Archiv für den Monat: September 2016

Angeklagter mit offener Tuberkulose, oder: Zwangs-Bronchonskopie – geht das?

entnommen wikimedia.org Urheber User:

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Gegen den Angeklagten ist/war beim LG Hamburg ein Verfahren versuchten Totschlags u.a. anhängig. In dem Verfahren geht es um die Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten betreffend seine Anwesenheit in der Hauptverhandlung. Es liegen nämlich Anhaltspunkte für eine Erkrankung des Angeklagten an offener Tuberkulose vor. Der Angeklagte hat sich geweigert , eine Sputumprobe abzugeben oder eine Bronchoskopie durchführen zu lassen. Allein anhand der vorliegenden Röntgenbilder ist eine eindeutige medizinische Abklärung aber nicht möglich. Es geht jetzt um die Frage, ob die zwangsweise Durchführung einer Bronchoskopie angeordnet werden kann. Das OLG Hamburg hat das OLG Hamburg im schon etwas älteren OLG Hamburg, Beschl. v. 06.11.2015 – 1 Ws 148/15 – bejaht, und zwar auf der Grundlage von § 81a Abs. 1 StPO:

„cc) Die Aufklärung der Verhandlungsfähigkeit ist unerlässlich. Von der Verhandlungsfähigkeit hängt maßgeblich ab, welche Sicherungsmaßnahmen die Strafkammer bei der Durchführung der Hauptverhandlung zu beachten haben wird.

(1) Eine mit eigener Sauerstoffzufuhr ausgestattete gläserne Abtrennung ist in keinem Hamburger Gerichtssaal vorhanden. Die kurzfristige Errichtung dessen – namentlich auf bloßen Verdacht hin – ist weder möglich und noch verhältnismäßig.

(2) Nicht geboten ist ohne klare Befunderhebung auch eine weitgehende Verhandlung in Abwesenheit des mutmaßlich schwer erkrankten und infektiösen Angeklagten. Eine solche sieht das Gesetz in dieser Weite nicht ausdrücklich vor. In Betracht zu ziehen wäre durch die Strafkammer allenfalls eine kurzzeitige Verhandlung mit dem – vollständig in einen Schutzanzug gekleideten – Angeklagten, um diesem die Möglichkeit zur Einlassung zu geben (§ 243 Abs. 5 StPO); sodann wäre er nach § 231a StPO auszuschließen. ……

(3) In Betracht kommt auch nicht etwa eine Haftunterbrechung und Unterbringung in Absonderung – gar außerhalb Hamburgs – nach den Maßgaben des Beschlusses des Amtsgerichts Hamburg – Betreuungsgericht – vom 27. Oktober 2015. Allein das hiermit verbundene Zuwarten erweist sich als unbehelflich und unvereinbar mit einer funktionsfähigen Strafrechtspflege. Eine etwa hiermit verbundene Zwangsmedikation erweist sich in der Gesamtschau jedenfalls nicht als milderes Mittel als die hier angeordnete Untersuchung.

cc) Der Zwangsmaßnahme selbst ist auch geboten. In diese Abwägung hat der Senat folgende Erwägungen eingestellt:

(1) Die mit der Zwangsmaßnahme verbundene Eingriffstiefe ist begrenzt. Der Eingriff wird durch einen Arzt eines Universitätsklinikums durchgeführt werden. Es handelt sich um einen Routineeingriff. Das Risiko für den Angeklagten ist daher – freilich mit Rücksicht auf niemals vollständig auszuschließende Komplikationen – als gering anzusehen. Der Eingriff selbst wird nach Einleitung der Sedierung nach ärztlicher Auskunft etwa zehn Minuten dauern; währenddessen wird ein im Durchmesser etwa 0,5 bis 0,8cm dünner Plastikschlauch über Mund und/oder Nase eingeführt in die Luftröhre, um zunächst zu inspizieren und sodann Sekret abzusaugen. Insgesamt wird der Eingriff – mit Ein- und Ausleiten aus der Tiefschlafsedierung – etwa eine Stunde dauern. Hierbei wird der Angeklagte nicht narkotisiert, sondern lediglich sediert. Er ist noch am selben Tage wieder transportfähig und kann in das Zentralkrankenhaus der Untersuchungshaftanstalt zurückgeführt werden.

