Archiv für den Monat: November 2019

Entschädigung wegen überlanger Verfahrensdauer, oder: Sechs Monate inaktiv ist noch nicht zu lang

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Am Gebührenfreitag zwei schon etwas ältere Entscheidungen. Die erste, das LSG Mecklenburg-Vorpommern, Urt. v. 24.01.2019 – L 11 SF 16/17 EK AS – hat nur bedingt etwas mit Gebühren zu tun. Ich stelle es aber vor, weil die Frage der langen Dauer von Verfahren gerade ja auch bei der Kostenfestsetzung immer wieder eine Rolle spielt:

„Die Klage ist statthaft und zulässig.

Einer Statthaftigkeit der Klage steht insbesondere nicht entgegen, dass diese nicht auf eine Entschädigung in Geld, sondern von vornherein nur auf die Feststellung einer Überlänge des Ausgangsverfahrens beschränkt ist (vgl. zum Streitstand: BSG, Urteil vom 15. Dezember 2015 – B 10 ÜG 1/15 R –, juris Rdnr. 15). Die Regelungen des § 198 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) gewähren einem Verfahrensbeteiligten des Ausgangsverfahrens nach der Auffassung des Senates nicht nur einen Klaganspruch auf eine Entschädigung in Geld, sondern auch einen isoliert einklagbaren Anspruch auf Feststellung der Überlänge eines gerichtlichen Verfahrens, da ein Kläger andernfalls zur Erhebung einer auch nach eigener Überzeugung unbegründeten Klage (auf Entschädigung in Geld) gezwungen wäre, um die begehrte Feststellung der Überlänge (als Minus zur Entschädigung in Geld) zu erreichen. Für diese vom Senat vertretene Auffassung spricht zudem auch die Einordnung der (bloßen) Feststellung der Überlänge als „kleiner Entschädigungsanspruch“ durch das Bundessozialgericht (vgl. dazu Urteil vom 3. September 2014 – B 10 ÜG 2/13 R -, juris Rdnr. 57 m.w.N.).

Die Klage ist auch innerhalb der sechsmonatigen Klagefrist (§ 198 Abs. 5 Satz 2 GVG) nach Erledigung des Ausgangsverfahrens erhoben worden. Ausgangsverfahren ist hier das Kostenvorschussfestsetzungsverfahren mit der Festsetzung des Vorschusses durch die Urkundsbeamtin des SG und dem anschließenden Erinnerungs- und Beschwerdeverfahren. Dieses ist in gleicher Weise wie das abschließende Kostenfestsetzungsverfahren (vgl. dazu BSG, Urteil vom 10. Juli 2014 – B 10 ÜG 8/13 R) nicht ein bloßer Annex des Hauptsacheverfahrens, sondern stellt ein eigenständiges Verfahren im Sinne des § 198 GVG dar. Denn mit dem Antrag auf Kostenvorschuss wird ein anderer Anspruch zum Gegenstand einer Entscheidung des Gerichts gemacht, der unabhängig vom Streitgegenstand des Hauptsacheverfahrens ist. Der Vorschussantrag setzt wie der Kostenfestsetzungsantrag nach Abschluss des Klageverfahrens ein selbstständiges Verfahren in Gang, welches von keinerlei Relevanz für den Streitgegenstand des Hauptsacheverfahrens ist. Dieses zeigt sich nicht zuletzt auch an den Beteiligten des Festsetzungsverfahrens, die von denen des Hauptsacheverfahrens abweichen. Antragsberechtigt nach § 55 Abs. 1 Rechtsanwaltsvergütungsgesetz (RVG) ist allein der beigeordnete Rechtsanwalt, nicht die Prozesspartei.

Da auch die Wartefrist von sechs Monaten (§ 198 Abs. 5 Satz 1 GVG) nach Erhebung der Verzögerungsrüge eingehalten ist, bedarf es vorliegend keiner weiteren Erörterung, ob diese Frist überhaupt für isolierte Feststellungsbegehren gilt, für die es gar keiner Verzögerungsrüge bedarf.

Die Klage ist aber unbegründet.

Nach § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG wird, wer infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erleidet, angemessen entschädigt.

Die Klägerin ist im vorliegenden Entschädigungsverfahren aktivlegitimiert. Die personelle Reichweite des Entschädigungsverfahrens knüpft an die Stellung als Verfahrensbeteiligter im Ausgangsverfahren an. Nach der Legaldefinition des § 198 Abs. 6 Nr. 2 GVG ist Verfahrensbeteiligter im Sinne von § 198 GVG jede Partei und jeder Beteiligte eines Gerichtsverfahrens mit Ausnahme der Verfassungsorgane, der Träger öffentlicher Verwaltung und sonstiger öffentlicher Stellen, soweit diese nicht in Wahrnehmung eines Selbstverwaltungsrechts an einem Verfahren beteiligt sind. Als beigeordnete Rechtsanwältin war die Klägerin Antragstellerin und Beschwerdeführerin und damit Verfahrensbeteiligte des Ausgangsverfahrens.

Die Dauer des Beschwerdeverfahrens war jedoch nicht unangemessen.

Die Angemessenheit der Verfahrensdauer richtet sich nach den Umständen des Einzelfalles, insbesondere nach der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens und nach dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter (§ 198 Abs. 1 Satz 2 GVG). Der unbestimmte Rechtsbegriff „unangemessene Dauer eines Gerichtsverfahrens“ ist insbesondere unter Rückgriff auf diejenigen Grundsätze auszulegen, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) zu Art. 6 Abs. 1 Satz 1 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) zum Recht auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz – GG) sowie zum Justizgewährleistungsanspruch (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG) entwickelt haben (vgl. BSG, Urteil vom 21. Februar 2013 – B 10 ÜG 1/12 KL; Urteil vom 2. Februar 2015 – B 10 ÜG 7/14 R).

