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Entschädigung für Verfahrensverzögerung, oder: Vom Pilotverfahren abhängiges Ausgangsverfahren

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Und im zweiten Posting dann noch etwas zur Entschädigung wegen Verfahrensverzögerung, und zwar das OLG Braunschweig, Urt. v. 12.04.2022 – 4 EK 1/20.

Beklagt ist das Land Niedersachsen, und zwar wegen einer Entschädigung wegen unangemessener Verfahrensdauer betreffend neun vor dem Landgericht Göttingen geführter Verfahren. Beim LG Göttingen waren seit dem Jahr 2006 insgesamt mehr als 4.000 Kapitalanlage-Verfahren im Zusammenhang mit dem Unternehmensverbund „G. Gruppe“ anhängig, die zunächst allein von der 2. Zivilkammer bearbeitet wurden. Im Laufe des Jahres 2011 übertrug das Präsidium des LG die Hälfte der anhängigen Verfahren aus diesem Komplex auf die 14. Zivilkammer. In den Folgejahren wechselten die personelle Besetzung beider Kammern sowie die ihnen zugewiesenen Arbeitskraftanteile.

Beide Kammern bestimmten aus zwei „Serien“ – der „Hauptserie“ mit insgesamt über 4.000 Verfahren einerseits und der „L.-Serie“ mit insgesamt ca. 280 Verfahren andererseits – jeweils ein Muster- bzw. Pilot-Verfahren, die vorrangig – unter Durchführung von Beweisaufnahmen – gefördert werden sollten. Die hiervon abhängigen weiteren Verfahren wurden ausschließlich zum Zwecke der gemeinsamen Einholung eines schriftlichen Sachverständigengutachtens zu den jeweiligen Kammer-Pilotverfahren der 2. und 14. Zivilkammer kammerintern miteinander verbunden. Die 2. und die 14. Zivilkammer gingen hierbei abgestimmt einheitlich in der Weise vor, dass für die jeweiligen Pilotverfahren der Hauptserie einerseits und der L.-Serie andererseits nur ein – für alle Verfahren der jeweiligen Kammer einheitliches – schriftliches Gutachten desselben Sachverständigen eingeholt wurde.

Die 14. Zivilkammer bestimmte als Pilotverfahren der Hauptserie das Verfahren zum Aktenzeichen 14 (2) O 2179/07 und als Pilotverfahren der L.-Serie das Verfahren zum Aktenzeichen 14 (2) O 1135/11. Die 2. Zivilkammer designierte das Verfahren zum Aktenzeichen 2 O 1802/07 zum Pilotverfahren der Hauptserie und zum Pilotverfahren der L.-Serie das Verfahren zum Aktenzeichen 2 O 1136/11.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Verfahrensablaufs verweise ich auf den verlinkten Volltext. Beide genannten Pilotverfahren dauern erstinstanzlich noch an. Der Kläger ist der Auffassung, die Dauer der erstinstanzlichen Verfahren sei in jedem der zu betrachtenden Fälle unangemessen lang im Sinne des § 198 GVG. Die Verfahren seien nicht in angemessener Zeit verhandelt und abgeschlossen worden. Vielmehr sei das LG mehrere Jahre faktisch untätig geblieben und habe durch häufige Wechsel in der Kammerbesetzung imponiert. Rügen und Dienstaufsichtsbeschwerden seien erfolglos geblieben.

Der Kläger hält, dem gesetzlichen „Regelfall“ folgend, in jedem Ausgangsverfahren eine Entschädigung von je 100 EUR pro verzögertem Monat für angemessen. Er hat beantragt, das beklagte Land zu verurteilen, an ihn 67.400,00 EUR zu zahlen.

