Archiv für den Monat: November 2019

Der Richter mit Reichweitenproblemen, oder: Besorgnis der Befangenheit

Die zweite Entscheidung des Tages, der OLG Oldenburg, Beschl. v. 03.06.2019 – 5 W 19/19, hat eine Befangenheitsproblematik in einem Zivilprozess betreffend ein Elektrofahrzeug zum Gegenstand.

Die Parteien haben einen Kaufvertrag über einen Elektrofahrzeug/Pkw1 geschlossen. Die Klägerin behauptet, die Beklagte habe ihr zugesagt, das Fahrzeug habe eine Reichweite von 300 km. Diese könne aber bei winterlichen Temperaturen nicht erreicht werden. Sie hat den Rücktritt vom Kaufvertrag erklärt und begehrt dessen Rückabwicklung.

Der zuständige Einzelrichter hatte die Parteien darauf hingewiesen, er habe selbst im Sommer 2014 ein Pkw vom Typ Elektrofahrzeug/Pkw2 gekauft. Er sei damit jahrelang zwischen Ort2 und Ort3 gependelt. Im Winter 2014/2015 habe er entgegen seiner Erwartung festgestellt, dass es nicht möglich sei, bei Minusgraden mit eingeschalteter Heizung oder einer Geschwindigkeit auf der Autobahn von mehr als 80 km/h von Ort2 nach Ort3 und zurück zu kommen.

Die Beklagte hat daraufhin den zuständigen Einzelrichter wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt. Das LG hat das Ablehnungsgesuch der Beklagten für unbegründet erklärt. Das OLG sieht das anders:

„Das Ablehnungsgesuch ist zulässig. Insbesondere besteht ein Rechtsschutzbedürfnis. Dem Senat ist bekannt, dass in der 13. Zivilkammer wegen einer personellen Veränderung eine Umverteilung der Zuständigkeiten ansteht. Der bislang zuständige Einzelrichter pp. wird in dieser Sache zwar seine Zuständigkeit verlieren. Er wird aber der Kammer weiter angehören und in dieser Sache als Vertreter in zweiter Linie zuständig bleiben. Dass der Vertretungsfall eintreten wird, ist insbesondere wegen der anstehenden Urlaubszeit nicht völlig unwahrscheinlich.

Gegen Richter p. besteht hier der Ablehnungsgrund der Besorgnis der Befangenheit. Gemäß § 42 Abs. 2 ZPO findet wegen Besorgnis der Befangenheit die Ablehnung statt, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit eines Richters zu rechtfertigen. Ein solcher Fall ist hier gegeben.

Zwar hat der Senat keinen Zweifel daran, dass der zuständige Einzelrichter diese Sache ohne Parteinahme für die eine oder die andere Partei bearbeiten würde. Hierauf kommt es jedoch nicht an. Entscheidend ist vielmehr, ob objektive Gründe vorliegen, die vom Standpunkt des Ablehnenden aus bei vernünftiger Betrachtung die Befürchtung wecken können, der Richter stehe der Sache nicht unvoreingenommen und damit nicht unparteiisch gegenüber (Zöller/G. Vollkommer, 32. Aufl., § 42 ZPO, Rn. 9). Hier hat der zuständige Richter ähnliche Reichweiteprobleme mit einem – wenn auch nicht typengleichen – Elektrofahrzeug desselben Herstellers gehabt, wie die Klägerin sie in diesem Rechtsstreit behauptet, und zwar im Wesentlichen auf der gleichen Strecke wie diese (von Ort2 nach Ort3 und zurück). Dass die Beklagte hierauf die Befürchtung stützt, der zuständige Einzelrichter könne vor dem Hintergrund der von ihm angezeigten Erfahrungen möglicherweise den Standpunkt der Klägerin besser nachvollziehen als ihren eigenen und sich hierdurch bei seiner Entscheidung leiten lassen, ist bei vernünftiger Sichtweise nachvollziehbar. Dass der Einzelrichter pflichtgemäß von sich aus diese Umstände angezeigt hat, lässt die Besorgnis der Befangenheit nicht entfallen.“

Nicht unterschriebene Rechtsmittelbegründung, oder: Wiedereinsetzung in den vorigen Stand?

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Im „Kessel Buntes“ dann heute zunächst eine zivilrechtliche BGH-Entscheidung zur Wiedereinsetzung, und zwar der BGH, Beschl. v. 15.10.2019 – VI ZB 22/19 und VI ZB 23/19.

