eine Minute vor Erreichen des Anwesens der Angeklagten die Kamera ihres Mobiltelefons eingeschaltet, um eventuelle Ăśbergriffe auf sie oder ihr Pferd zu dokumentieren und – wie bereits wiederholt in der Vergangenheit – zur Anzeige zu bringen. Als sich die Nebenklägerin dem Haus der Angeklagten näherte, waren diese mit Schneeräumarbeiten beschäftigt. Während die Nebenklägerin an der Angeklagten vorbeiritt, warf diese mit der Schneeschaufel eine geringe Menge Schnee dem Pferd hinterher. Die Berufungskammer konnte nicht feststellen, ob das Pferd von dem Schnee getroffen wurde. Die von der Nebenklägerin gerittene Stute geriet hierdurch in eine gewisse Aufregung, konnte jedoch von ihr nach wenigen Sekunden unter Kontrolle gebracht werden. Zu einem Sturz oder einer Verletzung der Nebenklägerin kam es nicht. Auch die konkrete Gefahr eines Sturzes konnte nicht festgestellt werden. Dass die Angeklagte einen solchen Sturz und eine daraus resultierende mögliche Verletzung der Nebenklägerin gewollt oder zumindest billigend in Kauf genommen hätte, konnte die Berufungskammer ebenfalls nicht feststellen. Die Nebenklägerin und die Angeklagte gerieten daraufhin vor der Terrasse des Anwesens der Angeklagten in ein Streitgespräch, bei dem die Nebenklägerin die Angeklagte mehrfach erzĂĽrnt anschrie: „Mach nur weiter! Komm, noch ´ne Schippen!“ Der Angeklagte, der wenige Meter entfernt weiterhin Schnee von der Terrasse seines Anwesens geschoben hatte, ohne sich anfangs um die Nebenklägerin zu kĂĽmmern, warf nunmehr – durch das laute Schreien der Nebenklägerin provoziert – ebenfalls eine Schaufelladung Schnee in Richtung der Nebenklägerin und ihres Pferdes, worauf diese mit dem Ausruf „Ja, das hat ja wohl ein Nachspiel! Freu´ Dich schon mal!“ in ihr gegenĂĽberliegendes GrundstĂĽck ritt. Eine Schreckreaktion des Pferdes durch das Verhalten des Angeklagten war nicht erkennbar. Die Berufungskammer ging auch nicht davon aus, dass der Angeklagte derartiges beabsichtigt oder zumindest billigend in Kauf genommen hatte. Ebenso wenig gelangte die Berufungskammer zu der Ăśberzeugung, dass der Angeklagte einen Sturz und eine hieraus resultierende Verletzung der Nebenklägerin gewollt oder auch nur billigend in Kauf genommen hätte. Während des gesamten Vorfalls waren keine anderen Verkehrsteilnehmer auf der StraĂźe unterwegs.“

Das BayObLG verneint sowohl die Strafbarkeit wegen eines vollendeten § 315b StGB als auch wegen eines versuchten § 315b StGB. Hier die Ausführungen zur Vollendung:

„b) Zutreffend hat die Berufungskammer eine Strafbarkeit wegen vollendeten gefährlichen Eingriffs in den StraĂźenverkehr gemäß § 315b Abs. 1 Nr. 3 StGB verneint. Denn nach den rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen fehlt es schon an einer vom Straftatbestand vorausgesetzten konkreten Gefahr fĂĽr Leib oder Leben eines anderen oder fremde Sachen von bedeutendem Wert, sodass es auf die weiteren Tatbestandsmerkmale nicht mehr ankommt.

aa) Eine konkrete Gefahr ist nur dann anzunehmen, wenn die Tathandlung über die ihr innewohnende latente Gefährlichkeit hinaus zu einer kritischen Situation geführt hat, in der – was nach allgemeiner Lebenserfahrung auf Grund einer objektiv nachträglichen Prognose zu beurteilen ist – die Sicherheit einer bestimmten Person oder Sache so stark beeinträchtigt wurde, dass es nur noch vom Zufall abhing, ob das Rechtsgut verletzt wurde oder nicht. Erforderlich ist die Feststellung eines „Beinahe-Unfalls“, also eines Geschehens, bei dem ein unbeteiligter Beobachter zu der Einschätzung gelangt, „das sei noch einmal gut gegangen“ (st.Rspr., vgl. nur BGH, Beschl. v. 06.07.2021 – 4 StR 155/21 = Blutalkohol 58, 328 [2021] = StV 2022, 26 = ZfSch 2021, 706 = BGHR StGB § 52 Abs 1 Entschluss, einheitlicher 2 = BGHR StGB § 315c Gefahr 2; 08.06.2021 – 4 StR 68/21 = NStZ-RR 2021, 251 = VRS 140, 258 [2021] = VRS 140, Nr 52; 17.02.2021 – 4 StR 528/20 = NStZ-RR 2021, 187; 06.08.2019 – 4 StR 255/19 = NStZ-RR 2019, 343 = VRS 137, 1 [2019] = VRS 137, Nr 1 = NZV 2020, 303; 20.03.2019 – 4 StR 517/18 = VerkMitt 2019, Nr 5 = NStZ 2020, 225).

bb) Gemessen hieran rechtfertigen die tatrichterlichen Feststellungen einen „Beinahe-Unfall“ in diesem Sinne nicht. Vielmehr hat das von der Nebenklägerin gerittene Pferd nach den UrteilsgrĂĽnden auf die SchneewĂĽrfe nicht derart reagiert, dass von einem Beinahe-Unfall gesprochen werden könnte. Auf den von der Angeklagten mittels einer Schneeschippe in Richtung des Pferdes durchgefĂĽhrten Wurf einer „geringen Menge Schnee“ geriet das Pferd zwar in eine „gewisse Aufregung“, konnte aber bereits nach wenigen Sekunden unter Kontrolle gebracht werden. Letzteres ist umso bemerkenswerter, als dies der Nebenklägerin offensichtlich ohne weiteres gelang, obwohl sie gleichzeitig das Geschehen mit der Kamera ihres Mobiltelefons aufzeichnete, was die Konzentration auf das Geschehen und die Kontrolle des Pferdes von vornherein erschwerte. Nach den Urteilsfeststellungen handelte es sich damit um eine ohne weiteres im Alltag zu erwartende Reaktion eines Pferdes, mit der jederzeit gerechnet werden muss, was aber noch keineswegs dazu fĂĽhrte, dass eine konkrete Gefährdung fĂĽr Pferd, Reiterin oder sonstige Verkehrsteilnehmer, die ohnehin nicht zugegen waren, eingetreten wäre. Diese Einschätzung wird ĂĽberdies durch das Verhalten der Nebenklägerin bestätigt, die nach den Urteilsfeststellungen die Angeklagten lautstark mit den Worten „noch ´ne Schippen“ sogar dazu aufforderte, ihr Verhalten zu wiederholen. Auf das Handeln des Angeklagten, der nach den GrĂĽnden des Berufungsurteils anschlieĂźend ebenfalls eine Schaufelladung Schnee in Richtung der Nebenklägerin und ihres Pferdes warf, reagierte das Pferd ĂĽberhaupt nicht mehr. Nach den Urteilsfeststellungen ist damit in beiden Fällen allenfalls von einer abstrakten Gefahr, die sich theoretisch zu einer Verletzung hätte verdichten können, auszugehen, was aber fĂĽr die TatbestandserfĂĽllung des § 315b Abs. 1 Nr. 3 StGB gerade nicht genĂĽgt.“

Die restlichen AusfĂĽhrungen bitte selbst lesen……