Archiv für den Monat: November 2011

Sexueller Missbrauch – auf offener Straße? Eher unwahrscheinlich

Das  ist von folgenden Feststellungen ausgegangen:

Der Angeklagte begleitete „die ihm unbekannte neun Jahre alte Grundschülerin C. auf ihrem Schulweg. Dabei erzählte er ihr, dass zwei etwa 12 Jahre alte Freundinnen seiner Tochter bei ihm zuhause gebadet hätten. Eine von ihnen habe auf seine Aufforderung hin seinen Penis angefasst und sei anschließend von ihm von hinten „gefickt“ worden. Im Anschluss daran forderte er C. auf, ebenfalls seinen Penis anzufassen. Diese weigerte sich, ging aber weiter neben dem Angeklagten her. Kurz darauf kam ihr Vater hinzugeeilt und stellte den Angeklagten zur Rede. Ob C. die Bedeutung des Wortes „Ficken“ geläufig war, vermochte das Landgericht nicht sicher festzustellen. Sie war jedoch in der Lage, sowohl den sexu-ellen Bezug der Erzählungen, als auch den Inhalt der an sie gerichteten Aufforderung zu erfassen. Noch am Folgetag wirkte sie deshalb peinlich berührt.“

Das LG hat in den Erzählungen des Angeklagten einen sexuellen Missbrauch von Kindern im Sinne von § 176 Abs. 4 Nr. 4 StGB und in der sich anschließenden Aufforderung seinen Penis anzufassen einen hierzu in Tateinheit stehenden versuchten sexuellen Missbrauch eines Kindes gemäß § 176 Abs. 1 Fall 2, Abs. 6 Halbsatz 1; § 23 Abs. 1, § 22 StGB gesehen.

Der BGH sieht das im BGH, Beschl. v. 27.09.2011 – 4 StR 454/11 – anders:

„Ein versuchter sexueller Missbrauch eines Kindes wird durch die Feststellungen nicht belegt.

Eine Straftat versucht, wer nach seiner Vorstellung von der Tat zur Verwirklichung des Tatbestandes unmittelbar ansetzt (§ 22 StGB). Noch nicht tatbestandsmäßige Handlungen erfüllen diese Voraussetzungen nur dann, wenn sie nach dem Tatplan der Verwirklichung eines Tatbestandsmerkmals so dicht  vorrgelagert sind, dass das Geschehen bei ungestörtem Fortgang ohne weiteren Zwischenakt in die Tatbestandsverwirklichung einmündet (BGH, Urteil vom 16. Januar 1991 – 2 StR 527/90, BGHSt 37, 294, 297 f.; Fischer, StGB, 58. Aufl., § 22 Rn. 10 mwN). Danach kann in der Aufforderung des Angeklagten, seinen Penis anzufassen, nur dann ein unmittelbares Ansetzen zur Verwirklichung des Tatbestandes des § 176 Abs. 1 Fall 2 StGB gesehen werden, wenn der Angeklagte dabei angenommen hat, dass es im unmittelbaren Anschluss – also auf offener Straße – zur Vornahme der angestrebten sexuellen Handlung kommt. Ausdrückliche Feststellungen hierzu hat das Landgericht nicht getroffen. Obgleich der Angeklagte in der Vergangenheit mehrfach wegen exhibitionistischer Handlungen und Vornahme sexueller Handlungen in der Öffentlichkeit verurteilt werden musste, versteht sich ein solcher Tatplan hier nicht von selbst.“

M.E. zutreffend. Das Ansetzen zur Verwirklichung des Tatbestandes auf offener Straße dürfte eher unwahrscheinlich sein.

