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StPO I: Verwertung von SkyECC-Überwachungsdaten, oder: Ergänzung zur BGH-Grundsatzentscheidung

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Und dann heute ein paar StPO-Entscheidungen – und zwar alle vom BGH.

Ich beginne mit dem BGH, Beschl. v. 09.01.2025 – 1 StR 142/24 – zum Dauerbrenner: Verwertung von Daten aus der Überwachung von Messengerdiensten. Stichwort: Encro-Chat. In dem Beschluss des ersten Strafsenats geht es um die Verwertung von SkyECC-Kommunikationsüberwachungsdaten.

Ich erspare mir (und dem Leser) den (technischen) Sachverhalt. Das dürfte bekannt sein. Mit der Verfahrensrüge wird dann die Unverwertbarkeit der Daten geltend gemacht. Ohne Erfolg:

„bb) Die Verfahrensrüge dringt nicht durch.

(a) Sie ist bereits unzulässig, weil sie in einem für maßgeblich gehaltenen, von der Stoßrichtung umfassten Punkt nicht den tatsächlichen Gegebenheiten entsprechend vorträgt (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 19. Mai 2021 – 1 StR 509/20 unter 1. mwN); dies schlägt auf die Verfahrensrüge insgesamt durch. Die Revision behauptet, die deutschen Strafverfolgungsbehörden hätten spätestens ab März 2020 von der laufenden SkyECC-Kommunikationsüberwachung gewusst und diese entgegen ihrer Verpflichtung aus § 91g Abs. 6 IRG nicht untersagt; hierin unterscheide sich die Beweiserhebung maßgeblich von den sogenannten EncroChat-Fällen. Die Verfahrensbeanstandung stützt sich insoweit auf einen verfahrensfremden Vermerk des Bundeskriminalamts vom 17. Juni 2021, in dem auf der ersten Seite ausgeführt wird, die SkyECC-Überwachung sei im März 2020 durch eine mediale Berichterstattung allgemein bekannt geworden. Dass es sich bei der Datumsangabe „März 2020“ um ein Schreibversehen handelt, ergibt sich zum einen aus dem Vermerk selbst. Denn dort wird auf Seite fünf angegeben, im März 2021 sei über Europol bekannt geworden, dass bei Ermittlungen in Frankreich Daten des Kryptodienstes SkyECC erhoben worden seien. Allein dies deckt sich zum einen mit der am 10. März 2021 durch Europol veröffentlichten Pressemitteilung über den „Aktionstag“ vom 9. März 2021. Zum anderen belegt der gesamte zeitliche Ablauf der Ermittlungen, dass die Strafverfolgungsbehörden SkyECC-Daten erst Ende des Jahres 2020 entschlüsseln konnten; vorher wurde darüber wegen der Gefährdung des Ermittlungserfolgs nicht in den Medien berichtet.

(b) Im Übrigen hätte die Verfahrensrüge auch in der Sache keinen Erfolg. Die von den französischen Strafverfolgungsbehörden erhobenen und im Wege der Beweismittelrechtshilfe für deutsche Strafverfolgungszwecke zur Verfügung gestellten Daten von SkyECC-Nutzern sind verwertbar. Aufgrund des ähnlichen Verfahrensablaufs wie bei Verwertung der über den Messengerdienst EncroChat erhobenen und transferierten Daten gelten die in der Grundsatzentscheidung des 5. Strafsenats des Bundesgerichtshofs (Beschluss vom 2. März 2022 – 5 StR 457/21, BGHSt 67, 29 Rn. 24 ff.) aufgestellten Maßstäbe. Mit Blick auf die im Anschluss ergangenen Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs (EuGH, Urteil vom 30. April 2024 – C-670/22) und des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 1. November 2024 – 2 BvR 684/22) ist ergänzend auszuführen:

(aa) Die Beweismittelgewinnung der französischen Behörden verstößt nicht gegen wesentliche rechtsstaatliche Grundsätze im Sinne des nationalen oder europäischen ordre public (vgl. Artikel 1 Abs. 4 RL EEA, § 73 IRG). Aus der Beschlagnahme der SkyECC-Telefone zusammen mit dem Betäubungsmittelfund im Hafen von An.             ergab sich ein Anfangsverdacht für die Begehung von Betäubungsmittelstraftaten. Dieser wurde durch die dargestellten Besonderheiten der Telefone, dem Verhalten der kanadischen Firma und der Auswertung der 9.000 Chat-Nachrichten von französischen SkyECC-Nutzern erhärtet. Dass bei einer solchen Verdachts- und Beweislage zunächst ein Ermittlungsverfahren gegen die Betreiber des Unternehmens eingeleitet und im Zuge dessen die zeitlich befristete Erhebung aller Nutzerdaten des SkyECC-Dienstes richterlich angeordnet und überprüft wird, lässt – wie bei der Überwachung der EncroChat-Nutzer (vgl. hierzu BGH aaO Rn. 34 ff.) – auch angesichts der Gesamtdauer der Überwachung, die ersichtlich der zunächst erforderlichen Analyse der Server zur Entwicklung einer Entschlüsselungslösung geschuldet war, grundlegende Rechtsstaatsdefizite oder einen Verstoß gegen menschen- oder europarechtliche Grundwerte nicht erkennen. Auch eingedenk der großen Anzahl der überwachten Mobilfunkanschlüsse sind die Ermittlungsmaßnahmen weit von geheimdienstlichen „anlasslosen Massenüberwachungen und Massendatenauswertungen“ entfernt. Der Austausch der Nachrichten wurde nicht aufgrund eines allgemeinen Verdachts gegen eine verschlüsselte Kommunikationsinfrastruktur überwacht, sondern – wie zuvor aufgezeigt – aufgrund konkreter Verdachtsmomente. Die französischen Behörden gingen ersichtlich davon aus, dass der gezielt auf die Bedürfnisse der organisierten Kriminalität ausgerichtete Absatzweg gepaart mit den erheblichen Kosten des Erwerbs und Betriebs der Krypto-Telefone sowie des durch die Ermittlungen bestätigten kriminellen Einsatzbereichs die Erfassung Unverdächtiger ausschloss.

(bb) Aus dem Verstoß der französischen Behörden gegen die Pflicht zur Benachrichtigung des von einer grenzüberschreitenden Telekommunikationsüberwachung betroffenen Zielstaates Deutschland aus Artikel 31 RL EEA bzw. gegen die diese Vorgaben umsetzende französische Vorschriften (wonach die RL EEA unmittelbar in die französische Rechtsordnung integriert wurde, vgl. hierzu BGH, aaO Rn. 39 mwN) folgt kein Beweisverwertungsverbot. Zwar handelt es sich bei Artikel 31 RL EEA um eine rechtshilferechtliche Bestimmung, die neben der Achtung der Souveränität des zu unterrichtenden Zielstaats auch den Schutz der Zielperson u.a. vor einer Verwendung der Daten in diesem Mitgliedstaat – hier also Deutschland – bezweckt (vgl. EuGH, Urteil vom 30. April 2024 – C-670/22 Rn. 121, 124 und 125) und somit individualschützenden Charakter hat. Aber bei der gebotenen Abwägung der widerstreitenden Interessen überwiegt das des Staates an einer umfassenden Aufklärung besonders schwerer Straftaten. Insoweit gilt (vgl. nur BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 1. November 2024 – 2 BvR 684/22 Rn. 98; Beschluss vom 7. Dezember 2011 – 2 BvR 2500/09 und 1857/10, BVerfGE 130, 1 Rn. 117 mwN):

(1) Nicht jeder Verstoß gegen Beweiserhebungsvorschriften zieht ein strafprozessuales Verwertungsverbot nach sich; darüber ist nach den Umständen im Einzelfall, insbesondere nach der Art der verletzten Vorschrift und dem Gewicht des Verstoßes unter Abwägen der widerstreitenden Interessen zu entscheiden. Nur ausnahmsweise ist ein Beweisverwertungsverbot aufgrund gesetzlicher Vorschrift wie etwa § 136a Abs. 3 Satz 2 StPO oder aus übergeordneten wichtigen Gründen anzunehmen. Denn ein Beweisverwertungsverbot schränkt eines der wesentlichen Prinzipien des Strafverfahrensrechts ein, und zwar den Grundsatz, dass das Gericht die Wahrheit zu erforschen und dazu die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken hat, die von Bedeutung sind. Maßgeblich beeinflusst wird das Ergebnis der danach vorzunehmenden Abwägung einerseits durch das Ausmaß des staatlichen Aufklärungsinteresses, dessen Gewicht im konkreten Fall vor allem unter Berücksichtigung der Verfügbarkeit weiterer Beweismittel, der Intensität des Tatverdachts und der Schwere der Straftat bestimmt wird. Andererseits ist das Gewicht des in Rede stehenden Verfahrensverstoßes von Belang, das sich vor allem danach bemisst, ob das staatliche Ermittlungsorgan den Rechtsverstoß gutgläubig, fahrlässig oder vorsätzlich begangen hat. Aus verfassungsrechtlicher Sicht ist ein Beweisverwertungsverbot geboten, wenn die Auswirkungen des Rechtsverstoßes dazu führen, dass dem Angeklagten keine hinreichenden Möglichkeiten zur Einflussnahme auf Gang und Ergebnis des Verfahrens verbleiben, die Mindestanforderungen an eine zuverlässige Wahrheitserforschung nicht mehr gewahrt sind oder die Informationsverwertung zu einem unverhältnismäßigen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht führen würde. Zudem darf eine Verwertbarkeit von Informationen, die unter Verstoß gegen Rechtsvorschriften gewonnen wurden, nicht bejaht werden, wenn dies zu einer Begünstigung rechtswidriger Beweiserhebungen führen würde. Ein Beweisverwertungsverbot kann daher insbesondere nach schwerwiegenden, bewussten oder objektiv willkürlichen Rechtsverstößen, bei denen grundrechtliche Sicherungen planmäßig oder systematisch außer Acht gelassen worden sind, geboten sein.

