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EV I: Anfangsverdacht für Durchsuchung fällt weg, oder: Aufhebung des Durchsuchungsbeschlusses

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Ich stelle dann heute einige Entscheidungen zum Ermittlungsverfahren vor, also an sich Thematik „StPO“, ich habe aber eingeschränkt auf EV 🙂 .

Zunächst ein Beschluss des LG Nürnberg-Fürth, und zwar der LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 27.05.2022 – 12 Qs 24/22. Ergangen ist der Beschluss in einem Verfahren mit dem Vorwurf des Abrechnungsbetruges bei einem Arzt. In dem Verfahren hatte das AG eine Durchsuchung angeordnet, die auch durchgeführt worden ist. Bei der Durchsuchung führten die Ermittlungsbeamten eine Datensicherung durch und nahmen diverse schriftliche Unterlagen zur Durchsicht mit. Gegen den Durchsuchungsbeschluss legte der Verteidiger des Beschuldigten; zuletzt beantragte er, die Sicherstellung der mitgenommenen Gegenstände aufzuheben und diese an den Beschuldigten wieder herauszugeben. Das AG hat der Beschwerde nicht abgeholfen. Sie hatte dann aber beim LG Erfolg.

Das Besondere an dem Verfahren: Zwischenzeitlich ist der zunächst bestehende Anfangsverdacht weggefallen; insoweit verweise ich wegen der Einzelheiten auf den Volltext. Auf der Grundlage führt das LG aus:

„3. Allerdings meint die GenStA, und ihr folgend das Amtsgericht, aus den unter 1 und 2 referierten Verdachtsmomenten lasse sich folgern, der Beschuldigte habe auch in einer Vielzahl weiterer Fälle, bei einer Vielzahl derzeit noch unbekannter gesetzlich Versicherter nicht oder nicht durch ihn selbst erbrachte Leistungen abgerechnet. Aus diesem Grunde sieht sie einen dahingehenden Anfangsverdacht als gegeben und die Durchsuchung nach Unterlagen in dem sehr weiten Umfang – wie unter I dargelegt – als gerechtfertigt an. Dem folgt die Kammer nicht.

a) Es handelt sich beim Anfangsverdacht um einen unbestimmten Rechtsbegriff, der gerichtlich überprüfbar ist. Allerdings besteht dabei ein Beurteilungsspielraum, der dem Staatsanwalt bei der Subsumtion des konkreten Sachverhalts einen gewissen Freiraum lässt, eigenverantwortlich seine Entscheidung auf der Basis seiner persönlichen kriminalistisch-forensischen Erfahrungen und subjektiven Bewertungen zu treffen. Eine danach als vertretbar zu wertende Einschätzung des Sachverhalts ist deshalb vom Gericht hinzunehmen (BGH, Urteil vom 21. April 1988 – III ZR 255/86, juris Rn. 20 ff.; Herrmann in Heghmanns/Herrmann, Das Arbeitsgebiet des Staatsanwalts, 6. Aufl., Rn. 258; strenger Eisenberg/Conen, NJW 1998, 2241, 2248 f.; allgemein auch Kment/Vorwalter, JuS 2015, 193, 196 ff.).

b) Diese Grenze der Vertretbarkeit ist vorliegend überschritten. Das Indiz unter 1 hat sich erledigt. Aber selbst, wenn man es noch in die Betrachtung einbezöge, so lägen zwei unterschiedlich geartete Abrechnungsfehler vor, die eine systematische, über die Einzelfälle hinausweisende Falschabrechnungspraxis nicht aufzeigen oder auch nur andeuten. Beim Indiz unter 2 ist darüber hinaus zu sehen, dass – vorsätzliches Handeln unterstellt – die kriminelle Energie eher gering scheint. Denn auch wenn es bei der streng formalen Betrachtungsweise für die Erfüllung des Betrugstatbestandes keinen Unterschied macht, ob eine gar nicht erbrachte Leistung abgerechnet wird oder eine erbrachte Leistung nur fehlerhaft verbucht wird, ist der Unterschied bei der Bewertung der kriminellen Energie signifikant. Die These der GenStA läuft im gegebenen Fall darauf hinaus, bloße Vermutungen und Spekulationen zur Grundlage für einen weitgehenden Grundrechtseingriff zu machen, was unzulässig ist (BVerfG, Beschluss vom 26. Oktober 2011 – 2 BvR 1774/10, juris Rn. 25). Denn, dass Falschabrechnungen stattfinden – teils vorsätzlich, teils irrig – ist so bedauerlich wie ubiquitär. Wenn aber hier schon das Auffinden zweier unterschiedlicher Abrechnungsfehler in zwei Quartalen es rechtfertigen soll, den Generalverdacht der Falschabrechnung für die letzten Jahre zu konstruieren und auf dieser Grundlage beim Beschuldigten umfangreich Material zu sichern, so entfernt sich das allzu weit vom schwachen tatsächlichen Ausgangspunkt. Die Durchsuchung soll einen gegebenen Tatverdacht belegen, nicht erst die Tatsachen herbeischaffen, um ihn zu begründen (BVerfG, Beschluss vom 13. März 2014 – 2 BvR 974/12, juris Rn. 17).“

Schöner Beschluss: Nicht nur wegen der zutreffenden Ausführungen des LG, sondern auch, weil unser Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 9. Aufl. zitiert wird.