Ausgangspunkt der Angemessenheitsprüfung (nach dem Stufenschema des BSG, vgl. Urteil vom 5. Mai 2015 – B 10 ÜG 8/14 R, juris Rdnr. 32 m.w.N.) bildet die in § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG definierte Gesamtdauer des Gerichtsverfahrens von der Einleitung bis zum rechtskräftigen Abschluss. Kleinste relevante Zeiteinheit ist hierbei der Kalendermonat (BSG, Urteil vom 12. Februar 2015 – B 10 ÜG 11/13 R – juris Rdnr. 34).

Das Kostenvorschussfestsetzungsverfahren hat insgesamt von Januar 2015 bis November 2016, mithin 23 Monate in Anspruch genommen. Das hier im Klageverfahren allein streitgegenständliche Beschwerdeverfahren vor dem LSG hat von der Beschwerdeerhebung am 1. Juli 2015 bis zur Rücknahme der Beschwerde durch die Klägerin am 8. November 2016, mithin knapp 17 Monate gedauert.

Durch eine wertende Gesamtbetrachtung und Abwägung aller Einzelfallumstände ist sodann zu prüfen, ob die Verfahrensdauer die äußerste Grenze des Angemessenen deutlich überschritten und deshalb das Recht auf Rechtsschutz in angemessener Zeit verletzt hat. Die Bestimmung der maximal zulässigen, noch angemessenen Verfahrenslaufzeit kann jeweils nur aufgrund einer abschließenden Gesamtbetrachtung und -würdigung der tatsächlichen Umstände des Einzelfalls, insbesondere mit Blick auf die von § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG benannten Kriterien, erfolgen.

Dabei geht das BSG in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass vorbehaltlich besonderer Gesichtspunkte des Einzelfalls die Verfahrensdauer jeweils insgesamt noch als angemessen anzusehen ist, wenn eine Gesamtverfahrensdauer (eines Hauptsacheverfahrens), die zwölf Monate je Instanz übersteigt, auf vertretbarer aktiver Verfahrensgestaltung des Gerichts beruht (BSG, Urteil vom 12. Februar 2015 – B 10 ÜG 11/13 R – juris Rdnr. 26). Insoweit billigt das BSG den Ausgangsgerichten eine Vorbereitungs- und Bedenkzeit von bis zu zwölf Monaten je Instanz zu, die für sich genommen noch nicht zu einer unangemessenen Verfahrensdauer führt (vgl. BSG, Urteil vom 12. Februar 2015 – B 10 ÜG 11/13 R – juris Rdnr. 26, 33). Diese Zeitspanne muss und wird in der Regel nicht vollständig direkt im Anschluss an die Erhebung der Klage bzw. die Einlegung der Berufung liegen, in der das Gericht normalerweise für einen Schriftsatzwechsel sorgt und Entscheidungsunterlagen beizieht. Die Vorbereitungs- und Bedenkzeit kann vielmehr auch am Ende der jeweiligen Instanz liegen und in mehrere, insgesamt zwölf Monate nicht übersteigende Abschnitte unterteilt sein (vgl. BSG, Urteil vom 3. September 2014 – B 10 ÜG 2/13 R – juris Rdnr. 46).

Beruht die Verfahrensdauer, die die genannte Dauer von zwölf Monaten je Instanz übersteigt, auf vertretbarer aktiver Verfahrensgestaltung (z.B. Zeit für Einholung von Auskünften, Zeugenaussagen, Sachverständigengutachten, Beiziehung von Akten) oder wird sie maßgeblich durch das Verhalten des Klägers, anderer Verfahrensbeteiligter oder Dritter verlängert, so macht selbst dieses die Verfahrensdauer in der Regel ebenfalls noch nicht unangemessen. Anderes gilt für Zeiten, in denen eine Sache über zwölf Monate hinaus („am Stück“ oder immer wieder für kürzere Zeiträume) ohne sachlichen Grund „auf Abruf“ liegt, ohne dass das Verfahren zeitgleich inhaltlich betrieben wird, oder sich auf sog. Schiebeverfügungen beschränkt (vgl. BSG, a.a.O., Rdnr. 47).

Diese vom BSG für Hauptsacheverfahren entwickelten Grundsätze können nach Auffassung des Senates grundsätzlich auch auf das hier in Rede stehende Beschwerdeverfahren übertragen werden. Offen erscheint lediglich, ob dieses auch für die „Zwölf-Monats-Regel“, mithin die Dauer der Vorbereitungs- und Bedenkzeit, gilt. Der Senat neigt dazu, dem LSG auch in einem Beschwerdeverfahren über die Festsetzung eines Kostenvorschusses regelmäßig eine Vorbereitungs- und Bedenkzeit von 12 Monaten einzuräumen, da kein Grund dafür ersichtlich sein dürfte, diese Frist etwa bei (gegenüber Berufungsverfahren) einfacher gelagerten (Beschwerde)Verfahren zu verkürzen und damit das Ausgangsgericht für verpflichtet zu erachten, derartige Verfahren gegenüber umfangreicheren, rechtlich schwierigeren oder tatsächlich ermittlungs- und damit zeitintensiveren (Berufungs)Verfahren vorzuziehen.

Diese Frage bedarf vorliegend jedoch keiner abschließenden Entscheidung, da selbst bei einer auf die Hälfte verkürzten Vorbereitungs- und Bedenkzeit von lediglich 6 Monaten (so etwa der 12. Senat des LSG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 11. November 2015 – L 12 SF 23/14 EK AS – für ein Erinnerungsverfahren gegen eine Kostenfestsetzung), wie sie auch von der Klägerin noch für angemessen erachtet wird, keine Überlänge des Beschwerdeverfahrens vorliegt. Denn nach Abzug der Aktivitätsmonate verbleibt lediglich eine Inaktivitätszeit von 6 Monaten.