(2) Nach diesen Maßstäben folgt aus einem Verstoß gegen die Benachrichtigungspflicht kein Beweisverwertungsverbot: Es geht um die Aufklärung besonders schwerwiegender Straftaten im Sinne des § 100b Abs. 2 StPO, nämlich Verbrechen nach § 30a Abs. 1 BtMG, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe von 15 Jahren bedroht sind (vgl. zur Notwendigkeit der effektiven Bekämpfung solcher Straftaten; BVerfG, Urteil vom 19. März 2013 – 2 BvR 2628/10 u.a., BVerfGE 133, 168 Rn. 57; Rahmenbeschluss 2004/757/JI des Rates vom 25. Oktober 2004 zur Festlegung von Mindestvorschriften über die Tatbestandsmerkmale strafbarer Handlungen und die Strafen im Bereich des illegalen Drogenhandels, ABl. L 335, S. 8). Andere Beweismittel stehen hier für die Überführung des Angeklagten nicht zur Verfügung. Die SkyECC-Protokolle sind als Beweismittel besonders ergiebig, da die Beteiligten darin offen über Drogengeschäfte in erheblichem Umfang kommunizierten. Der Angeklagte konnte sich im Strafprozess auch mittelbar gegen die Abhörmaßnahme durch einen Verwertungswiderspruch wehren, so dass er unter anderem hierdurch seine Verteidigungsrechte effektiv wahren konnte (vgl. zu diesem Erfordernis EuGH, Urteile vom 30. April 2024 – C-670/22 Rn. 130 und vom 6. Oktober 2020, La Quadrature du Net u.a. – C-511/18, C-512/18, C-520/18 Rn. 226). Demgegenüber fällt der Umstand, dass den französischen Behörden bereits früh klar war, dass die Überwachung der Telekommunikation eine Vielzahl von Personen in anderen Ländern betrifft, wegen des geringen Grads der Persönlichkeitsrelevanz der Chatnachrichten nicht erheblich ins Gewicht. Zudem durfte der Kernbereich der Lebensführung infolge der Einschränkung der Beschlagnahmeanordnung nicht aufgezeichnet werden.

(cc) Gegen Artikel 6 Abs. 1 Buchstabe b RL EEA ist ebenfalls nicht verstoßen worden.

(1) Artikel 6 Abs. 1 Buchstabe b RL EEA, der die EEA zur Übermittlung von Beweismitteln regelt, die sich bereits im Besitz der zuständigen Behörde des Vollstreckungsstaates befinden, setzt für deren Rechtmäßigkeit voraus, dass die Übermittlung in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall unter denselben Bedingungen hätte angeordnet werden können. Dagegen verlangt Artikel 6 Abs. 1 Buchstabe b RL EEA gerade nicht, dass der Erlass einer EEA, die auf einen Beweismitteltransfer gerichtet ist, denselben materiell-rechtlichen Voraussetzungen unterliegt, wie sie im Anordnungsstaat (Deutschland) für die Erhebung dieser Beweise gelten (vgl. EuGH, Urteil vom 30. April 2024 – C-670/22 Rn. 91 ff.). Selbst unter Heranziehung einer Online-Durchsuchung nach § 100b StPO, deren Erkenntnisse der strafprozessual restriktivsten Verwendungsschranke des § 100e Abs. 6 StPO unterliegen, hätten die Beweismittel in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall unter den gleichen Bedingungen übermittelt werden können. Die deutschen Strafverfolgungsbehörden ersuchten die französischen Behörden in einem gegen namentlich bekannte Beschuldigte geführten Ermittlungsverfahren u.a. wegen bandenmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge (§ 30a Abs. 1 BtMG), mithin einer Katalogtat nach § 100b Abs. 2 Nr. 5 Buchstabe b StPO, um Übermittlung von Inhaltsdaten konkreter SkyECC-Nutzer. Der Tatverdacht, der auch im Einzelfall besonders schwer wog (§ 100b Abs. 1 Nr. 2 StPO), ergab sich aus technischen Überwachungsmaßnahmen, der Beschlagnahme des Marihuanas sowie der Sicherstellung und Auswertung der von gesondert verfolgten Beschuldigten genutzten SkyECC-Telefone. Das weitere Aufklären des Sachverhalts sowie die Ermittlung der an der Tatbegehung maßgeblich beteiligten, durch die jeweiligen SkyECC-IDs konkretisierten, jedoch noch namentlich unbekannten Personen wie der Angeklagte wären ohne diese Beweismittel nicht möglich gewesen. Die sich hieraus gegen den Angeklagten nach § 100b Abs. 1 und Abs. 2 StPO ergebende erforderliche Verdachtslage, die auch im Einzelfall schwer wiegt, bestand spätestens im Verwertungszeitpunkt der Beweisergebnisse (vgl. dazu BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 1. November 2024 – 2 BvR 684/22 Rn. 99; BGH, aaO Rn. 70 mwN). Die Daten betreffen zudem keine Erkenntnisse aus dem Kernbereich privater Lebensgestaltung (§ 100d Abs. 2 Satz 1 StPO).