Ende der Öffnungszeiten – bei Gericht

Gerichtsgebäude haben Öffnungszeiten, wie Ladenlokale usw. So weit, so gut. Alles kein Problem. Problematisch wird es nur bzw. kann es werden, wenn außerhalb der Öffnungszeiten verhandelt. Dann kann insbesondere in Straf- und Bußgeldsachen der Grundsatz der Öffentlichkeit (§ 169 GVG) tangiert so sein. So beim LG Lübeck. Dort hatte der Angeklagte in der Revision mit der Verfahrensrüge geltend gemacht, dass das LG „mindestens „in der Zeit von 15.30 Uhr bis zum Schluss der Verhandlung“ unter Ausschluss der Öffentlichkeit verhandelt [hat], weil der Haupteingang des Gerichts ab diesem Zeitpunkt verschlossen gewesen sei. Insbesondere die Urteilsverkündung sei in diesem Zeitraum erfolgt.“

Als Verteidiger bemerkt man Zugangsbeschränkungen nicht unbedingt. Hier war es nach den „Feststellungen“ im BGH, Beschl. v. 28.09.2011 – 5 StR 245/11 – so: „Der Verteidiger habe nach den Schlussvorträgen und dem letzten Wort des Angeklagten in der sich anschließenden Unterbrechung der Hauptverhandlung das Gerichtsgebäude durch den einzigen Zu- und Eingang verlassen. Er sei von Geschäftsstellenmitarbeiterinnen gewarnt worden, die Tür ins Schloss fallen zu lassen, weil sie sich von außen nicht öffnen lasse. Als er zum Gerichtsgebäude zurückgekehrt sei, habe er die Zugangstür verschlossen vorgefunden. Durch Klopfen und Gestikulieren habe er eine weibliche Person auf sich aufmerksam machen können, die ihn dann in das Gerichtsgebäude eingelassen habe; er selbst habe den übrigen Verfahrensbeteiligten kurz vor der Fortsetzung der Verhandlung Einlass gewährt.

Genutzt hat es der Revision allerdings nicht. Der BGH führt aus:

„Nach der Stellungnahme des Präsidenten des Landgerichts vom 7. April 2011 war der Zugangsbereich zum Gericht im Zeitpunkt der Hauptverhandlung aufgrund von Baumaßnahmen verlegt worden. Der Eingangsbereich war mit einer Klingel und Gegensprechanlage versehen. Die Öffnung erfolgte durch die Pförtnerloge. Die Öffnungszeiten waren aus Sicherheitsgründen bis 15.30 Uhr begrenzt. Die in der Pförtnerloge eingesetzten Personen hatten die Anweisung, die Öffentlichkeit trotz verschlossener Tür sicherzustellen, sofern öffentliche Sitzungen über 15.30 Uhr hinaus andauern oder stattfinden. Dies wurde dadurch erreicht, dass der zuständige Pförtner die Außentür für die Dauer der öffentlichen Sitzung im – 4Blick hatte, damit jederzeit Personen, die an einer stattfindenden öffentlichen Sitzung teilnehmen wollten, Einlass gewährt werden konnte.

Eine Verletzung des Öffentlichkeitsgrundsatzes (§ 338 Nr. 6 StPO) ist hierdurch von der Revision nicht hinreichend belegt. Die Hauptverhandlung war zum Zeitpunkt, als der Verteidiger bemerkte, dass die Zugangstür zum Gerichtsgebäude geschlossen war, bereits zum Zwecke der Urteilsberatung unterbrochen. Es ist von der Revision nicht dargetan, dass ein Einlass ab Unterbrechung der Hauptverhandlung nach 15.32 Uhr nicht mehr möglich war. Der Umstand, dass die Zugangstür, wenn sie geschlossen wurde, von außen nicht mehr ohne weiteres geöffnet werden konnte, begründet für sich allein keine Verletzung des Öffentlichkeitsgrundsatzes; hinzukommen muss, dass bei noch fortdauernden öffentlichen Sitzungen trotz der getroffenen Vorkehrungen ein Zugang zum Gerichtsgebäude tatsächlich nicht möglich war, im vorliegenden Fall etwa, dass nach Betätigung der vorhandenen Klingel Einlassbegehrenden die Eingangstür nicht geöffnet wurde. Derartiges wird von der Revision nicht vorgetragen.