(2) Dauerhafte gesundheitliche Folgen durch den Eingriff stehen nicht zu besorgen (vgl. hierzu EGMR, Urteil v. 11. Juli 2006 – 54810/00 Jalloh/Deutschland, NJW 2006, 3117, 3120). Der Eingriff erfolgt nach einer Anamnese des derzeit haftfähigen Angeklagten. Die in der Untersuchungshaftanstalt vorhandenen Krankenunterlagen werden dem Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf vor dem Eingriff zur Verfügung gestellt.

(3) Ein Dolmetscher wird hinzuzuziehen sein, um sicherzustellen, dass eine durchgehende Verständigung zwischen Angeklagtem und Arzt möglich ist (vgl. hierzu EGMR, aaO., 3121).

(4) Auch in der Gesamtschau mit weiteren Zwangsmaßnahmen erweist sich die Eingriffstiefe nicht als erheblich. So ist zur Vorbereitung der Bronchoskopie – bei absehbar fehlender Mitwirkung des Angeklagten – auch eine Blutentnahme notwendig, um Gerinnungswerte, namentlich die Thrombozytenanzahl, festzustellen. Auch der Einsatz körperlichen Zwangs – etwa durch Fixierung des schweren und großen Angeklagten durch hinzuzuziehende Polizeikräfte oder mittels erforderlicher Fesselung – bei Gegenwehr des Angeklagten führt nicht zur Unverhältnismäßigkeit der Zwangsmaßnahme. Nach der möglicherweise notwendig werdenden Fixierung und sodann eingeleiteter Sedierung wird der Angeklagte während des Eingriffs keinen Widerstand mehr leisten können. Diese Maßnahme ebenso wie der zur Vor- und Nachbereitung etwa erforderliche körperliche Zwang wären durch eine zumutbare Mitwirkung des Angeklagten vermeidbar. Zur Durchführung des Strafverfahrens ist dieses Vorgehen insgesamt unvermeidbar – ein anderenfalls drohender Stillstand der Strafrechtspflege bei der Aufklärung eines Gewaltverbrechens ist hier ersichtlich nicht hinnehmbar.“

Na ja.

Für die Medizin(straf)rechtler: Die Untreue des Kassenarztes

© rcx - Fotolia.com

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Einige werden sagen: „Es gibt sie“ oder: „Ich habe es doch immer gesagt“ …. nämlich die Untreue (§ 266 StGB) des Vertragsarztes einer Krankenkasse. Dazu hat jetzt der BGH im BGH, Beschl. v. 16.08.2016 – 4 StR 163/16 – Stellung genommen. Grundlage war folgender Sachverhalt:

Der Angeklagte ist Arzt. Er betreibt in Sa. als Chirurg und Durchgangsarzt eine eigene Praxis und ist als sog. „Kassenarzt“ zur vertrags-ärztlichen Versorgung zugelassen. Seit 1999 arbeitet er als „Kooperationsarzt“ mit S. und J. T. zusammen, die ebenfalls in Sa. sowie in L. und in Q. „V. Gesundheitszentren“ führen, in denen sie unter anderem Physiotherapie und Krankengymnastik anbieten. Sie sind zur Abgabe physiotherapeutischer Leistungen von den Krankenkassen zugelassen.