Ich stelle davon aber mal nur die amtlichen Leitsätzeein. Die lauten:

1. Für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist die versäumte Prozesshandlung in der für sie vorgeschriebenen Form nachzuholen. Hat es der Rechtsmittelführer versäumt, eine unterschriebene und damit wirksame Rechtsmittelbegründung einzureichen, hat er somit bis zum Ablauf der Wiedereinsetzungsfrist einen unterschriebenen Begründungsschriftsatz nachzureichen.

2. Die Rechtsprechung zur ausnahmsweisen Wirksamkeit nicht unterzeichneter Rechtsmittelbegründungsschriften (Senatsbeschlüsse vom 15. Juni 2004 -VIZB 9/04, VersR 2005, 136, 137, juris Rn. 4; vom 9. Dezember 2003 -VI ZB 46/03, ju-ris Rn. 4; BGH, Urteil vom 10. Mai 2005 -XI ZR 128/04, NJW 2005, 2086, 2088, juris Rn. 20 f.; Beschlüsse vom 26. Oktober 2011 -IV ZB 9/11, juris Rn. 6, 11; vom 20.März 1986 -VII ZB 21/85, BGHZ 97, 251, 254, juris Rn. 14) ist auf die Nachholung einer Berufungsbegründung im Zusammenhang mit einem Wiedereinset-zungsantrag nach Einreichung einer mangels Unterzeichnung unwirksamen Begründung nicht übertragbar.

Ich habe da mal eine Frage: Ist die Verfahrensgebühr für die Revision entstanden?

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Aus der Facebook-Gruppe „Strafverteidiger“ stammt die folgende Frage:

„Moin aus dem Westen….

StA legt gegen Urteil des Schwurgerichts Revision ein und begründet diese auch. Ich bespreche mit dem Mandanten alles und erkläre ihm. was die StA will.

Nach 4 Monaten nimmt die StA auf Geheiß des GeStA die Revision zurück.

Entsteht für mich als Pflichtverteidiger die Gebühr für das Revisionsverfahren?“

Wer aus der Gruppe die Lösung kennt: Bitte zurückhalten, auch wenn es schwer fallen sollte 🙂

Verabschiedung am/vom KG, oder: Sag beim Abschied leise „Servus“

Dieser dritte Beitrag des Tages läuft außerhalb des „normalen Programms“. Es ist ein eher persönlicher Beitrag, daher auch eingeordnet in die Kategorie: In eigener Sache.

Das Bild zu diesem Beitrag zeigt auch schon, worum es geht bzw. wo ich heute war. Ja, richtig, beim Kammergericht in Berlin. Allerdings nicht als Verteidiger oder Vertreter einer Partei in einem Verfahren, sondern in „privater Mission“ als geladener Gast bei der Verabschiedung des RiKG – jetzt a.D. – K. P. Hanschke. Der Kollege war Mitglied des 1. Strafsenats des Kammergerichts – das sind die mit den Gebühren 🙂 . Und der Kollege ist heute in einer schönen Feierstunde in den Ruhestand verabschiedet worden.

Ich bin mit Herrn Hanschke seit vielen Jahren – inzwischen (fast) freundschaftlich – verbunden, diese Verbindung rührt noch aus den Anfangsjahren des StRR her, in dem Herr Hanschke früher häufiger (schöne) Entscheidungsanmerkungen veröffentlicht hat. Und darüber hinaus: Ich bin mit Herrn Hanschke – über private Kontakte hinaus – insbesondere auch über seine Lieferungen von Entscheidungen der Strafsenate des KG an mich – immer mit dem Betreff: Neues vom KG – verbunden. Er ist also der Hauptlieferant der vielen Entscheidungen des KG, die ich hier im Blog habe einstellen dürfen/können. Manche – insbesondere gebührenrechtliche – Entscheidungen habe ich sogar vorab erhalten, so dass ich sie im Blog veröffentlichen konnte, bevor an anderer Stelle dazu berichtet wurde.

Dafür und für die damit verbundenen Mühen, lieber Herr Hanschke, von mir und dem BOB ganz herzlichen Dank. Ich habe mich immer über die Entscheidungszusendungen gefreut, eben „Neues vom KG“, wenn ich auch nicht mit allen Entscheidungen inhaltlich einverstanden war. Wir haben über manche Frage diskutiert, vor allem, wenn es um Änderungen in der Rechtsprechung ging – Stichwort: z.B. Zeugenbeistand. Diskutiert und uns ausgetauscht. Nie gestritten 🙂 .