Die Rüge wäre jedoch auch deshalb unbegründet, weil die Revision nicht darlegt, dass das Gericht etwaige tatsächliche Hindernisse, die eine Teilnahme der Öffentlichkeit an der Hauptverhandlung beeinträchtigten, bemerkt hat oder hätte bemerken müssen (vgl. BGH, Urteil vom 10. Juni 1966 – 4 StR 72/66, BGHSt 21, 72 mwN). Das Gericht konnte sich ohne gegenteilige Anzeichen darauf verlassen, dass der Einlass der Öffentlichkeit nach 15.30 Uhr zu noch andauernden Hauptverhandlungen durch Beachtung der Anweisung des Präsidenten des Landgerichts an die Bediensteten sichergestellt war.“

Aber: Ein Versuch war es wert.

Der späte(re) Schlag mit der Pistole und der Fußtritt

Das LG  hat den Angeklagten wegen versuchter besonders schwerer räuberischer Erpressung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverlet-zung und versuchtem Computerbetrug  verurteilt. Grundlage waren folgendes Feststellungen:

„…Nach den Feststellungen des Landgerichts erzwangen die Angeklag-ten B. und H. unter Drohung mit einer nicht nachweisbar echten und geladenen Pistole von dem Geschädigten He. die Herausgabe seiner EC-Karte und die Nennung der PIN. Weil He. eine falsche PIN nannte, wurde die EC-Karte nach dreimaliger falscher Eingabe vom Geldautomaten eingezogen. Als der bei He. gebliebene Angeklagte B. dies erfuhr, schlug er dem Ge-schädigten mit der Pistole mit Wucht auf den Hinterkopf und trat ihm zudem mindestens einmal kräftig ins Gesicht, wobei er Arbeitsschuhe mit fester Sohle trug. Der Geschädigte erlitt u. a. einen Bruch des linken Jochbeins und eine Platzwunde am Hinterkopf…“

Der BGH, Beschl. v. 28.09.2011 – 4 StR 403/11 – beanstandet, dass das LG durch den Schlag mit der Pistole und den Tritt mit dem Arbeitsschuh ins Gesicht die Qualifikationen des § 250 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 3a StGB als erfüllt angesehen hat. Begrüdnung:

… Der Strafschärfungsgrund der gegenüber § 250 Abs. 1 Nr. 1a StGB erhöhten Qualifizierung des Absatzes 2 Nr. 1 liegt darin, dass es tatsächlich zum Einsatz eines mitgeführten Werkzeugs als Nötigungsmittel kommt. Dabei ist zu fordern, dass das gefährliche Tatmittel zur Verwirklichung der raubspezifi-schen Nötigung, also zur Ermöglichung der Wegnahme, verwendet oder – nach Vollendung des Raubes – als Mittel zur Sicherung des Besitzes an dem gestoh-lenen Gut eingesetzt wird (BGH, Beschlüsse vom 8. Juli 2008 – 3 StR 229/08, NStZ-RR 2008, 342 und vom 1. Oktober 2008 – 5 StR 445/08, BGHSt 52, 376). Dies gilt auch für schwere Misshandlungen nach Vollendung einer Raubtat. Sie  erfüllen den Qualifikationstatbestand des § 250 Abs. 2 Nr. 3a StGB nur dann, wenn sie weiterhin von Zueignungs- oder Bereicherungsabsicht getragen sind (BGH, Urteil vom 25. März 2009 – 5 StR 31/09, BGHSt 53, 234; vgl. auch BGH, Beschluss vom 16. Juli 2009 – 4 StR 241/09, NStZ 2010, 150).

b) Das Landgericht hat ausdrücklich festgestellt, dass der Schlag mit der Pistole und der Fußtritt erst erfolgten, nachdem der Angeklagte erfahren hatte, dass die genannte PIN falsch war und der Bankautomat die Karte eingezogen hatte, der Versuch mithin fehlgeschlagen und abgeschlossen war. Da die zuvor zur Erpressung der EC-Karte und der PIN eingesetzten Mittel die Qualifikation des § 250 Abs. 2 StGB nicht erfüllen, ist der Angeklagte der versuchten schwe-ren räuberischen Erpressung nach § 250 Abs. 1 Nr. 1b StGB in Tateinheit mit versuchtem Computerbetrug und – tatmehrheitlich hierzu – der gefährlichen Körperverletzung nach § 224 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 5 StGB schuldig.“