In den Jahren 2005 bis 2008 erstellte der Angeklagte in insgesamt 479 Fällen Heilmittelverordnungen für physiotherapeutische Leistungen, insbesondere manuelle Therapie, Wärmepackungen, Unterwasserdruckstrahlmassa-gen sowie gerätegestützte Krankengymnastik. Diese Heilmittelverordnungen erstellte der Angeklagte für „Patienten“ ohne Untersuchung oder anderweitige Konsultation; eine medizinische Indikation bestand für sie nicht. Vielmehr wurden dem Angeklagten von den Eheleuten T. aufgrund eines gemein- samen Tatplans Krankenversicherungskarten von Angestellten der „V. Gesundheitszentren“ und – unter anderem – den Spielern eines Fußballvereins überlassen, die der Angeklagte als Mannschaftsarzt sowie die Eheleute T. – unentgeltlich – physiotherapeutisch betreuten. Die Heilmittelverordnungen leitete der Angeklagte sodann den Eheleuten T. zu. Diese ließen sich die Erbringung der vom Angeklagten verordneten Leistungen von den „Patienten“ bestätigen, obwohl sie – was der Angeklagte ebenfalls wusste und billigte – in keinem der Fälle erbracht worden waren. Anschließend wurden sie – was eben-falls Teil des gemeinsamen Tatplanes war – von den Eheleuten T. (kassen- und monatsweise zusammengefasst durch insgesamt 217 Handlungen) bei verschieden Krankenkassen eingereicht und von diesen in der Annahme, die verordneten Leistungen seien erbracht worden, in Höhe von insgesamt 51.245,73 € bezahlt.

Von den Zahlungen erhielt der Angeklagte keinen Anteil. Ihm ging es darum, die einträgliche Stellung als Kooperationsarzt der „V. Gesundheitszentren“ zu erhalten und das unberechtigte Gewinnstreben der Eheleute T. zu ermöglichen und zu unterstützen, die sich durch ihr Vorgehen eine Einnahmequelle von einigem Umfang und nicht nur geringer Dauer erschließen sowie – zu einem Teil – ihre für die Vereine kostenlose Betreuung „refinanzieren“ wollten.“

Das LG hat den Angeklagten wegen Untreue in 479 Fällen in Tateinheit mit Beihilfe zum Betrug in 217 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Gegen das Urteil, dem eine Verständigung nach § 257c StPO zugrunde liegt, richtet sich die auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten. Der BGH hat im Wesentlichen verworfen. Dazu der Leitsatz der BGH-Entscheidung:

„Den Vertragsarzt einer Krankenkasse trifft dieser gegenüber eine Vermögensbetreuungspflicht im Sinn des § 266 Abs. 1 StGB, die ihm zumindest gebietet, Heilmittel nicht ohne jegliche medizinische Indikation in der Kenntnis zu verordnen, dass die verordneten Leistungen nicht erbracht, aber gegenüber den Krankenkassen abgerechnet werden sollen.“

Erfolg hatte die Revision wegen der Verurteilung wegen tateinheitlich begangener Beihilfe zum Betrug in 217 Fällen. Die hat der BGH entfallen lassen. Hat im Ergebnis aber nichts gebracht, denn:

„….

3. Der Senat kann jedoch angesichts der maßvollen Ahndung der vom Landgericht festgestellten Taten ausschließen, dass die Strafkammer ohne die Verurteilung auch wegen Beihilfe zum Betrug geringere Einzelstrafen oder eine mildere Gesamtstrafe verhängt hätte, zumal die spätere Entwicklung der Schäden sich auf das Maß der Schuld auswirkt und daher ohnehin bei der Strafzumessung zu berücksichtigen war (vgl. BGH, Beschluss vom 26. November 2015 – 3 StR 17/15, wistra 2016, 316, 314, 325, juris Rn. 92). Die tateinheitliche Verwirklichung mehrerer Straftatbestände als solche hat die Strafkammer dem Angeklagten nicht strafschärfend angelastet.“

Lösung zu: Ich habe da mal eine Frage: Welchen Weg der „zwangsweisen Durchsetzung“ gibt es?