Das OLG hat die Klage abgewiesen. Hier die Leitsätze zu der umfangreichen Entscheidung:

1. Die durch entschädigungspflichtige Verzögerung in einem Pilotverfahren verursachten Nachteile manifestieren sich für den personenidentischen Kläger, der auch Partei im Pilotverfahren ist, ausschließlich in dem Pilotverfahren, wobei die Anzahl der hiervon abhängigen Verfahren bei der Bemessung der billigen Entschädigung in dem das Pilotverfahren betreffenden Entschädigungsverfahren zu berücksichtigen ist.

2. Etwaige Verzögerungen, die bei der Bearbeitung des Pilotverfahrens verursacht werden, zeitigen nur „passive“ Auswirkungen auf die jeweils abhängigen Verfahren, die zur Zeit der Bearbeitung des Pilotverfahrens faktisch ruhen. Wenn für den personenidentischen Entschädigungskläger, der zugleich Partei im Pilotverfahren ist, in den jeweils abhängigen Verfahren ausschließlich „passive“ Auswirkungen der Verzögerung der Pilotverfahren zum Tragen kommen, so sind diese deshalb objektiv allein dem zugehörigen Pilotverfahren zurechenbar. In dem Entschädigungsprozess des vom Pilotverfahren abhängigen Verfahrens ist in einem solchen Falle deshalb insoweit die Vermutung des § 198 Abs. 2 Satz 1 GVG widerlegt.

3. Nur dann, wenn durch die (Nicht-) Bearbeitung des abhängigen Verfahrens selbst weitere Verzögerungen eintreten, kommt auch im Entschädigungsprozess des abhängigen Verfahrens die Entstehung eines weitergehenden immateriellen Nachteils in Betracht (Senat, Urteil vom 5. November 2021 – 4 EK 23/20 –, Rn. 499).

Corona I: Verfahrensverzögerung wegen Corona, oder: Gibt es eine Entschädigung?

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Heute dann zum Wochenstart zwei Entscheidungen, die mit Corona zu tun haben. Aber mal etwas anderes als Impfpass und Owis, nämlich: Verfahrensverzögerung und Fitness-Studio.

Zunächst hier das BFH, Urt. v. 27.10.2021 – X K 5/20, auf das ich erst jetzt durch eine PM des BFH aufmerksam geworden bin.

In dem vom BFH entschiedenen Verfahren ging es um eine Kage, die der Kläger 2018 gegen Umsatzsteuerbescheide erhoben hatte. Zwei Jahre nach Klageeingang hatte der Kläger eine Verzögerungsrüge wegen der Besorgnis erhoben, dass das Verfahren nicht in angemessener Zeit abgeschlossen wird. Das Klageverfahren wurde dann acht Monate später – nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung – mit Zustellung des Urteils beendet.

Nachfolgend hat der Kläger dann Klage auf Entschädigung wegen überlanger Verfahrensdauer in Höhe von mindestens 600 EUR erhoben. Er begründete diese im Wesentlichen damit, dass der Entschädigungsanspruch zwar verschuldensunabhängig sei, sodass es nicht auf ein pflichtwidriges Verhalten bzw. Verschulden der mit der Sache befassten Richter ankomme. Somit könne die unangemessene Verfahrensdauer auch nicht mit dem Hinweis auf eine chronische Überlastung der Gerichte, länger bestehende Rückstände oder eine angespannte Personalsituation gerechtfertigt werden. Nach den Erwägungen des Gesetzgebers müssten aber die verfahrensverzögernden Umstände zumindest innerhalb des staatlichen bzw. dem Staat zurechenbaren Einflussbereichs liegen.

Der BFH hat die Klage abgewiesen. Die mehrmonatige Verzögerung des Ausgangsverfahrens beruhe auf Einschränkungen des finanzgerichtlichen Sitzungsbetriebs ab März 2020. Diese seien Folge der Corona-Pandemie und der zu ihrer Eindämmung ergriffenen Schutzmaßnahmen. Es handele sich nicht um ein spezifisch die Justiz betreffendes Problem, da andere öffentliche und private Einrichtungen und Betriebe ebenso betroffen (gewesen) seien. Die Corona-Pandemie sei – jedenfalls zu Beginn – als außergewöhnliches und in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschlands beispielloses Ereignis anzusehen, die weder in ihrem Eintritt noch in ihren Wirkungen vorhersehbar gewesen wäre. Von einem Organisationsverschulden der Justizbehörden im Hinblick auf die Vorsorge für die Aufrechterhaltung einer stets uneingeschränkten Rechtspflege könne daher ebenfalls nicht ausgegangen werden.