Ersichtlich handelt es sich entgegen der Auffassung der Klägerin bei den 3 Monaten von Juli bis September 2015 um Aktivitätsmonate, da im Juli die Beschwerde erhoben und dem Beschwerdegegner zur Kenntnis gegeben wurde, im August die Verfahrensakten eingingen und im September dann die Beschwerdeerwiderung angefordert wurde.

Gleiches gilt nach der Überzeugung des Senates aber im Ergebnis auch für die folgenden 5 Monate von Oktober 2015 bis Februar 2016, in denen das Ausgangsgericht auf die angeforderte Stellungnahme des Beschwerdegegners gewartet hat.

Denn grundsätzlich macht eine Verfahrensdauer, die maßgeblich auf dem Verhalten anderer Prozessbeteiligter beruht, diese noch nicht unangemessen, d.h. Zeiten, in denen das Gericht auf eine Stellungnahme eines Beteiligten wartet, stellen grundsätzlich keine Inaktivitätszeiten dar. Allerdings kann das (Ausgangs)Gericht, insbesondere bei zunehmender Verfahrensdauer, gehalten sein, auf den Beteiligten im Interesse einer Beschleunigung einzuwirken oder schließlich gar zu prüfen, ob eine Entscheidung ohne die angeforderte Mitwirkung möglich ist.

Bei seiner Überprüfung hat das Entschädigungsgericht jedoch zu beachten, dass die Prozessordnung dem Ausgangsgericht ein weites Ermessen bei seiner Entscheidung darüber einräumt, wie es das Verfahren gestaltet und leitet. Die richtige Ausübung dieses Ermessens ist vom Entschädigungsgericht allein unter dem Gesichtspunkt zu prüfen, ob das Ausgangsgericht bei seiner Prozessleitung Bedeutung und Tragweite des Menschenrechts aus Art. 6 Abs. 1 EMRK bzw. des Grundrechtes aus Art. 19 Abs. 4 GG in der konkreten prozessualen Situation hinreichend beachtet und fehlerfrei gegen das Ziel einer möglichst richtigen Entscheidung abgewogen hat (vgl. BSG, Urteile vom 3. September 2014 – B 10 ÜG 2/13 R und B 10 ÜG 2/14 R -; Urteil vom 12. Februar 2015 – B 10 ÜG 11/13 R – juris Rdnr. 13). Wann und wie das Verfahren – insbesondere in der Zusammenschau mit den sonstigen bei Gericht anhängigen Fällen – am besten zu fördern ist, entscheidet das Ausgangsgericht in der konkreten Situation aus seiner Kenntnis der Akten, der Beteiligten und des bisherigen Verfahrensablaufs. Allerdings müssen die Gerichte bei ihrer Verfahrensleitung stets die Gesamtdauer des Verfahrens im Blick behalten. Verfahrenslaufzeiten, die durch die Verfahrensführung des Gerichts bedingt sind, führen nur dann zu einer unangemessenen Verfahrensdauer, wenn sie – auch bei Berücksichtigung des gerichtlichen Gestaltungsspielraums – sachlich nicht mehr zu rechtfertigen sind (vgl. BSG, Urteil vom 3. September 2014 – B 10 ÜG 12/13 R – juris Rdnr. 43 ff.).

Bei Anwendung dieser Grundsätze erachtet der Senat es im konkreten Einzelfall noch von dem Gestaltungsspielraum des Ausgangsgerichts gedeckt, nicht weiter auf eine schnellere Bearbeitung durch den Beschwerdegegner hinzuwirken. Zur Ausübung seiner verfahrensgestaltenden Befugnisse ist dem Ausgangsgericht ein Spielraum zuzubilligen, der es ihm ermöglicht, dem Umfang und der Schwierigkeit der einzelnen Rechtssachen ausgewogen Rechnung zu tragen und darüber zu entscheiden, wann es welches Verfahren mit welchem Aufwand sinnvollerweise fördern kann und welche Verfahrenshandlungen dazu erforderlich sind. Es gibt keinen Grund, diesen Gestaltungsspielraum bei auch einfacher gelagerten Fällen zu verengen. Dieser Gestaltungsspielraum wurde im konkreten Fall nach der Überzeugung des Senates auch nicht etwa dadurch eingeschränkt, dass das Ausgangsgericht selbst bei dem Beschwerdegegner zunächst um eine bevorzugte Bearbeitung binnen 4 Wochen nachgesucht und damit einer aus seiner Sicht bestehenden Dringlichkeit Ausdruck gegeben hatte. Denn dieses geschah ersichtlich nicht im Interesse der hiesigen Klägerin an einer alsbaldigen endgültigen Festsetzung ihres Kostenvorschusses, sondern im Interesse des (Hauptsache-)Klägers an der Fortsetzung seines weiterhin vor dem SG Neubrandenburg anhängigen Klageverfahrens.

Lediglich der Vollständigkeit halber sei darauf hingewiesen, dass sich aber selbst im Falle der Annahme einer Verpflichtung des Ausgangsgerichts zur weiteren Einwirkung auf den Beschwerdegegner und schließlich zu einer Entscheidung über die Beschwerde ohne seine Stellungnahme letztlich kein anderes Ergebnis ergeben dürfte, da auch bei einer Erinnerung mit entsprechender Fristsetzung und deren erfolglosem Ablauf eine Entscheidung wohl frühestens im Februar 2016 hätte erwartet werden können.

Desweiteren handelt es sich dann auch bei dem Monat März 2016 (Eingang der Stellungnahme des Beschwerdegegners) und den Monaten Oktober und November 2016 (Versendung der Stellungnahme; Rücknahme der Beschwerde) um Aktivitätsmonate, so dass alleine die Monate April bis September 2016 als Inaktivitätsmonate verbleiben.

Diese 6 Monate der Inaktivität vermögen aber bei einer dem Ausgangsgericht zuzubilligenden Vorbereitungs- und Bedenkzeit von zumindest 6 Monaten keine unangemessene Dauer des Beschwerdeverfahrens zu begründen.

