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Nochmals: Verhältnismäßigkeit bei der Erzwingungshaft, oder: Nur 10 EUR

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Und dann als dritte Entscheidung des heutigen Tages nochmals das AG Dortmund zur Erzwingungshaft. Das hatten wir neulich schon mal (siehe hier den AG Dortmund, Beschl. v. 21.03.2017 – 729 OWi 18/17 [b] und den AG Dortmund, Beschl. v. 23.02.2017  –  729 OWi 19/17 [b], dazu Für 5/15 Euro in die Erzwingungshaft?, oder: Verhältnismäßig).

Es geht auch hier um die Frage der Verhältnismäßigkeit. Das AG hat seinem AG Dortmund, Beschl. v. 20.06.2017 – 729 OWi 71/17 [b] – folgende Leitsätze vorangestellt:

  1. Auch eine Geldbuße von 10 Euro ermöglicht grundsätzlich die Anordnung von Erzwingungshaft. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gebietet es jedoch gerade bei derart geringen Geldbußen und ohnehin nicht für die Erzwingungshaft als solche maßgeblichen Verfahrenskosten, die die zu vollstreckende Geldbuße um ein Mehrfaches übersteigen, zunächst die Maßnahmen zur Beitreibung der Geldbuße auszuschöpfen.
  2. Eine schriftliche Zahlungsaufforderung ist in diesem Zusammenhang als Vollstreckungsversuch – auch nicht im Wege der Amtshilfe – nicht ausreichend.
  3. Auch das im Erzwingungshaftverfahren geltende Opportunitätsprinzip verhindert in einem solchen Fall eine Erzwingungshaftanordnung.

Anfangsverdacht bei Unterhaltspflichtverletzung, oder: „Augen-zu-und-durch-Entscheidung“

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Ich hatte mit dem (schönen) LG Neubrandenburg, Beschl. v. 12.120.2016 –     82 Qs 58/16 jug – die Woche eröffnet (vgl. Vier Pflichtverteidigungsfragen, oder: Landgerichte können auch anders). Dem folgt dann gleich noch ein LG-Beschluss, und zwar der LG Hagen, Beschl. v. 12.01.2017 – 44 Qs 8/17, den mir der Kollege P. Ziental aus Bochum vor einiger Zeit übersandt hat. Es geht um die nachträgliche Überprüfung einer Durchsuchungsmaßnahme in einem Verfahren wegen des Vorwurfs der Unterhaltsverletzung (§ 170 StGB). Das Verfahren geht zurück auf die Strafanzeige der ehemaligen Partnerin des Beschuldigten. Vorgeworfen wird dem Beschuldigten, dass er nicht die aufgrund eines Unterhaltstitels geschuldeten Unterhaltsbeträge zahle, sondern immer nur 180,00 €.  Im Rahmen einer Zeugenvernehmung bei der Polizei hatte die ehemalige Partnerin als Zeugin ferner angegeben, dass das ihr bekannte Konto des Beschuldigten nicht genügend Deckung aufweise und sie erfahren habe, dass der Beschuldigte über ein weiteres Konto verfügen solle, über das dieser seine Geschäfte abwickele. Als sie noch zusammengelebt hätten (bis ca. Anfang 2010) habe der Beschuldigte monatlich ca. 10.000 bis 15.000 Euro verdient. Er habe sich auch mehrere Immobilien in Kroatien gekauft, welche er teilweise vermiete. Über ihre Tochter habe sie zudem erfahren, dass der Beschuldigte sich eine Eigentumswohnung in pp. gekauft haben soll. Auf der Grundlage wird dann eine Durchsuchung angeordnet und durchgeführt. Der Beschuldigte legt Beschwerde ein. Und darauf stellt das LG nachträglich die Rechtswidrigkeit der Maßnahme fest und findet folgende „Haare in der Suppe“:

„Die Annahme eines ausreichenden Tatverdachts ist nicht haltbar. Der Verdacht der Verletzung der Unterhaltspflicht (§ 170 Abs. 1 StGB) beinhaltet als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal die Leistungsmöglichkeit des Täters, denn dieser muss tatsächlich zu einer mindestens teilweisen Leistung imstande sein (vgl. Fischer, StGB, 64. Aufl. 2017, § 170 Rn, 8). In der angegriffenen Entscheidung finden sich keine Ausführungen dazu, dass und in welcher Höhe die Einkünfte des Beschuldigten über dem notwendigen Selbstbehalt liegen und er somit leistungsfähig ist.