© haru_natsu_kobo Fotolia.com

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Nun, so ganz einfach ist das mit einer Antwort auf die Frage vom vergangenen Freitag: Ich habe da mal eine Frage: Welchen Weg der „zwangsweisen Durchsetzung“ gibt es?, nicht.

Zunächst: Es geht um die Kosten/Auslagen nach einer Entscheidung nach § 467a StPO. Der setzt, worauf einer der Kommentatoren hingewiesen hat, voraus dass die Anklage zurückgenommen und das Verfahren eingestellt worden ist. Dass müsste also zunächst mal abgeklärt werden.

Aber ich denke, dass es dem Kollegen vor allem darum ging, nach inzwischen neun Monaten überhaupt eine Antwort zu bekommen. Und das ist für mich das Unerklärliche an dem Fall/dem Sachverhalt: Er schreibt das AG drei Mal an und bekommt keine Antwort. Unabhängig von der Frage, ob die Akten noch beim AG sind oder nicht – an sich müssten sie bereits wieder bei der StA sein, denn das AG hat zunächst mal nichts mehr damit zu tun – meine ich, müsste/sollte das AG dem Kollegen dann doch wohl mitteilen (müssen), wo die Akten sind.

Also was tun:

  1. Ich würde zweigleisig fahren, und die StA und das AG erinnern/anschreiben.
  2. Bei der StA würde ich einen Einstellungsantrag stellen, wenn noch nicht eingestellt worden ist. Wird über den nicht in annehmbarer Zeit – kurzfristig – entschieden, würde ich erinnern, dann aber über den Behördenleiter – soll manchmal helfen 🙂 .
  3. Beim AG würde ich auch nachfragen – und zwar hier jetzt über den Behördenleiter, schließlich ist es die dritte Anfrage/Erinnerung. Da kann man ja wohl eine Nachricht über den Zwischenstand erwarten.
  4. Ein Antrag nach §§ 23 ff. EGGVG geht m.E. nicht. Ggf. kann man Beschwerde einlegen und sich auf den Standpunkt stellen, die Nichtbescheidung ist eine Ablehnung, gegen die dann Beschwerde eingelegt wird. Möglicherweise wird dem aber entgegen gehalten: Untätigkeitsbeschwerde und die ist nicht – mehr – zulässig, was m.E. falsch ist. Eine Abschrift der Beschwerde würde ich zur Sicherheit gleich an die Beschwerdekammer schicken, damit die Beschwerde nicht „verloren geht“!
  5. Dann noch Dienstaufsichtsbeschweder, aber: FFF :-). Kann aber helfen und Bewegung in die Sache bringen.
  6. Und vielleicht dann auch noch die §§ 198, 199 GVG beachten.

Viel Aufwand. Ich frage mich, warum der nötig ist und warum das AG bzw. die StA nicht einfach den Antrag bescheidet bzw. tut, was erforderlich ist. Zeit genug ist dafür ja gewesen.

Manche lernen es nie V: Die fehlende Einlassung in den Urteilsgründen

© Alex White - Fotolia.com

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Der Kollege Rinklin aus Freiburg, der mir den OLG Karlsruhe, Beschl. v. 15.09.2016 – 2 (7) SsBs 507/16-AK 173/16 – hatte in der Begleitmail schon geschrieben, dass er die Überschrift: „Manche lernen es nie….“ im Blog bei dem Beschluss schon vor Augen habe. Und Recht hatte er. Denn der Beschluss ist für diese Serie geradezu prädestiniert. Denn dass OLG muss mal wieder zu der Frage Stellung: Es fehlt die Wiedergabe der Einlassung des Betroffenen in den Urteilsgründen. Und dieser häufige Fehler führt eben zur Aufhebung:

„Die gemäß § 79 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 OWiG statthafte und auch sonst zulässige Rechtsbeschwerde hat mit der Rüge der Verletzung materiellen Rechts – vorläufig – Erfolg, da sich die Urteilsgründe als lückenhaft erweisen. Das angefochtene Urteil enthält keine dem Mindestanforderungen der §§ 261,267 StPO i.V.m. § 71 Abs. 1 OWiG genügende Beweiswürdigung.