Hier die Leitsätze zu dem BFH-Urteil vom 27.10.2021:

  1. Nach den Erwägungen des Gesetzgebers setzt der (verschuldensunabhängige) Entschädigungsanspruch i.S. des § 198 GVG voraus, dass die Umstände, die zu einer Verlängerung der Verfahrensdauer geführt haben, innerhalb des staatlichen bzw. dem Staat zurechenbaren Einflussbereichs liegen müssen.
  2. Eine zu Beginn der Corona-Pandemie hierdurch verursachte Verzögerung beim Sitzungsbetrieb führt nicht zur Unangemessenheit der gerichtlichen Verfahrensdauer i.S. des § 198 Abs. 1 GVG, da sie nicht dem staatlichen Verantwortungsbereich zuzuordnen ist.
  3. Bei der Corona-Pandemie und den zur Eindämmung getroffenen Schutzmaßnahmen handelt es sich nicht um ein spezifisch die Justiz betreffendes Problem, da sie ??was ihr Personal und die Verfahrensbeteiligten anbelangt?? ebenso betroffen ist wie andere öffentliche und private Einrichtungen und Betriebe.

30 Monate Nichtstun im Ermittlungsverfahren, oder: Für die unangemessene Verzögerung 3.000 EUR Cash

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Als zweite Entscheidung dann das OLG Bremen, Urt. v. 20.10.2021 – 1 EK 2/19 – zur Entschädigung für unangemessene Verfahrensdauer. Die Verfahren zu der Problematik nehmen zu. Die §§ 198, 199 GVG sind also in der Praxis angekommen.

Auch hier hat die Klägerin das beklagte Land auf Entschädigung wegen unangemessener Verfahrensdauer nach § 198 GVG in Anspruch genommen. Gegen die Klägerin und ihren Lebensgefährten wurde mit Anklageschrift der Staatsanwaltschaft vom 23.02.2015, der Klägerin zugestellt am 25.03.2015, Anklage wegen Anbaus von Betäubungsmitteln und wegen Waffenbesitzes erhoben. Der Bevollmächtigte der Klägerin erhob sodann mehrfach, zuerst am 08.04.2016 und zuletzt am 09.04.2019 Verzögerungsrügen. Am 04.02.2019 übersandte das LG die Akten an die Staatsanwaltschaft zurück mit dem Hinweis, dass sich eine Mitwirkung der Klägerin an der vorgeworfenen Tat aus der Akte nicht ergebe. Mit Verfügung der Staatsanwaltschaft vom 20.05.2019, gebilligt vom Abteilungsleiter am 22.05.2019, wurde das Verfahren gegen die Klägerin nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt, die Nachricht von der Einstellung wurde ihrem Verfahrensbevollmächtigten mit Schreiben vom 27.05.2019 übersandt.