Der Tatverdacht, dass der Beschuldigte über nicht deklariertes Einkommen in erheblicher Höhe verfügt, das er im Rahmen seiner Unterhaltspflichten nicht einsetzt, wird allein auf die Behauptungen der Kindsmutter in der Strafanzeige bzw. der polizeilichen Zeugenvernehmung gestützt. Dort hatte sie angegeben, dass der Beschuldigte über ein bislang unbekanntes Konto verfüge, über das er seine Geschäfte als selbständiger Trockenbauer abwickle. Zurzeit bezahle der Beschuldigte keinen Unterhalt, obwohl er in der Vergangenheit, als sie noch eine Beziehung geführt hätten, monatlich zwischen 10.000 und 15.000 Euro verdient habe. Sie gehe davon aus, dass er auch jetzt noch einen guten Verdienst habe. Auch habe der Beschuldigte noch Einkünfte aus der Vermietung mehrerer Immobilien in Kroatien.

Hierbei handelt es sich indes nicht um zureichende tatsächliche Anhaltspunkte dafür, dass der Beschwerdeführer über dem notwendigen Selbstbehalt liegende Einkünfte erzielt und er seine Unterhaltsverpflichtung erfüllen kann. Insoweit hat er durch Schriftsatz seines Verteidigers vom 07.06.2016 der Staatsanwaltschaft Hagen gegenüber erklärt, dass es richtig sei, dass der Beschuldigte lediglich Unterhalt in Höhe von 180,00 Euro gezahlt habe. Hintergrund sei allerdings, dass der Beschuldigte in größerem Umfang nicht leistungsfähig sei, weil seine bereinigten Nettoeinkünfte die 1. Stufe der Düsseldorfer Tabelle nicht überschreiten würden. Aus diesem Grund werde durch ihn, den Verteidiger, derzeit auch ein Abänderungsverfahren gem. § 238 FamFG vorbereitet.

Tatsachenfundierte Anhaltspunkte dafür, dass das Amtsgericht an diesen Angaben des Beschwerdeführers zweifeln durfte, zeigt das Amtsgericht derweil nicht auf. Die Einlassung des Beschuldigten findet in dem Beschluss nicht einmal Erwähnung.

……

b) Überdies ist vorliegend jedenfalls auch gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen worden.

Eine Durchsuchung scheidet aus, wenn andere, weniger einschneidende — den Ermittlungszweck nicht gefährdende — Maßnahmen verfügbar sind (Meyer-Goßner/Schmitt, aa0, § 103 Rn. 15 m.w.N.). Zudem muss die Durchsuchung auch in einem angemessenen Verhältnis zur Schwere der (konkreten) Straftat und zur Stärke des Tatverdachts stehen. Hierbei sind auch die Bedeutung des potentiellen Beweismittels für das Strafverfahren sowie der Grad des auf verfahrenserheblichen Informationen bezogenen Auffindeverdachts zu berücksichtigen (Meyer-Goßner/Schmitt, aa0, § 103 Rn. 15a m.w.N,)

Bereits mit Schriftsatz vom 07.06.2016 hat der Verteidiger des Beschwerdeführers als Reaktion auf die Vorladung des Beschuldigten vom 11.04.2016 zur Beschuldigtenvernehmung und der erteilten Akteneinsicht mitgeteilt, dass der Beschuldigte in größerem Umfang als der von ihm gezahlten 180,00 Euro nicht leistungsfähig sei und aus diesem Grund werde durch ihn derzeit auch ein Abänderungsverfahren gem. § 238 FamFG vorbereitet. Folglich wusste der Beschwerdeführer bereits seit Mitte April 2016, dass gegen ihn wegen Verletzung der Unterhaltspflicht ermittelt und was ihm von der Kindsmutter konkret vorgeworfen wird. Bei Erlass des Durchsuchungsbeschlusses im Oktober 2016, mithin 6 Monate nach Kenntniserlangung von dem Ermittlungsverfahren, konnte deshalb nicht mehr mit großer Wahrscheinlichkeit mit einem Auffinden von entsprechenden Beweismitteln gerechnet werden….