Zwar sind im Bußgeldverfahren an die Abfassung der schriftlichen Urteilsgründe keine übertrieben hohen Anforderungen zu stellen. Dennoch kann für deren Inhalt grundsätzlich nichts anderes als im Strafverfahren gelten. Denn auch im Bußgeldverfahren sind die Urteilsgründe die alleinige Grundlage für die rechtliche Überprüfung des Urteils auf die Sachbeschwerde hin. Sie müssen daher so beschaffen sein, dass dem Rechtsbeschwerdegericht die Nachprüfung einer richtigen Rechtsanwendung ermöglicht wird. Dies gilt auch für die Beweiswürdigung, weil das Rechtsbeschwerdegericht nur so in den Stand gesetzt wird, die Beweiswürdigung des Tatrichters auf Widersprüche, Unklarheiten, Lücken oder Verstöße gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze zu überprüfen, wie für den Rechtsfolgenausspruch (KK-Senge OWiG 4. Aufl. § 71 RN 106; Göhler OWiG 16 Aufl. § 71 RN 42 43 jeweils m.w.N.). Im Einzelnen bedeutet dies, dass die schriftlichen Urteilsgründe nicht nur die für erwiesen erachteten Tatsachen angeben müssen, in denen die gesetzlichen Merkmale der ordnungswidrigen Handlung gefunden werden, und zwar unter Darlegung des genauen Tatorts und der Tatzeit. Vielmehr müssen hinsichtlich der Beweiswürdigung die Urteilsgründe regelmäßig auch erkennen lassen, auf welche Tatsachen das Gericht seine Überzeugung gestützt hat, ob und wie sich der Betroffene eingelassen hat, ob der Richter der Einlassung folgt oder ob und inwieweit er die Einlassung für widerlegt ansieht. Räumt der Betroffene die Tat nicht in vollem Umfang glaubhaft ein, müssen die Urteils-gründe die tragenden Beweismittel wiedergeben und sich mit ihnen auseinandersetzen. Nur so ist gewährleistet, dass das Rechtsbeschwerdegericht die tatrichterliche Beweiswürdigung auf Rechtsfehler überprüfen kann (KK-Senge a.a.O. Rn. 107; Göhler a.a.O. Rn. 43,43 a; OLG Bamberg, Beschluss vom 02. April 2015 – 2 Ss OWi 251/15 -, juris)

Diesen Anforderungen genügt das angefochtene Urteil nicht. Aus den Urteilsgründen lasst sich entnehmen, dass die Feststellungen auf der Einlassung des Betroffenen, soweit dieser gefolgt werden konnte, den Angaben des Sachverständigen und den in der Hauptverhandlung in Augenschein genommenen Lichtbildern und verlesenen Urkunden beruht. Gefolgt ist das Gericht der Einlassung des Betroffenen, soweit er seine Fahrereigenschaft eingeräumt hat. Völlig offen bleibt, wie sich der Betroffene im Übrigen eingelassen hat, warum das Gericht diese Einlassung für widerlegt angesehen hat und ihr nicht gefolgt ist Es besteht jedenfalls die Möglichkeit, dass sich der Betroffene bezüglich der Abstandsmessung oder der näheren Umstände der ihm vorgeworfenen Verkehrsordnungswidrigkeit, in eine bestimmte Richtung substantiiert verteidigt hat und nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Gericht die Bedeutung der Betroffeneneinlassung verkannt oder sie rechtlich unzutreffend gewürdigt hat (OLG Bamberg, Beschluss vom 09. Juli 2009 – 3 Ss OWi 290/09 -, juris; OLG Hamm, Beschluss vom 21. November 2002 – 5 Ss 1016/02 -, juris; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 16. Oktober 2006 – 1 Ss 55/06 -, juris).“