Abschließend sei noch darauf hingewiesen, dass der Beklagte auch nicht etwa aufgrund eines Teilanerkenntnisses zu verurteilen war, eine unangemessene Dauer des Beschwerdeverfahrens von einem Monat festzustellen. Bei dem Schriftsatz des Beklagten vom 23. Juli 2018 hat es sich (noch) nicht um ein Teilanerkenntnis gehandelt, wie der Beklagte im Termin zur mündlichen Verhandlung auch ausdrücklich klargestellt hat.

Ein Anerkenntnis ist das im Wege einseitiger Erklärung abgegebene uneingeschränkte Zugeständnis, dass der mit der Klage geltend gemachte prozessuale Anspruch besteht (Leitherer: in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Sozialgesichtsgesetz – SGG, 12. Auflage, § 101 Rdnr. 20). Es muss als Prozesshandlung gegenüber dem Gericht abgegeben werden. Dies kann in einem Schriftsatz, zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle oder in der mündlichen Verhandlung zu Protokoll des Gerichts erfolgen. Die ausdrückliche Bezeichnung als Anerkenntnis ist nicht notwendig. Jedoch muss die Erklärung stets durch den unbedingten Bindungswillen des Anerkennenden gekennzeichnet sein, und zwar auch für den Fall, dass das Anerkenntnis nicht angenommen wird. Erforderlich ist, dass sich ein darauf gerichteter Wille hinreichend deutlich aus dem gesamten Inhalt der Äußerung und aus dem Zusammenhang, in dem sie steht, ergibt (vgl. BSG, Urteil vom 6. Mai 2010 – B 13 R 16/09 R -, juris Rdnr. 20 m.w.N.).

Die Anwendung dieser Grundsätze auf den vorliegenden Fall ergibt, dass der Beklagte eine solche ausdrückliche Prozesserklärung gegenüber dem Senat nicht abgegeben hat. Er hat in seinem Schreiben vom 23. Juli 2018 lediglich seine (damalige) Bereitschaft zur Abgabe eines Teilanerkenntnisses mitgeteilt, ein Teilanerkenntnis selbst aber gerade noch nicht abgegeben und keinen unbedingten Bindungswillen erkennen lassen.“

OWi III: Rotlichtphase, oder: Messen mit der Stoppuhr des Smartphones

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Und die dritte Entscheidung kommt dann wieder aus Bayern. Das BayObLG hat im BayObLG, Beschl. v. 19.08.2019 – 201 ObOWi 238/19 – zu den Anforderungen an Urteilsgründe bei Messung der Dauer der Rotlichtphase mit der Stoppuhrfunktion eines Mobiltelefons Stellung genommen.

Wie so häufig bei den Bayern: Es reicht der Leitsatz, um zu verstehen, worum es geht:

1. Die (polizeiliche) Zeitmessung der Dauer der Rotlichtphase anlässlich eines dem Betroffenen zur Last liegenden sog. qualifizierten Rotlichtverstoßes ist nicht deshalb unverwertbar, weil sie mit Hilfe einer ungeeichten Stoppuhr eines Mobiltelefons (Smartphone) erfolgt ist .

2. Wie in den Fällen der Geschwindigkeitsmessung mit einem ungeeichten Tachometer ist zum sicheren Ausgleich etwaiger Messungenauigkeiten und sonstiger Fehlerquellen vom so gemessenen Zeitwert ein bestimmter Toleranzwert in Abzug zu bringen, welcher vom Tatrichter im Urteil unter Bezeichnung der möglichen geräteeigenen Fehler, der konkret eingesetzten Uhr und etwaiger externer Fehlerquellen zu berücksichtigen ist.

3. Erfolgt die Zeitmessung mit einer ungeeichten Stoppuhr, ist die Berücksichtigung eines über dem für etwaige Gangungenauigkeiten (Verkehrsfehlergrenze) geeichter Stoppuhren auch nach dem Inkrafttreten des MessEG vom 31.08.2015 sowie der MessEV vom 11.12.2014 anerkannten Toleranzabzugs von 0,3 Sekunden liegenden Sicherheitsabzugs erforderlich.

OWi II: Abstandsunterschreitung, oder: Und nochmals, Vorsatz?

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Und dann noch eine Entscheidung zur Abstandsunterschreitung. Das OLG Karlsruhe nimmt im OLG Karlsruhe, Beschl. v. 12.09.2019 – 1 Rb 10 Ss 618/19 – ebenfalls dazu Stellung, wann bei einem Abstandsverstoß von einer vorsätzlichen Begehungsweise ausgegangen werden kann:

„2. Gegen die Annahme des Amtsgerichts, der Betroffene habe die Zuwiderhandlung vorsätzlich begann, ist nichts zu erinnern.

Zwar kann die Annahme des (bedingten) Tatvorsatzes nicht allein auf das Ausmaß der Abstandsunterschreitung gestützt werden, sondern bedarf grundsätzlich einer gebührenden Auseinandersetzung mit den alle Vorsatzformen charakterisierenden immanenten kognitiven und voluntativen Vorsatzelementen, um mit der notwendigen Überzeugung ausschließen zu können, dass sich der Fahrer lediglich verschätzt hat (OLG Bamberg, Beschluss vom 19. Juli 2017 – 3 Ss OWi 836/17 –, OLGSt StPO § 267 Nr 35). Dabei liegt aber (bedingt) vorsätzliches Verhalten näher, je kürzer der Abstand ist (vgl. OLG Bamberg a.a.O., Beschluss vom 20. Oktober 2010 – 3 Ss OWi 1704/10 –, DAR 2010, 708).