Wenn ich die Beanstandungen des LG lese, meine ich, dass es sich bei der AG-Entscheidung um eine „Augen-zu-und-durch-Entscheidung“ gehandelt haben dürfte. Dazu passt dann ja auch der Satz des LG: „Die Einlassung des Beschuldigten findet in dem Beschluss nicht einmal Erwähnung.“.

Für 5/15 Euro in die Erzwingungshaft?, oder: Verhältnismäßig

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Das AG Dortmund mir in den letzten Wochen zwei Beschlüsse übersandt, in dene es um die Frage der Anordnung von Erzwingungshaft im Bußgeldverfahren geht (§ 96 OWiG). Dabei handelt es sich einmal um den AG Dortmund, Beschl. v. 21.03.2017 – 729 OWi 18/17 [b] – in dem geht um eine zu vollstreckende Geldbuße von 5 € – und um den AG Dortmund, Beschl. v. 23.02.2017  –  729 OWi 19/17 [b] – in dem ging es um eine zu vollstreckende Geldbuße von 15 €. In beiden Fällen hatte die Verwaltungsbehörde keinen Vollstreckungsversuch unternommen. Das AG hat die Anordnung von Erwzingungshaft abgelehnt. Dazu die Begründung aus dem Beschl. v. 21.03.2017 – die im Beschl. vom 23.02.3013 ist im wesentlich gleichlautend:

Zwar liegen die gesetzlichen Voraussetzungen einer Erzwingungshaftanordnung vor – diese steht aber unter dem Vorbehalt der Verhältnismäßigkeit. Das Gericht geht insoweit grundsätzlich davon aus, dass auch eine Geldbuße in der in Rede stehenden Höhe noch eine Anordnung von Erzwingungshaft ermöglicht (vgl. auch AG Dortmund, Beschl. v. 23.02.2017  –  729 OWi 19/17 [b] für Geldbuße von 15 Euro; zu einer möglichen Unverhältnismäßigkeit bei geringsten Bußen: AG Lüdinghausen NJW 2005, 3017; a.A. aber Seitz in: Göhler, OWiG, § 96 Rn. 18 m.w.N.). Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gebietet es jedoch gerade bei derart geringen Geldbußen und ohnehin nicht für die Erzwingungshaft als solche maßgeblichen Verfahrenskosten, die die zu vollstreckende Geldbuße um ein Mehrfaches übersteigen, zunächst die Maßnahmen zur Beitreibung der Geldbuße auszuschöpfen (vgl. AG Dortmund, Beschl. v. 23.02.2017  –  729 OWi 19/17 [b]; Seitz in: Göhler, OWiG, § 96 Rn. 15 u. 17; ähnlich auch Bohnert/Krenberger/Krumm, OWiG, § 96 Rn. 5). Hierauf wurde gänzlich verzichtet, obgleich ein Betrag von nur 5 Euro erfahrungsgemäß leicht beizutreiben sein wird.

Schließlich ist darauf zu verweisen, dass ein grundsätzliches Absehen von Vollstreckungsversuchen im Rahmen des auch bei § 96 OWiG maßgeblichen Opportunitätsprinzips (hierzu: Mitsch in: KK-OWiG, § 96 Rn. 21; Seitz in: Göhler, OWiG, § 96 Rn. 17) zu berücksichtigen ist (AG Dortmund, Beschl. v. 23.02.2017  –  729 OWi 19/17 [b]) und dementsprechend auch insoweit eine Erzwingungshaftanordnung nicht stattfinden kann.

Mobiles Halteverbot, oder: 48 Stunden Vorlauf sind genug.

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Verkehrsverwaltungsrecht ist in der letzten Zeit ein wenig zu kurz gekommen. Daher gibt es heute dazu mal etwas im „Kessel Buntes“. Es handelt sich um das OVG Münster, Urt. v. 13.09.2016 – 5 A 470/14 – zur Wartezeit vor dem Abschleppen bei mobilen Halteverbotsschildern.