Mit Klagschrift vom 21.11.2019, bei Gericht eingegangen am 22.11.2019, hat die Klägerin Klage auf Entschädigung nach § 198 GVG erhoben. Die Klägerin meint, mit der Dauer von vier Jahren habe das Verfahren unangemessen lange gedauert. Sie macht geltend, sich aufgrund der Verzögerungen psychisch erheblich beeinträchtigt gefühlt zu haben. Die Klägerin hat eine Entschädigung von 4.800,- EUR verlangt. Das beklagte Land meint, bei einer Gesamtdauer des Verfahrens von vier Jahren und drei Monate sei schon deswegen keine vierjährige Dauer einer unangemessenen Verzögerung anzunehmen, da zum einen die verbleibende Dauer von drei Monaten unrealistisch kurz sei und zum anderen nicht jede Überschreitung dieser Dauer bereits zu einer unangemessenen Verfahrensdauer führen könne. Zudem seien auch richterliche Gestaltungsspielräume in der weiteren Bearbeitung zu berücksichtigen ebenso wie Zeiten, in denen die Akte aus anderen Gründen nicht zur Verfügung gestanden habe. Der Zeitraum zwischen der ersten Verzögerungsrüge und der Bearbeitung der Akte ab Januar 2019 sei mit gut 30 Monaten noch nicht so lang, als dass von einer deutlichen Überschreitung der äußersten Grenzen des Angemessenen ausgegangen werden könne. Zudem hat sich die Beklagte darauf berufen, dass die Sechsmonatsfrist für die Klageerhebung nach § 198 Abs. 5 Satz 2 GVG nicht eingehalten worden sei, da die Einstellung durch Verfügung der Staatsanwaltschaft vom 20.5.2019 erfolgt sei und die Mitteilung an den Verteidiger der Klägerin lediglich deklaratorischen Charakter gehabt habe. Das OLG hat das beklagte Land zur Zahlung einer Entschädigung von 3.000 EUR verurteilt.

Hier die Leitsätze des OLG:

  1. Die Sechsmonatsfrist für die Klageerhebung nach § 198 Abs. 5 Satz 2 GVG wegen unangemessener Verfahrensdauer beginnt im Fall der Erledigung eines Strafverfahrens durch Einstellung nach § 170 Abs. 2 StPO mit dem Zeitpunkt der Verfügung der Staatsanwaltschaft nach § 170 Abs. 2 Satz 1 StPO und es kommt nicht auf das Datum der späteren Bekanntgabe an den Beschuldigten nach § 170 Abs. 2 Satz 2 StPO an. Wird eine Einstellungsverfügung dem zuständigen Abteilungsleiter der Staatsanwaltschaft zur Billigung vorgelegt, erlangt sie Wirkung erst mit dem Datum der Billigung.
  2. Im Regelfall kann bei Einstellung eines Strafverfahrens nach § 170 Abs. 2 StPO nach erfolgter Anklageerhebung ein Zeitraum von 1 Jahr und 9 Monaten vom Eingang der Anklage bei Gericht bis zur Einstellung des Verfahrens durch die Staatsanwaltschaft aufgrund einer Anregung des Gerichts noch nicht als unangemessen angesehen werden.

M.E. zutreffend. Die Auffassung des beklagten Landes, dass die rund 30 Monate Untätigkeit noch hinnehmbar sei, ist nicht nach zu vollziehen. Es ist einem Beschuldigten eben nicht zuzumuten, dass Verfahrensakten 2 ½ Jahre auf der Fensterbank oder auf der Geschäftsstelle liegen, ohne dass irgendeine Verfahrensförderung erfolgt.Wenn man als Verteidiger Verfahren überhaupt beschleunigen kann, dann sicherlich mit einer Verzögerungsrüge, die nicht vergessen werden sollte. Führt auch sie nicht zu einem schnelleren Verfahrensabschluss ist damit aber zumindest der Grundstein für eine Entschädigung zugunsten des Mandanten gelegt.

OWi I: Fahrverbot, oder: Auswirkungen von (rechtsstaatswidriger) Verfahrensverzögerung

Und mit diesem Posting eröffne ich dann die Reihe der „normalen“ Postings im Jahr 2020. Also keine (weiteren) Rückblicke, damit bin ich weitgehend durch. Allerdings kommen noch zwei zu den Gebühren. 🙂 Heute ist ja nun schließlich auch der erste Arbeitstag des neuen Jahres, zumindest bei einigen 🙂 .