Ausgehend von der jedem Führer eines fahrerlaubnispflichtigen Fahrzeugs bekannten Faustregel, wonach der erforderliche Sicherheitsabstand die Hälfte des Tachowertes beträgt, muss jedenfalls – ohne Vorliegen konkreter dagegensprechender Anhaltspunkte – regelmäßig davon ausgegangen werden, dass einem Fahrzeugführer das Unterschreitung des Sicherheitsabstandes bewusst gewesen ist und er dies zumindest billigend in Kauf genommen hat, wenn er über einen Zeitraum, in dem er den Abstand zum vorausfahrenden Fahrzeug bei gehöriger Aufmerksamkeit wahrnehmen, mittels der in der Fahrschülerausbildung üblicherweise gelehrten Methoden (2-Sekunden-Test für Außerortsverkehr, Anzahl der Fahrzeuglängen oder Anzahl der zwischen den Fahrzeugen befindlichen Leitpfosten) überprüfen und korrigieren konnte, bei nicht abnehmender Geschwindigkeit des vorausfahrenden Fahrzeugs lediglich einen Abstand von weniger als ein Viertel des Tachowertes einhält, so dass ein Schätzfehler fernliegt und die Begründung von Fahrlässigkeit gleichsam rechtsfehlerfrei nicht mehr möglich wäre (vgl. Bayerisches Oberstes Landesgericht, Beschlüsse vom 26. März 1991 – 2 ObOWi 430/90NZV 1991, 320, und vom 21. November 2001 – 2 ObOWi 501/01 – DAR 2002, 133).

So liegt der Fall hier. Nach den rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen des Amtsgerichts betrug die Zeit, in der der Betroffenen mit weniger als 2/10 des Tachowertes hinter dem vorausfahrenden Fahrzeug bei einer Geschwindigkeit von 115 km/h herfuhr mindestens 14 Sekunden; der Angriff der Rechtsbeschwerde gegen diese Feststellungen des Amtsgerichts geht – wie die Generalstaatsanwaltschaft zutreffend ausgeführt hat – fehl. Auch wenn sich aus den Urteilsgründen nicht ergibt, ob die Unterschreitung des Sicherheitsabstandes durch sukzessive Annäherung des Betroffenen an das vorausfahrende Fahrzeug durch eine höhere Geschwindigkeit, Geschwindigkeitsverzögerung des vorausfahrenden Fahrzeuges oder einen Fahrstreifenwechsel entstanden ist, hätte diese Zeit ohne Weiteres ausgereicht, um den Abstand wahrzunehmen (höchstens zwei Sekunden), zu überprüfen (höchstens fünf Sekunden) und durch Verringerung der eigenen Geschwindigkeit zu korrigieren (höchstens fünf Sekunden).
Unter diesen Umständen ist es nicht zu beanstanden, dass das Amtsgericht ausgehend von den objektiven Feststellungen einen Schätzfehler ausgeschlossen hat, zumal sich der Betroffene zum Vorwurf nicht eingelassen hatte und den Urteilsgründen keine Anhaltspunkte zu entnehmen sind, die gegen diese Schlussfolgerung sprechen würden.“

OWi I: Abstandsunterschreitung, oder: Vorsatz nicht schon bei Unterschreitung von 3/10 des halben Tachowertes

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Heute dann drei Owi-Entscheidungen, und zwar zum „materiellen Recht“.

Auf die erste Entscheidung, den BayObLG, Beschl. v. 02.08.2019 – 201 ObOWi 1338/19 – hatte ich gestern in Zusammenhang mit den Einsichtsentscheidungen schon hingewiesen. Hier kommt er heute noch einmal, und zwar wegen der Ausführungen des BayObLG zum Vorsatz bei der Absatzunterschreitung:

„b) Demgegenüber konnte auf die Sachrüge hin der Schuldspruch keinen Bestand haben, soweit das Amtsgericht von einer vorsätzlichen Tatbegehung ausgeht.

Nach den diesbezüglichen Feststellungen des Amtsgerichts hat der Betroffene, der die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 120 km/h um 9 km/h überschritt, innerhalb der gesamten Beobachtungsstrecke von ca. 300 m und nicht nur im Bereich der Messstrecke, einen zu geringen und sich augenscheinlich auch nicht verändernden Abstand zum vorausfahrenden Fahrzeug eingehalten. Das Amtsgericht hat ausgeschlossen, dass auf der ca. 300 m langen Beobachtungsstrecke ein Einscheren eines anderen Fahrzeugs oder ein Abbremsen des vor dem Betroffenen fahrenden Fahrzeugs stattfand, das den zu geringen Abstand im Messbereich verursacht haben könnte. Es ist weiter davon ausgegangen, dass es der Betroffene „offensichtlich eilig“ hatte und das vor ihm fahrende Fahrzeug überholen wollte. Zu seinen Gunsten hat es unterstellt, dass der Betroffene davon ausgegangen ist, dass das vorausfahrende Fahrzeug auf die mittlere Spur wechseln würde, wenn der gerade stattfindende Überholvorgang abgeschlossen sein würde. Nach den Feststellungen des Amtsgerichts fuhr der Betroffene „in Erwartung dieses Spurwechsels“ noch dichter auf, wobei der Abstand zum vorausfahrenden Fahrzeug kurzfristig nur noch etwa 18 m betragen hatte (UA S. 7/8).