Entschieden worden ist über die Klage einer in Düsseldorf wohnhaften Klägerin. Die hatte ihren Pkw am 19.08.2013 in einer Straße in Düsseldorf geparkt, bevor sie am selben Tag in den Urlaub flog. Am Vormittag des 20.08.2013 wurde in dem Bereich, in dem der Pkw abgestellt worden war, von einem Umzugsunternehmen durch Aufstellen von mobilen Halteverbotsschildern eine Halteverbotszone beginnend ab dem 23.08.2013, 7:00 Uhr, eingerichtet. Das Fahrzeug der Klägerin wurde dann am Nachmittag des 23.08.2013 abgeschleppt. Die Klägerin wurde später mit den Kosten belastet. Das VG Düsseldorf hat die dagegen gerichtete Klage abgewiesen. Auch die Berufung haete dann beim OVG keinen Erfolg.

Das OVG geht unter Hinweis auf seine Rechtsprechung davon aus, dasss der Umstand, dass Halteverbotsschilder erst nach dem rechtmäßigen Abstellen eines Fahrzeugs angebracht worden seien, der Verhältnismäßigkeit der Kostenbelastung des Fahrzeugverantwortlichen im Regelfall nicht entgegensteht, wenn zwischen dem Aufstellen der Schilder und dem Abschleppen eine Frist von 48 Stunden verstrichen ist. Angesichts der vielfältigen Anforderungen, die insbesondere unter den heutigen großstädtischen Bedingungen in straßenverkehrsrechtlicher und sonstiger Hinsicht an den Straßenraum gestellt würden, sei eine wesentliche Einschränkung der Effizienz der Gefahrenabwehr zu befürchten, wenn die Vorlaufzeit auf mehr als 48 Stunden bemessen würde. Das OVG hält auch in Anbetracht dessen an seiner Rechtsprechung fest, dass andere Obergerichte inzwischen von einer Mindestvorlauffrist von drei vollen Tagen ausgingen, eine Belastung mit den Kosten der Abschleppmaßnahme also nur für verhältnismäßig hielten, wenn erst am vierten Tag nach dem Aufstellen der Halteverbotsschilder das ursprünglich rechtmäßig abgestellte Fahrzeug entfernt wird. Man könne nicht erkennen, dass der Aufwand einer an einer Vorlaufzeit von 48 Stunden ausgerichteten Kontrolle der Verkehrsregelungen am Abstellort seines Fahrzeugs für einen Dauerparker regelmäßig unzumutbar wäre, um die Nachteile abzuwenden, die mit einem Entfernen des Fahrzeugs aus einer nachträglich eingerichteten Halteverbotszone verbunden seien.

Tja, gerecht? In dem entschiedenen „Urlaubsfall“ vielleicht nachvollziehbar. Ansonsten m.E. nicht und auch nicht praxisnah.

  • Denn zunächst stellt sich für mich mal die Frage: Weiß man eigentlich erst 48 Stunden vorher, dass man umzieht, bzw. weiß das Umzugsunternehmen das erst so kurz vor dem Umzug? Wohl kaum. Warum dann nicht die Verpflichtung des Unternehmens/des Auftraggebers, eher auf die kommenden Beschränkung hinzuweisen?
  • Und: Der OVG-Senat soll sich mal bitte in eine innerstädtische Großstadt begeben und sich dort den Parkraum anschauen. Es gibt kaum welchen und wenn, wird mit Anwohnergenehmigungen geparkt. Die Entscheidung des OLG bedeutet, dass ich mich auf die nicht verlassen darf/kann und mich, wenn ich in den Urlaub fahre, nicht nur um einen Helfer für Blumen, Post und Zeitung kümmern muss, sondern auch um jemanden, der mein geparktes Auto im Auge hat und ggf. um- bzw. wegsetzt. Deshalb sind für mich die Ausführungen im Urteil: „Die praktische Belastung, die für einen „Dauerparker“ mit einer an einer Vorlauffrist von 48 Stunden orientierten Kontrolle der Verkehrssituation einhergeht, wiegt demgegenüber – auch unter Berücksichtigung der Verkehrs-, sowie der modernen Arbeits-, Wohn- und sonstigen Lebensverhältnisse im großstädtischen Raum – nicht so schwer, dass dem Interesse an deren Vermeidung Vorrang gegenüber den mit einer kurzen Vorlauffrist verbundenen Vorteilen einzuräumen wäre.“ Pseudo-Begründung.