Der Senat schließt sich diesen zutreffenden Erwägungen an. Hinsichtlich der Wirksamkeit der Zustellung des Urteils an den Verteidiger ist er ebenfalls der zitierten Ansicht (Senatsbeschluss vom 08.10.2015 – 2 (7) SsBs 467/15 -, juris). Ebenso hält der Senat bei der vorliegenden Sachlage, bei der das Gericht einer Einlassung teilweise folgt und sie offensichtlich teilweise für widerlegt hält (vgl. …“soweit dieser gefolgt werden konnte,…“), deren Mitteilung für erforderlich (Senatsbeschluss vom 29.04.2016 – 2 (10) SsRs 195/16).“

Lassen wir mal die Zustellungsproblematik außen vor – nicht schon wieder 🙂 : Es handelt sich um einen häufigen Fehler (vgl. nur OLG Bamberg VRR 2010, 34 = VA 2009, 212; NZV 2010, 369 = zfs 2011, 594 = VA 2015, 120; OLG Braunschweig VA 2013, 174; OLG Celle VRR 2010, 432 = VA 2010, 192; OLG Hamm StraFo 2003, 133; zfs 2000, 577; 2008, 348; OLG Koblenz zfs 2007, 589; VRR 2010, 363 [Ls.] = VA 2010, 197 [Ls.]; OLG Köln DAR 2011, 150 = VA 2011, 51 für Trunkenheitsfahrt; OLG Schleswig zfs 2014, 413 = VRR 2014, 270 = VA 2014, 100 für Rotlichtverstoß). Die Anforderungen gelten übrigens nicht nur für das Urteil im Bußgeldverfahrens, sondern auch für das strafrichterliche Urteil (u.a. BGH NStZ 2015, 299; StV 1984, 64 [Ls.]; StraFo 2015, 121; NStZ-RR 1997, 172; 2002, 243). Aber: Manche lernen es nie………..

Pflichti: Wann gibt es in der Strafvollstreckung einen Pflichtverteidiger?

© G.G. Lattek - Fotolia.com

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Ich will die Woche mit einem erfreulichen Beschluss beginnen, nämlich dem OLG Stuttgart, Beschl. v.  05.10.2015 – 4 Ws 328/15. Ist zwar schon etwas älter, aber ich bin jetzt erst auf ihn gestoßen. Der Beschluss ist aber einen Hinweis wert. Denn es geht um die Frage, wann einem Verurteilten im Strafvollstreckungsverfahren ein Pflichtverteidiger zu bestellen ist. Das ist ja eine Frage, bei der sich die OLG mit der Beantwortung immer noch schwer tun und doch recht – in meinen Augen: zu – restriktiv verfahren. Der Beschluss der OLG Stuttgart zeigt nun sehr schön, worauf es ankommt und kommt zu einem m.E. richtigen Ergebnis:

4. Allerdings erscheint dem Senat vorliegend die Bestellung einer Verteidigerin aufgrund der Schwierigkeit der Sachlage geboten.

a) Erwägt die Strafvollstreckungskammer aufgrund des Ergebnisses eines Sachverständigengutachtens abweichend von der Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt zu entscheiden, indiziert dies, dass die Sachlage bei der Beurteilung der Voraussetzungen der Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung gemäß § 57 StGB nicht einfach gelagert ist (OLG Hamm, StRR 2009,403).

Zwar hat die Strafvollstreckungskammer aufgrund des Ergebnisses des Gutachtens vom 4. September 2015 nicht erwogen, entgegen der Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt R. vom 30. Juli 2015, die auf der Grundlage des Diagnostikberichts vom 11. Juni 2015 erging, zu entscheiden. Das Gutachten vom 4. September 2015 bestätigte vielmehr die Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt und den dieser Stellung nähme zugrundeliegenden Diagnostikbericht. Es liegt jedoch eine vergleichbare Verfahrenslage vor.