Diese Ausführungen tragen trotz des erkennbaren Bemühens um eine sorgfältige Beweiswürdigung die Verurteilung wegen vorsätzlicher Tatbegehung nicht. Vorsätzliche Tatbegehung setzt voraus, dass der Betroffene die Unterschreitung des erforderlichen Abstandes erkennt und zumindest auch billigend in Kauf nimmt. Dieses voluntative Vorsatzelement wurde vorliegend nicht hinreichend begründet. Auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen lässt sich nicht ausschließen, dass das zu nahe Auffahren auf einer momentanen (groben) Unaufmerksamkeit des Betroffenen beruhte. Soweit das Amtsgericht aus dem Umstand, dass der Betroffene hierbei auch noch die zulässige Höchstgeschwindigkeit überschritt, es offensichtlich eilig hatte und nach dem Überholvorgang wieder auf die mittlere Spur einscheren wollte, einen anderen Schluss gezogen hat, vermag der Senat dem nicht zu folgen. Die Annahmen des Amtsgerichts zur Motivation des Abstandsverstoßes des Betroffenen und seinem weiteren Fahrverhalten bewegen sich nämlich letztlich im Bereich bloßer Vermutungen. Weder wird im Urteil eine entsprechende Einlassung des Betroffenen mitgeteilt, die einen solchen Schluss tragfähig begründen könnte, noch vermag sich ersichtlich das Amtsgericht insoweit auf die in Augenschein genommene Videoaufzeichnung zu stützen. Allein aus der Länge der Beobachtungsstrecke von 300 Metern, auf der sich nach den amtsgerichtlichen Feststellungen keine wesentliche Abstands- oder Geschwindigkeitsänderung zeigte, kann aber nicht auf ein vorsätzliches Verhalten geschlossen werden, da angesichts der hohen Geschwindigkeit diese Strecke binnen sehr kurzer Zeit durchfahren wird und eine momentane Unaufmerksamkeit nicht auszuschließen vermag. Die Ansicht des Amtsgerichts hat ohne das Hinzutreten sonstiger für eine billigende Inkaufnahme sprechender oder gegebenenfalls indiziell beweisrelevanter Umstände – wie etwa einem Drängeln durch Setzen des Blinkers und/oder Betätigung der Lichthupe – zur Konsequenz, dass letztlich in allen vergleichbaren Fällen stets Vorsatz anzunehmen wäre (OLG Bamberg DAR 2010, 708; OLG Bamberg, Beschluss vom 19.07.2017 – 3 Ss OWi 836/17 bei juris; OLG Bamberg, Beschluss vom 04.07.2018 – 2 Ss OWi 819/18; BayObLG, Beschluss vom 15.04.2019 – 202 ObOWi 442/19).

Der Senat verkennt nicht, dass gerade bei Abstandsverstößen sonstige für eine billigende Inkaufnahme sprechende oder wenigstens in diese Richtung deutende indiziell beweisrelevante Umstände häufig nur schwer festzustellen sein werden. Von Tatvorsatz wird ohne Hinzutreten weiterer Umstände im Regelfall erst ab einem Abstand von nur noch 2/10 des halben Tachowertes ausgegangen werden können. In solchen Fällen wird Fahrlässigkeit schon deshalb kaum noch lebensnah zu begründen sein, da eine derartige Fahrweise permanent die volle Aufmerksamkeit selbst eines erfahrenen Kraftfahrers erfordert und nur ausnahmsweise mit einer momentanen groben Unaufmerksamkeit erklärt werden kann (vgl. BayObLGSt 1991, 54, 55; BayObLG, Beschluss vom 15.04.2019 – 202 ObOWi 442/19; Burhoff/Gieg Handbuch für das straßenverkehrsrechtlichen OWi-Verfahren, 5. Aufl., Rn. 140 m.w.N.).“

(Akten)Einsicht III: Ablehnung durch das AG, oder: „Parität des Wissens“

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Und als dritte und letzte Entscheidung dann noch der LG Köln, Beschl. v. 11.10.2019 – 323 Qs 106/19 – zur Zulässigkeit der Beschwerde gegen die amtsgerichtliche Ablehnung, dem Betroffenen bestimmte Mussunterlagen zur Verfügung zu stellen.

Das LG sieht die Beschwerde als zulässig und auch begründet an.

1. Die Beschwerde des Betroffenen gegen den Beschluss des Amtsgerichts Köln vom 12.09.2019, mit welchem der Antrag des Betroffenen vom 15.08.2019 auf Einsicht in die digitalen Falldateien inklusive Rohmessdaten der kompletten Messreihe vom Tattag zurückgewiesen worden ist, ist zulässig und begründet.

a) Der Zulässigkeit der gemäß § 46 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 304 Abs. 1 StPO grundsätzlich statthaften Beschwerde steht § 305 Satz 1 StPO nicht entgegen. Hiernach unterliegen Entscheidungen der erkennenden Gerichte, die der Urteilsfällung vorausgehen, nicht der Beschwerde. Die Regelung soll Verfahrensverzögerungen verhindern, die eintreten würden, wenn Entscheidungen des erkennenden Gerichts sowohl auf eine Beschwerde als auch auf das Rechtsmittel gegen das Urteil überprüft werden müssten. Diesem Zweck entsprechend greift die Ausnahmevorschrift des § 305 Satz 1 StPO jedenfalls dann nicht ein, wenn ein Rechtsmittel gegen das (künftige) Urteil nicht eröffnet ist oder die betroffene Entscheidung im Rahmen eines zulässigen Rechtsmittels nicht überprüft werden kann (OLG Koblenz, Beschl. v. 17.03.201 1 – 1 Ws 154/1 1 , juris, dort Tz. 6; OLG Hamm, Beschl. v. 30.01.1986 – 6 23/86, NStZ 1986, 328f.; LG Neubrandenburg, Beschl. v. 30.09.2015 82 Qs 1 1 2/1 5, dort Tz. 14; Meyer-Goßner/Schmitt/Schmitt, StPO, 62. Auflage 2019, § 305 Rn. 1).