Terminsvertreter: Gebührenanspruch – mal so, mal so

Im Gebührenrecht des Teil 4 VV RVG ist die Frage der Honorierung des sog. Terminsvertreters in der Rspr. heftig umstritten. Dabei war es bisher weitgehend unbestritten, dass er nach Teil 4 Abschnitt 1 VV RVG abrechnet. Nur die Frage, ob er nur die Terminsgebühr oder ggf. auch die Grundgebühr und möglicherweise sogar die Verfahrensgebühr verdient, war umstritten. Ein neues Faß macht jetzt der OLG Rostock, Beschl. v.  15.09.2011 – I Ws 201/11 auf. Er geht ggf. über Teil 4 Abschnitt 3 VV RVG und führt dazu aus:

„Beschränkt sich die Beiordnung allein auf die Beistandsleistung in einem Hauptverhandlungstermin, ist nach Auffassung des Senats auch eine Vergütung als Einzeltätigkeit nach VV RVG Nr. 4301 Ziff. 4 denkbar. Die ganz herrschende Meinung lehnt die Vergütung des nur für einen Terminstag beigeordneten Verteidigers als Einzeltätigkeit mit der Begründung ab, dass dem für den Termin beigeordnete Rechtsanwalt sachlich unbeschränkt die Verteidigung übertragen werde, er also nicht aus dem Aufgabenbereich des Verteidigers einzelne Tätigkeiten übernehme, so dass er trotz der zeitlichen Beschränkung seiner Tätigkeit als Verteidiger im Sinne des Abschnitts 1 VV RVG Teil 4 anzusehen sei (vgl. Gerold/Schmidt-Burhoff 19. Aufl. VV Vorb. 4.3 Rn. 4, VV Einl. Vorb. Teil 4.1 Rn. 9). Diese Auffassung lässt sich jedoch mit dem Gesetz nicht in Einklang bringen. In VV RVG Nr. 4301 Ziff. 4 wird die Beistandsleistung für den Angeklagten in einer Hauptverhandlung als mögliche Einzeltätigkeit angesehen, soweit dem Rechtsanwalt nicht im Sinne der Vorbemerkung VV RVG Nr. 4.3 sonst die Verteidigung übertragen wurde. Dass die Verteidigung im Termin sachlich uneingeschränkt erfolgt, versteht sich von selbst. Der Rechtsanwalt, welchem allein die Verteidigung in einem Hauptverhandlungstermin im Wege der Beiordnung übertragen wird, nicht aber die Verteidigung im Übrigen, übt daher eine Einzeltätigkeit aus und ist nach VV RVG Nr. 4301 Nr. 4 zu vergüten (so auch für die Beiordnung eines Zeugenbeistands allein für die Vernehmung in einen Hauptverhandlungstermin: Beschl. des Senats v. 12.10.2010 – I Ws 270/10).“

Formulierungen wie: „lässt sich jedoch mit dem Gesetz nicht in Einklang bringen“. Die ganz h.M. entscheidet also contra legem? Nur man selbst hat den Stein des Weisen gefunden. Klingt immer – jedenfalls für mich – leicht arrogant. Nun ja. Und übrigens: M.E. ist die Auffassung auch falsch. Aber dazu ist genug geschrieben.

Erinnerungslücke

Schon etwas zurück liegt der BGH, Beschl. v. 06.07.2011 – 5 StR 230/11 -, der sich mit der Notwendigkeit der Hinzuziehung eines Sachverständigen befasst, wenn es um die Frage der Beurteilung der erheblich verminderten Schuldfähigkeit geht. Im Verfahren war die Einholung eines SV-Gutachtens mit der Begründung „eigene Sachkunde“ (§ 244 Abs. 4 StPO) abgelehnt worden. Der BGH, Beschl. beanstandet das und sagt:

1. Ein „erkennbar abrupter Tatverlauf mit elementarer Wucht ohne Sicherungstendenzen“ spricht für einen affektiven Ausnahmezustand, der wiederum indiziell auf eine Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit hindeuten kann.

2. Die Bewertung einer – vom Angeklagten behaupteten – Erinnerungslücke ist dem Tatrichter ohne Hinzuziehung eines Sachverständigen nur schwer möglich.