Zum Zeitpunkt der mündlichen Anhörung des Verurteilten am 31. Juli 2015 lagen der Strafvollstreckungskammer neben der Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt der Diagnostikbericht vom 11. Juni 2015 vor. Obwohl dieser das allgemeine, aber auch einschlägige Rückfallrisiko im Hinblick auf Gewalt- und auch Sexualstraftaten beim Verurteilten als relativ hoch einschätzte, weitere, ähnlich gelagerte Straftaten, insbesondere im Beziehungsbereich wegen stark vorherrschender deliktfördernder und kulturell traditionell geprägter Einstellungen als wahrscheinlich ansah und aufgrund der Chronizität der Delinquenz des Verurteilten eine mehrjährige, intensive, multimodale Therapie mit Gruppenangeboten und Wohngruppenvollzug einschließlich hochfrequenter einzeltherapeutischer Gespräche, wie sie in der Sozialtherapeutischen Anstalt Baden-Württemberg (STA) angeboten wird, als – das ausschließliche Mittel der Wahl – indiziert ansah, sah sich die Strafvollstreckungskammer gleichwohl nach Durchführung der mündlichen Anhörung veranlasst, ein Gutachten einzuholen.

Sie hat hierzu in der mündlichen Anhörung am 31. Juli 2015 ausgeführt: „Die Kammer erläutert, dass nach dem Ergebnis der heutigen Anhörung ein psychiatrisches oder psychologisches Sachverständigengutachten eingeholt werden wird. Die Kammer beabsichtigt nicht, ohne ein Sachverständigengutachten die Entlassung abzulehnen.“ Im Beschluss der Strafvollstreckungskammer vom 13. August 2015 heißt es unter Ziff. 1: „Da die Kammer erwägt, die Vollstreckung des letzten Drittels der Freiheitsstrafe aus dem Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 13. Februar 2013 zur Bewährung auszusetzen, wird gemäß § 454 Abs. 2 StPO ein kriminalprognostisches Sachverständigengutachten eingeholt“.

Wenn aber die Strafvollstreckungskammer trotz des Vorliegens des – für den Senat deutlichen – Diagnostikberichtes zu verstehen gibt, dass sie in der vorliegenden Diagnostik und der Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt noch keine ausreichende Entscheidungsgrundlage sieht, vielmehr die Einholung eines Gutachtens zur Gewinnung einer weiteren Entscheidungsgrundlage für erforderlich hält, ist von einer Schwierigkeit der Sachlage auszugeben.

b) In der vorliegenden Situation erscheint die beantragte Bestellung der Verteidigerin geboten. Die dem einzuholenden Sachverständigengutachten von der Strafvollstreckungskammer unter Umständen zugedachte Bedeutung gegenüber dem vorliegenden Diagnostikbericht und die möglicherweise erforderliche Auseinandersetzung mit gegensätzlichen Bewertungen führt zu einer schwierigen Sachlage und gebietet den rechtsanwaltlichen Beistand des Verurteilten.

5. Die Bestellung erstreckt sich auf das Verfahren über die Entscheidung zur Reststrafenaussetzung zur Bewährung (OLG Düsseldorf, StraFo 2011,371; OLG München, StraFo 2009,527; OLG Zweibrücken, NStZ 2010, 470; OLG Frankfurt, NStZRR 2003, 252). Die Ansicht des OLG Stuttgart in NJW 2000, 3367 steht nicht entgegen, da es sich im vorliegenden Verfahren der Entscheidung über eine Reststrafaussetzung zur Bewährung gem. § 57 StGB im Gegensatz zum dort entschiedenen Fall der erfolgten Bestellung eines Verteidigers „für das gesamte Vollstreckungsverfahren“ in einer Unterbringungssache um einen klar abgrenzbaren Verfahrensabschnitt handelt, der eine auf diesen Abschnitt beschränkte Entscheidung ermöglicht.“

Ob man nicht ggf. auch aus anderen Gründen hätte beiordnen können, kann man m.E. diskutieren.