Dies ist vorliegend der Fall. Gegen den Betroffenen ist im Bußgeldbescheid vom 19.03.2019 eine Geldbuße von lediglich 120,00 € festgesetzt worden, ohne dass eine Nebenfolge angeordnet worden ist. Gegen ein entsprechendes Urteil ist daher eine Rechtsbeschwerde nicht zulässig, weil die Voraussetzungen des § 79 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 oder 2 OWiG nicht erfüllt sind (vgl. LG Neubrandenburg, Beschl. v. 30.09.2015 — 82 Qs 112/15, juris, dort Tz. 15) und es sich um keine der in § 79 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3-5 OWiG genannten Fallkonstellationen handelt. Ob im Hinblick auf die Zurückweisung des Antrags des Betroffenen vom 15.08.2019 die Rechtsbeschwerde gemäß den §§ 79 Abs. 1 Satz 2, 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG wegen der Versagung des rechtlichen Gehörs oder — in analoger Anwendung des 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG (vgl. BohneH/Krenberger/Krumm, in: Krenberger/Krumm, OWiG, 5. Auflage 2018, § 80 Rn. 22 m.w.N.) — wegen eines Verstoßes gegen den Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit und einer Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren zuzulassen wäre (so OLG Celle, Beschl. v. 16.06.2016 – I Ss (OWi) 96/16, juris, dort Tz. 4; a.A. OLG Hamm, Beschl. v, 03.01.2019 – 4 RBs 377/18, juris, dort Tz. 5f.), obliegt der eigenständigen Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts. Da ein Rechtsmittel gegen das (künftige) Urteil somit nicht von vorherein eröffnet ist, kann ein Ausschluss der Beschwerde gemäß § 305 Satz 1 StPO auch mit Blick auf den Ausnahmecharakter der Vorschrift — nicht auf die bloße Möglichkeit der Zulassung der Rechtsbeschwerde gestützt werden (so auch LG Neubrandenburg, Beschl. v. 30.09.2015 – 82 Qs 1 12/15, juris, dort Tz. 15).

b) Die Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg. Der Betroffene hat ein Recht auf Einsicht in die — nicht bei den Akten befindlichen — digitalen Falldateien inklusive Rohmessdaten der kompletten Messreihe vom Tattag.

Ein solcher Anspruch ergibt sich – auch beim standardisierten Messverfahren – aus dem Gebot des fairen Verfahrens, welches sich wiederum aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG ableitet und zudem in Art. 6 EMRK statuiert ist. Gemäß Art. 6 Abs. 3 Buchst. a) EMRK hat jede angeklagte Person mindestens das Recht, in allen Einzelheiten über Art und Grund der gegen sie erhobenen Beschuldigung unterrichtet zu werden. Dabei wendet sich das Gebot einer rechtsstaatlichen, insbesondere auch fairen Verfahrensgestaltung nicht nur an die Gerichte, sondern ist auch von allen anderen staatlichen Organen zu beachten, die auf den Gang eines Straf- oder Bußgeldverfahrens Einfluss nehmen. Der Grundsatz des fairen Verfahrens und das hieraus folgende Gebot der Waffengleichheit erfordern, dass sowohl die Verfolgungsbehörde als auch die Verteidigung in gleicher Weise Teilnahme-, Informations- und Äußerungsrechte wahrnehmen können, um so Übergriffe der staatlichen Stellen oder anderer Verfahrensbeteiligter angemessen abwehren zu können. Insofern kann sich hieraus ein Recht auf Einsicht in Akten oder Daten ergeben, welches über das Recht auf Einsicht in die dem Gericht vorliegenden Akten (§ 147 Abs. 1 StPO) hinausgeht (OLG Karlsruhe, Beschl. v. 16.07.2019 1 Rb 10 Ss 291/19, juris, dort Tz. 24f.; LG Kaiserslautern, Beschl. v. 22.05.2019 5 Qs 51/19, ZfSch 2019, 471, 472; jeweils m.w.N.).

Bezogen auf das Bußgeldverfahren ergibt sich auf dieser Grundlage, dass ein Betroffener wegen der zu garantierenden „Parität des Wissens“ bzw. der „Waffengleichheit“ verlangen kann, Einsicht in sämtliche existenten, zur Überprüfung der Messung erforderlichen Messunterlagen zu nehmen, und zwar auch, soweit sich diese nicht in den Gerichtsakten, sondern in den Händen der Verwaltungsbehörde befinden. Solche weitreichenden Befugnisse stehen dem Verteidiger im Vorfeld der Hauptverhandlung gerade bei standardisierten Messverfahren jedenfalls dann zu, wenn ein entsprechendes Herausgabeverlangen gegenüber der Verwaltungsbehörde ebenso erfolglos geblieben ist wie ein anschließender Antrag auf gerichtliche Entscheidung gemäß § 62 OWiG (OLG Karlsruhe, Beschl. v. 16.07.2019  1 Rb 10 Ss 291/19, juris, dort Tz. 28; KG Berlin, Beschl. v. 06.08.2018  3 Ws (B) 168/18, juris, dort Tz. 8; OLG Celle, Beschl. v. 16.06.2016 1 Ss (OWi) 96/16, juris, dort Tz. 5; LG Kaiserslautern, Beschl. v. 22.05.2019 – 5 Qs 51/19, ZfSch 2019, 471, 472; LG Hanau, Beschl. v. 07.01.2019 – 4b Qs 1 14/18, juris, dort Tz. 12ff.; LG Baden-Baden, Beschl. v. 14.09.2018 – 2 Qs 104/18, juris, dort Tz. l; LG Trier, Beschl. v. 14.06.2017 1 Qs 46/17, juris, dort Tz. 30ff.•, LG Neubrandenburg, Beschl. v. 30.09.2015 – 82 Qs 1 12/15, juris, dort Tz. 17ff.; a.A. OLG Oldenburg, Beschl. v. 23.07.2018 – 2 Ss OWi 197/18, juris, dort Tz. 20ff.; OLG Bamberg, Beschl. v. 13.06.2018 – 3 Ss OWi 626/18, juris, dort Tz. 3ff.; offen lassend: OLG Köln, Beschl. v. 27.09.2019 – 11 1-1 RBs 339/19, n.V., abrufbar unter https://www.burhoff.de/asp_weitere beschluesse/inhalte/5260.htm; jeweils m.w.N.). Denn zum einen gibt es keinen Erfahrungssatz, dass ein standardisiertes Messverfahren unter allen Umständen zuverlässige Ergebnisse liefert (so schon BGH, Beschl. v. 19.08.1993 – 4 StR 627/92, juris, dort Tz. 28), und zum anderen hat der Betroffene einen Anspruch darauf, nur aufgrund ordnungsgemäß gewonnener Messdaten verurteilt zu werden (OLG Karlsruhe, Beschl. v. 16.07.2019  1 Rb 10 291/19, juris, dort Tz. 28; KG Berlin, Beschl. v. 06.08.2018 3 Ws (B) 168/18, juris, dort Tz. 9). Bei einem standardisierten Messverfahren ist es dem Betroffen indes nur möglich, die Richtigkeit der Messung anzugreifen, wenn er im jeweiligen Verfahren konkrete Anhaltspunkte für eine Unrichtigkeit der Messung aufzeigen kann. Eine pauschale Behauptung, mit der die Richtigkeit der Messung angezweifelt wird, genügt nicht. Ein solcher dezidierter Vortrag ist dem Betroffenen jedoch nur dann möglich, wenn er — bzw. sein Verteidiger — auch Zugang zu den entsprechenden gesamten Messunterlagen des jeweiligen Messsystems hat und diese ggf. mit Hilfe eines Sachverständigen überprüfen kann (OLG Celle, Beschl. v. 16.06.2016 – 1 Ss (OWi) 96/16, juris, dort Tz. 5; LG Kaiserslautern, Beschl. v. 22.05.2019 – 5 Qs 51/19, ZfSch 2019, 471, 472; LG Trier, Beschl. v. 14.06.2017 1 Qs 46/17, juris, dort Tz. 40; ferner VGH Saarland, Beschl. v. 27.04.2018 — LV 1/18, juris, dort Tz. 31ff; jeweils m.w.N.).