Die Revision ist übrigens zugelassen worden. Mal sehen, was das BVerwG macht.

So einfach ist das mit dem Sitzungshaftbefehl nicht, oder: Stufenverhältnis

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Die Instanzgerichte arbeiten nicht selten gern mit dem doch recht scharfen Schwert des § 230 Abs. 2 StPO und erlassen, wenn der Angeklagte in der Hauptverhandlung ausbleibt einen „Sitzungshaftbefehl“. „Scharfes Schwert“ deshlab, weil die Voraussetzungen des § 112 StPO nicht vorliegen müssen und auch § 121 StPO nicht gilt. So war dann auch das LG Berlin bei einem Angeklagten verfahren, der bei einer sich über mehrere Hauptverhandlungstage erstreckenden Hauptverhandlung an den ersten sechs Verhandlungstagen beanstandungsfrei erschienen war, bevor er sich am 7. Tag, dem 01.06.2016, um 20 Minuten verspätete. An der Tag verhängte das LG gegen ihn ein Ordnungsgeld in Höhe von 200 €, ersatzweise vier Tage Ordnungshaft, weil er „unentschuldigt verspätet erschienen“ war. Am nächsten Hauptverhandlungstag, dem 08.06.2016, erschien der Angeklagte zu der um 9.39 Uhr begonnenen Hauptverhandlung erneut verspätet, erst um 9.50 Uhr. Am 9. Verhandlungstag, dem 20.06.2016, blieb der Angeklagte in der Hauptverhandlung aus. Das LG stellte fest, dass eine Entschuldigung für das Ausbleiben nicht vorliege, worauf der Vertreter der StA beantragte, gegen den Angeklagten Ordnungshaft zu verhängen. Die Strafkammer beschloss nach einer kurzen Unterbrechung hingegen, das Verfahren gegen den Angeklagten abzutrennen und gegen diesen einen Haftbefehl nach § 230 Abs. 2 StPO zu erlassen, weil er „wiederholt (…) unentschuldigt verspätet bzw. nicht erschienen“ sei. In dem Sitzungshaftbefehl selbst ist zur Begründung der Haftanordnung lediglich ausgeführt, dass der Beschwerdeführer zur Hauptverhandlung am 20.06.2016 unentschuldigt nicht erschienen sei. Auf die Beschwerde des Angeklagten ist dann das KG mit der Sache befasst, das im KG, Beschl. v. 19.07.2016 – 4 Ws 104/16 – aufhebt und dabei sehr schön zum Stufenverhältnis der Maßnahmen nach § 230 Abs. 2 StPO Stellung nimmt:

„aa) Ein Haftbefehl nach § 230 Abs. 2 StPO mit dem damit verbundenen Eingriff in die persönliche Freiheit darf nur dann ergehen, wenn und soweit der legitime Anspruch der staatlichen Gemeinschaft auf vollständige Aufklärung der Tat und rasche Bestrafung des Täters anders nicht gesichert werden kann. Er dient allein der Verfahrenssicherung in Bezug auf die (weitere) Durchführung der Hauptverhandlung und hat nicht etwa den (Selbst-)Zweck, den Ungehorsam des Angeklagten zu sanktionieren (vgl. nur Becker in LR-StPO 26. Aufl., § 230 Rn. 14 mwN; auch Senat StraFo 2007, 291 [mit Blick auf die Besonderheiten des Strafbefehlsverfahrens]; ebenso LG Essen StraFo 2010, 28).

Zwischen den in § 230 Abs. 2 StPO vorgesehenen Zwangsmitteln besteht ein Stufenverhältnis, d.h. grundsätzlich ist zunächst zwingend das mildere Mittel – nämlich die polizeiliche Vorführung – anzuordnen. Nur dies wird dem verfassungsrechtlichen Gebot gerecht, dass bei einer den Bürger belastenden Maßnahme Mittel und Zweck im angemessenen Verhältnis zueinander stehen müssen (vgl. BVerfGK 9, 406 mwN; OLG Braunschweig NdsRpfl 2012, 313). Eine Verhaftung des Angeklagten ist mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht zu vereinbaren, wenn bei verständiger Würdigung aller Umstände die Erwartung gerechtfertigt ist, dass der Angeklagte zu dem (nächsten) Hauptverhandlungstermin erfolgreich vorgeführt werden kann (vgl. Sächs. VerfGH, Beschluss vom 26. März 2015 – Vf. 26-IV-14 – [juris] mwN).