Und ich starte in das neue (Arbeits)Jahr mit der Kategorie, mit der ich das Jahre 2019 beschlossen habe, nämlich mit OWi-Entscheidungen. Die erste kommt vom OLG Düsseldorf. Das hat im OLG Düsseldorf, Beschl. v. 06.12.2019 – IV – 2 RBs 171/19 –  u.a. zum Fahrverbot nach § 25 StVG in den Fällen der Verfahrensverzögerung Stellung genommen:

Neu zu treffen sind ferner die Feststellungen zur subjektiven Tatseite und zur Person (bei den Voreintragungen unter Beachtung der jeweiligen Tilgungsfrist, § 29 Abs. 1 StVG).

III.

Der Verkehrsverstoß, der dem Betroffenen zur Last gelegt wird (Tatzeit: 10. September 2017), liegt bereits jetzt mehr als zwei Jahre zurück.

Die Denkzettel- und Besinnungsfunktion eines Fahrverbots kann ihren Sinn verloren haben, wenn die zu ahndende Tat mehr als zwei Jahre zurückliegt, die für die lange Verfahrensdauer maßgeblichen Umstände außerhalb des Einflussbereichs des Betroffenen liegen und in der Zwischenzeit kein weiteres Fehlverhalten im Straßenverkehr festgestellt worden ist (vgl. OLG Köln NZV 2000, 430; OLG Karlsruhe NStZ-RR 2007, 323; OLG Stuttgart NZV 2017, 341; OLG Dresden NStZ 2019, 623).

Dies wird das Amtsgericht zu berücksichtigen haben. Da die lange Verfahrensdauer auf Versäumnisse im Verantwortungsbereich der Justiz zurückzuführen ist (dazu IV.), wird es hierbei im Falle einer erneuten Verurteilung wesentlich darauf ankommen, ob der Betroffene verkehrsrechtlich nicht mehr auffällig geworden ist.

IV.

In der vorliegenden Bußgeldsache ist eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung eingetreten, die im Falle einer erneuten Verurteilung ebenfalls zu berücksichtigen sein wird.
Die Verfahrensverzögerung begann damit, dass das Amtsgericht am 28. August 2018 die Zustellung des Urteils an den Verteidiger angeordnet hat, obwohl sich dessen Vollmacht nicht bei den Akten befindet (§ 46 Abs. 1 OWiG, § 145a Abs. 1 StPO). Die an den Verteidiger bewirkte Zustellung vom 30. August 2018 war daher unwirksam. Dieser Mangel wurde erst am 16. November 2018 durch die an den Betroffenen persönlich bewirkte Zustellung behoben.
Obwohl nunmehr eine wirksame Zustellung des Urteils an den Betroffenen persönlich erfolgt war, sandte die Generalstaatsanwaltschafi die Akte unter Hinweis darauf, dass sich keine Vollmacht des Verteidigers bei den Akten befindet, mit Schreiben vom 28. Januar 2019 zwecks „Behebung des Zustellungsmangels“ an die Staatsanwaltschaft Duisburg zurück. Hierbei war offenbar die aktenkundige Zustellung des Urteils an den Betroffenen persönlich übersehen worden.

Mit Verfügung vom 12. Februar 2019 übersandte die Staatsanwaltschaft Duisburg die Akte unter Hinweis auf die Zustellung vom 16. November 2018 erneut an die Generalstaatsanwaltschaft. Die Akte ist dem Senat erst mit der Antragsschrift vom
26. November 2019 vorgelegt worden. Gründe für die bei der Generalstaatsanwaltschaft entstandene Verzögerung – dort befand sich die Akte für ca.
neuneinhalb Monate ohne ersichtliche Bearbeitung – sind dem Senat hierbei nicht mitgeteilt worden,

Bei einem ordnungsgemäßen Verfahrensgang hätte Ende August 2018 eine wirksame Zustellung erfolgen können, so dass die Begründungsfrist Ende September 2018 abgelaufen wäre. Alsdann wäre die Akte dem Senat mangels besonderer Schwierigkeiten jedenfalls im November 2018 zur Entscheidung über die Rechtsbeschwerde vorzulegen gewesen. Die eingetretene Verzögerung von ca. einem Jahr ist rechtsstaatswidrig.