Dabei ist es unerheblich, ob bereits konkrete Anhaltspunkte für Messfehler vorliegen oder vom Betroffenen vorgetragen worden sind. Denn ohne umfassende Kenntnis der zur Überprüfung der Messung erforderlichen Messunterlagen, die den Verfolgungsbehörden zur Verfügung stehen, kann der Betroffene bzw. seine Verteidigung schon nicht verlässlich beurteilen, inwiefern zweckmäßigerweise Beweisanträge gestellt oder Beweismittel vorgelegt werden sollen. Das Informationsund Einsichtsrecht des Verteidigers kann daher deutlich weiter gehen als die Amtsaufklärung des Gerichts (OLG Karlsruhe, Beschl. v. 16.07.2019 1 Rb 10 291/19, juris, dort Tz. 27f.; KG Berlin, Beschl. v. 06.08.2018 3 Ws (B) 168/18, juris, dort Tz. 9; LG Hanau, Beschl. v. 07.01.2019 – 4b Qs 114/18, juris, dort Tz. 18; a.A. OLG Oldenburg, Beschl. v. 23.07.2018-2 ss OWi 197/18, juris, dort Tz. 24ff.). Anders als im Hinblick auf die Reichweite der gebotenen Amtsaufklärung ist es daher für das Einsichtsrecht des Verteidigers ohne Bedeutung, inwiefern das Gericht selbst es für ausgeschlossen hält, dass sich aus der Auswertung der Messdaten der gesamten Messreihe Entlastungsmomente für den Betroffenen ergeben. Eine konkrete Darlegung seitens des Betroffenen, welche Anhaltspunkte für eine Unrichtigkeit der Messung sich bei Einsichtnahme in die Messdaten möglicherweise ergeben könnten und welche Schlüsse hieraus zu ziehen wären, ist in diesem Zusammenhang nicht erforderlich.

Unter Zugrundelegung dieser Maßgaben hat der Betroffene einen Anspruch auf Einsicht in die digitalen Falldateien inkl. Rohmessdaten der kompletten Messreihe vom Tattag (08.01.2019). Bei dem durchgeführten Geschwindigkeitsmessverfahren mittels des Messgeräts ESO 3.0 handelt es sich um ein standardisiertes Messverfahren. Eine Einsicht in die digitalen Falldateien ist bereits im Verwaltungsverfahren mit anwaltlichem Schreiben vom 25.04.2019 erfolglos beantragt worden. Der anschließende Antrag auf gerichtliche Entscheidung gemäß § 62 OWiG vom 12.06.2019 ist mit Beschluss des Amtsgerichts Brühl vom 26.06.2019 (Az. 53 OWi 740/19 [b]) zurückgewiesen worden. Dass die digitalen Falldateien, deren Einsicht der Betroffene begehrt, nicht existent wären, ist schließlich nicht ersichtlich.

Hinsichtlich der Art und Weise der begehrten Einsichtnahme, nämlich durch Kopie auf einen von der Verteidigung zur Verfügung gestellten Datenträger, bestehen keine Bedenken. Auch datenschutzrechtliche Bedenken stehen der Einsichtnahme in die Falldatensätze nicht entgegen. Soweit mit der. Zurverfügungstellung der gesamten Messserie ein Eingriff in die Persönlichkeitsrechte anderer Verkehrsteilnehmer einhergeht, weil von diesen jeweils Foto und Kennzeichen übermittelt werden, überwiegt vorliegend das Interesse des Betroffenen an der Durchsetzung seines Anspruchs auf ein faires Verfahren. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass lediglich Foto und Kennzeichen, nicht aber die Fahrer- oder Halteranschrift der anderen Verkehrsteilnehmer übermittelt werden. Zudem ist von einem Verteidiger als Organ der Rechtspflege auch zu erwarten, dass die ihm übermittelten Daten nicht an Dritte weitergegeben werden (vgl. LG Kaiserslautern, Beschl. v. 22.05.2019 — 5 Qs 51/19, ZfSch 2019, 471, 472; LG Hanau, Beschl. v. 07.01.2019 – 4b Qs 1 14/18, juris, dort Tz. 20).“