Ohne eine Vorführung versucht zu haben, ist der Erlass eines Haftbefehls nur in seltenen Ausnahmefällen verhältnismäßig; ein solcher Fall liegt etwa dann vor, wenn feststeht, dass der Angeklagte auf keinen Fall erscheinen will (vgl. Senat, Beschluss vom 29. Juni 2012 – 4 Ws 69/12 –; LG Berlin ZJJ 2014, 47). Wenn das Gericht demgegenüber sofort zum Mittel des Haftbefehls greift, muss aus seiner Entscheidung deutlich werden, dass es eine Abwägung zwischen der polizeilichen Vorführung und dem Haftbefehl vorgenommen hat. Die Gründe, warum ausnahmsweise sofort die Verhaftung des Angeklagten angeordnet worden ist, müssen tragfähig sein und in dem Beschluss in einer Weise schlüssig und nachvollziehbar aufgeführt werden, dass sie in Inhalt und Umfang eine Überprüfung des Abwägungsergebnisses am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht nur für den Betroffenen selbst, sondern auch für das die Anordnung treffende Gericht im Rahmen seiner Eigenkontrolle gewährleisten. Von entsprechenden Darlegungen kann nur abgesehen werden, wenn die Nachrangigkeit des Freiheitsanspruchs offen zutage liegt und sich daher von selbst versteht (vgl. Sächs. VerfGH aaO, juris-Rz. 12; s. auch LG Dresden, Beschluss vom 29. Dezember 2006 – 3 Qs 155/06 – [juris] mwN).

bb) Diesen Anforderungen wird die angefochtene Entscheidung ersichtlich nicht gerecht. Lediglich die in unbekannter Besetzung ergangene Nichtabhilfeentscheidung enthält überhaupt Ausführungen zu der hier maßgeblichen Frage. Auch diese Entscheidung vermag den Anforderungen indessen nicht zu genügen, sondern erscheint eher als Versuch, den Erlass des Haftbefehls zu rechtfertigen. Mit dem Umstand, dass die aktenkundigen zwei Verspätungen des Beschwerdeführers kein großes Ausmaß hatten, und insbesondere mit deren Folgen auf den Verfahrensgang hat sich das Landgericht nicht befasst. Nicht erkennbar ist, dass sich das Gericht am 20. Juni 2016 mit der Möglichkeit einer Vorführung auseinandergesetzt hat. Auch ist nicht ersichtlich, dass die Strafkammer – anstelle der mit erheblichen Nachteilen verbundenen Abtrennung des Verfahrens – eine nur vorübergehende Abtrennung oder eine Verfahrensweise nach § 231 Abs. 2 StPO mit dem Ziel einer Fortführung – ggf. auch erst am nächsten Verhandlungstag – nach einer Vorführung des Beschwerdeführers erwogen und weshalb es diese Möglichkeiten verworfen hat. Zu bedenken ist ferner, dass im Rahmen der Verhältnismäßigkeit auch der bei einem Haftbefehl nach § 230 Abs. 2 StPO grundsätzlich bedeutungslose Umstand Gewicht gewinnt, in welchem Umfang der Anklage der Tatverdacht gegen den Angeklagten dringend ist und mit welcher Strafe der Angeklagte konkret zu rechnen hat (vgl. KG, Beschluss vom 2. Dezember 2002 – 5 Ws 652/02 –). Mit diesen Aspekten hat sich die Strafkammer ebenfalls nicht befasst. Dies war nicht etwa entbehrlich; hier dürfte nicht besonders nahe liegen, dass der wegen des Versuchs einer Strafvereitelung angeklagte und bislang lediglich mit einer Geldstrafe belangte Angeklagte mit einer so erheblichen Bestrafung zu rechnen hat, dass eine Beschäftigung mit dem Gesichtspunkt der Straferwartung überflüssig war.“

Also: Ganz so einfach ist es mit dem „scharfen Schwert“ nicht.