Der BOB und ich wünschen Ihnen nun einen schönen (Un)Ruhestand. Ich habe micht gefreut, heute Ihre Gast gewesen sein zu dürfen. Ich denke, Sie werden im Ruhestand viel zu tun haben und sich sicherlich nicht langweilen, machen Sie weiterhin Ihre tolle Musik, reisen Sie und vielleicht gibt es ja auch mal wieder etwas von Ihnen im StRR. Ich freue mich, dass Sie – so Ihre Worte – Ihren „Nachlass geregelt“ und die Zusendung von Entscheidungen – „Neues vom KG“ organisiert haben.

Ad multos annos: Und: Man sieht sich in Berlin oder in Leer.

Erinnerungsrecht der Staatskasse, oder: Späte Erinnerung, aber nicht verwirkt

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In der zweiten Entscheidung des Tages, dem LSG Jena, Beschl. v. 24.07.2019 – L 1 SF 389/18 B – geht es auch um „Verzögerung“, und zwar mit einer verzögert/spät eingelegten Erinnerung der Staatskasse gegen die Kostenfestsetztung. Das LSG sagt: Spät, aber nicht verwirkt:

„Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers kann von einem Verlust des Erinnerungsrechts der Staatskasse nach den Grundsätzen der Verwirkung nicht ausgegangen werden.

Mit Vergütungsfestsetzungsbeschluss vom 22. Januar 2015 setzte die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle die dem Beschwerdeführer zu zahlende Vergütung auf 464,10 Euro fest und gab seinem Vergütungsfestsetzungsantrag vom 18. Dezember 2014 damit in voller Höhe statt. Da die Beklagte in dem Ausgangsverfahren nach der Kostengrundentscheidung ein Drittel der außergerichtlichen Kosten des Klägers zu tragen hatte, forderte das Sozialgericht mit Kostennachricht vom 2. März 2015 nach § 59 RVG bei der Beklagten die Zahlung eines Betrages i. H. v. 154,70 Euro an. Hiergegen legte die Beklagte mit am 12. März 2015 beim Sozialgericht eingegangenem Schriftsatz Erinnerung ein mit der Begründung, dass eine fiktive Terminsgebühr nicht erstattungsfähig sei. Nach Nichtabhilfe durch die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle erfolgte im Rahmen des Erinnerungsverfahrens S 30 SF 149/15 E die Zustellung dieser Erinnerung an die Bezirksrevisorin als Vertreterin der Staatskasse mit Eingangsverfügung vom 29. Mai 2015, ausgeführt am 3. Juni 2015. Mit Schriftsatz vom 22. Februar 2016 hat die Staatskasse sodann in diesem Verfahren Erinnerung nach § 56 RVG eingelegt und beantragt, die zu gewährende Vergütung im Rechtsstreit S 30 AS 2146/12 neu festzusetzen. Beanstandet wurde insbesondere das Nichtentstehen einer fiktiven Terminsgebühr.

Dieser zeitliche und tatsächliche Ablauf rechtfertigt es nicht, von einer Verwirkung des Erinnerungsrechts der Staatskasse auszugehen. Die Erinnerung der Staatskasse vom 26. Februar 2016 ist nach der gesetzgeberischen Wertung des § 56 Abs. 2 Satz 1 RVG, der für die Erinnerung gerade nicht auf die Fristbestimmung des § 33 Abs. 3 RVG verweist, unbefristet (vgl. Senatsbeschluss vom 23. Juli 2018 – L 1 SF 497/16 B, zitiert nach Juris). Eine analoge Anwendung des § 20 Abs. 2 GKG, wonach die Nachforderung von Kosten bis zum Ablauf des nächsten Kalenderjahres nach Beendigung des Verfahrens möglich ist, wenn innerhalb der Frist des § 20 Abs. 1 GKG ein Rechtsbehelf in der Hauptsache oder wegen der Kosten eingelegt wurde, scheidet mangels planwidriger Regelungslücke aus (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 14. März 2017 – I-10 W 35 – 37/17, nach Juris unter Hinweis auf BGH in NJW-RR 2009, S. 770). Nach den Gesetzesmotiven zur Änderung des § 56 RVG im Jahr 2005 soll durch die Gesetzesänderung klargestellt werden, dass die Erinnerung gegen die Festsetzung der Vergütung gerade nicht befristet ist (vgl. BT-Drucks. 15/4952, Seite 51). Die Staatskasse hat ihr Erinnerungsrecht auch nicht verwirkt.