Die im Strafverfahren entwickelten Grundsätze für erhebliche rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerungen (sog. Vollstreckungslösung) finden auch im Bußgeldverfahren Anwendung, wobei etwa ein Fahrverbot – ganz oder teilweise – als vollstreckt gelten kann (vgl. OLG Rostock StV 2009, 363; OLG Bamberg NJW 2009, 2468; OLG Hamm DAR 2011, 409; OLG Hamburg NStZ 2019, 529).

Von der Frage, ob ein Fahrverbot im Hinblick auf den Sanktionszweck wegen Zeitablaufs wegfällt oder verkürzt werden darf, also ob oder wie die Rechtsfolge anzuordnen ist, zu trennen ist die Auswirkung der langen Verfahrensdauer auf die bereits konkret feststehende Rechtsfolge (BeckOK StVR/Krenberger, 5. Edition, § 25 StVG, Rdn 81). Zuerst ist über die Rechtsfolge und in einem zweiten Schritt über die Frage der Kompensation wegen rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung zu entscheiden.“

Ich komme auf die Entscheidung in anderem Zusammenhang noch einmal zurück.

U-Haft III: Überhaftbefehl, oder: Aufhebung wegen Verfahrensverzögerung

entnommen wikimedia.org
Author Denis Barthel

Die dritte Haftentscheidung kommt dann mit dem LG Leipzig, Beschl. v. 26.09.2019 – 5 KLs 300 Js 42438/18 – aus dem Osten. Das LG hat einen (Über)Haftbefehl wegen Verfahrensverzögerung aufgehoben:

„2. Auf die (umgedeutete) Beschwerde des Angeschuldigten ist der Haftbefehl des Amtsgerichts Leipzig vom 12. März 2019 aufzuheben.

Zwar war für den Angeschuldigten im vorliegenden Verfahren im Zeitraum vom 25. Januar 2019 (Eröffnungstermin für den Haftbefehl vom 17. Januar 2019) bis zum 30. August 2019 „nur“ Überhaft notiert, jedoch liegen die den Gegenstand des Haftbefehls bildenden Taten, der identisch ist mit dem Gegenstand des ihn ersetzenden Haftbefehls vom 12. März 2019, ausnahmslos vor den Taten des am 30. August 2019 aufgehobenen Haftbefehls des Amtsgerichts Leipzig vom 24. Juli 2019.

Nach der überwiegenden obergerichtlichen Rechtsprechung bei der Berechnung der Frist hinsichtlich § 121 StPO ist die durch den Angeschuldigten im Verfahren 856 Js 40032/18 erlittene Freiheitsentziehung (bis zum 30. August 2019) im hiesigen Verfahren mit zu berücksichtigen.

Etwas anderes kann auch nicht für die Prüfung, ob im vorliegenden Verfahren ein Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot in Haftsachen vorliegt, gelten.

Nachdem das forensisch-psychiatrische Gutachten erst am 02.06.2019 bei der Kammer einging, waren in Vorbereitung der Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens die formellen und materiellen Voraussetzungen der Sicherungsverwahrung, namentlich die Plauslbilität der Ausführungen des Gutachters zum Hang des Angeschuldigten umfänglich zu überprüfen.

Durch den späten Eingang des Gutachtens und der sich anschließenden notwendigen Prüfungsschritte durch die Kammer ist eine geringfügige Verfahrensverzögerung eingetreten, die dem Angeschuldigten nicht anzulasten ist. Angesichts dessen, dass mit dem Verteidiger und dem Gutachter keine zeitnahen übereinstimmenden Termine gefunden werden konnten, zu denen die Hauptverhandlung – im Falle der Eröffnung – hätte durchgeführt werden können, war der Haftbefehl aufzuheben.