Verwirkt werden können alle subjektiven Rechte und Rechtspositionen, die gegenüber einem anderen geltend gemacht werden können, auch Rechtsbehelfe. Die Verwirkung gilt in allen Rechtsgebieten, auch im Kostenrecht (vgl. Senatsbeschluss vom 23. Juli 2018 – L 1 SF 497/16 B –, Juris). Allerdings findet sie nur in besonderen engen Ausnahmekonstellationen Anwendung. Eine Verwirkung setzt als Unterfall der unzulässigen Rechtsausübung wegen widersprüchlichen Verhaltens (vgl. Senatsbeschluss vom 23. Juli 2018 – L 1 SF 497/16 B –, Juris) voraus, dass der Berechtigte die Ausübung seines Rechts während eines längeren Zeitraums unterlassen hat und weitere besondere Umstände hinzutreten, die nach den Besonderheiten des Einzelfalls und des in Betracht kommenden Rechtsgebietes die verspätete Geltendmachung des Rechts dem Verpflichteten gegenüber nach Treu und Glauben als illoyal erscheinen lassen. Solche, die Verwirkung auslösenden „besonderen Umstände“ liegen vor, wenn der Verpflichtete in Folge eines bestimmten Verhaltens des Berechtigten (Verwirkungsverhalten) darauf vertrauen durfte, dass dieser das Recht nicht mehr geltend machen werde (Vertrauensgrundlage) und der Verpflichtete tatsächlich darauf vertraut hat, dass das Recht nicht mehr ausgeübt wird (Vertrauenstatbestand), und sich infolgedessen in seinen Vorkehrungen und Maßnahmen so eingerichtet hat (Vertrauensverhalten), dass ihm durch die verspätete Durchsetzung des Rechts ein unzumutbarer Nachteil entstehen würde (vgl. BSG, Urteil vom 5. Juli 2016 – B 1 KR 40/15 R m.w.N., Rn. 10, nach Juris).

Auf eine Verwirkung kann sich der Beschwerdeführer in der vorzunehmenden Gesamtschau von Zeit- und Umstandsmoment nicht berufen. Das Zeitmoment ist bereits deshalb nicht gegeben, weil die Staatskasse als Beschwerdegegner nach der Kostenfestsetzung durch die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle am 22. Januar 2015 am 26. Februar 2016 Erinnerung eingelegt hat. Damit war noch nicht einmal die im Sozialrecht allgemein geltende Verjährungsfrist von 4 Jahren (vgl. § 45 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch < SGB I>) abgelaufen.

Der Beschwerdeführer konnte sich auch nicht aufgrund des Verhaltens des Beschwerdegegners darauf einrichten, dass dieser sein Recht nicht geltend machen werde. Anhaltspunkte hierfür hat dieser nicht gesetzt. Zweifelhaft ist bereits, ob der Beschwerdeführer überhaupt darauf vertrauen durfte, dass die von ihm geforderte Vergütung seitens des Beschwerdegegners nicht beanstandet werde. Der Beschwerdeführer verkennt insoweit, dass die Bezirksrevisorin als Vertreterin der Staatskasse am Kostenfestsetzungsverfahren nicht beteiligt ist. Sie hat vielmehr erst durch das von der Beklagten des Verfahrens S 30 AS 2146/12 angestrengte Erinnerungsverfahren S 30 SF 149/15 E gegen die Kostennachricht nach § 59 RVG durch die Zustellung dieser Erinnerung Kenntnis von dem Vorgang erhalten. Akteneinsicht in den gesamten Vorgang wurde ihr mit Verfügung vom 28. Juli 2015 gewährt. Der nächste Schriftsatz in der Angelegenheit datiert sodann vom 22. Februar 2016 und beinhaltet die Antragstellung im Verfahren S 30 SF 149/15 E verbunden mit der Einlegung einer Erinnerung nach § 56 RVG in diesem Verfahren. Daher sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass sich der Beschwerdeführer aufgrund des Verhaltens des Beschwerdegegners darauf einrichten konnte, dass dieser sein Erinnerungsrecht nicht geltend machen werde. Zudem ist zu berücksichtigen, dass der Beschwerdeführer an dem Erinnerungsverfahren S 30 SF 149/15 E nicht beteiligt ist. Denn in diesem Rechtsstreit ging es ausschließlich um die Kostenüberleitung nach § 59 RVG auf die Beklagte des Ausgangsverfahrens S 30 AS 2146/12. Die Staatskasse hat dem Beschwerdeführer gegenüber zu keinem Zeitpunkt erkennen lassen, dass sie die Vergütungsfestsetzung vom 22. Januar 2015 für korrekt hält.“