(2) Schließlich führt die Neuregelung durch das KCanG zu keiner anderen Beurteilung. Denn das bandenmäßige Handeltreiben mit Cannabis in nicht geringer Menge (§ 34 Abs. 4 Nr. 3 KCanG) ist Katalogtat der Online-Durchsuchung (§ 100b Abs. 2 Nr. 5a StPO).

(dd) Ein Beweisverwertungsverbot ergibt sich letztlich auch nicht aus einem Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Beschwerdeführers.“

 

BVerfG II: Überwachung von Familientelefonaten, oder: Zur Begründung bitte mehr als Worthülsen

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Bei der zweiten Entscheidung, die ich vorstelle, handelt es sich um den BVerfG, Beschl. v. 15.11.2022 – 2 BvR 1139/22 -, der sich zur Überwachung von Telefongesprächen (mit Familienangehörigen) während der U-Haft verhält.

Das AG hatte im Juni 2019 gegen den Angeklagten einen Haftbefehl wegen des Verdachts einer schweren Sexualstraftat erlassen und diesen auf Fluchtgefahr gestützt. Das AG hatte angeordnet, dass Telefonate mitgehört werden müssten. Da der Angeklagte wegen einer anderen Sache rechtskräftig gem. § 63 StGB in einer psychiatrischen Klinik untergebracht worden war, wurde der Haftbefehl in Überhaft vollstreckt. Um den Jahreswechsel 2019/2020 gestattete die Staatsanwaltschaft dem Angeklagten, Telefonate mit seinen Eltern zu führen. Verfahrensrelevantes durfte nicht besprochen werden. Bei Gesprächen mit seiner aus Frankreich stammenden Mutter musste ein Dolmetscher mithören.

Im Sommer 2021 verurteilte dann das LG München I den Angeklagten zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Jahren und ordnete Sicherungsverwahrung an. Die Verurteilung beruhte auf dem Geständnis des Angeklagten. Auf die Revision hat der BGH die LG-Entscheidung hinsichtlich der Rechtsfolge aufgehoben.

Der Angeklagte hat im Hinblick auf den somit rechtskräftigen Schuldspruch des LG die Aufhebung der Telefonüberwachung beantragt. Das LG München I und das OLG München haben das abgelehnt. Begründung: Da der Angeklagte eine Unterbringung nach § 63 StGB anstrebe, bestehe auch jetzt noch die Gefahr, dass er seine Eltern manipulieren könne, dieses Ziel durch Aussagen zu seiner psychischen Verfassung zur Tatzeit zu unterstützen. Die dagegen gerichtete Verfassungsbeschwerde hatte Erfolg:

„2. Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet (vgl. § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Die angegriffenen Beschlüsse verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG.

a) Die Maßstäbe zur Beurteilung haftgrundbezogener Beschränkungen in der Untersuchungshaft sind in zahleichen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts aufgestellt worden (vgl. zur Besuchsüberwachung BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 30. Oktober 2014 – 2 BvR 1513/14 -; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 20. Juni 1996 – 2 BvR 634/96 -, juris; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 31. August 1993 – 2 BvR 1479/93 -, juris; zur Verweigerung von Telefonaten mit dem Verteidiger vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 7. März 2012 – 2 BvR 988/10 -; zur Beschränkung des Besuchsverkehrs BVerfGE 34, 384 <395 ff.>; zur Postkontrolle BVerfGK 19, 140 <146 f.> m.w.N.). So hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass die akustische Besuchsüberwachung einen erheblichen Eingriff in den persönlichen, durch Art. 2 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG geschützten Lebensbereich sowohl des Gefangenen als auch des Besuchers darstellt (BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 31. August 1993 – 2 BvR 1479/93 -, juris, Rn. 12; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 20. Juni 1996 – 2 BvR 634/96 -, juris, Rn. 8). Nichts Anderes gilt für die akustische Überwachung der Telekommunikation, die gleichfalls die Vertraulichkeit des gesprochenen Wortes zwischen dem Untersuchungsgefangenen und seinen Gesprächspartnern berührt (vgl. Schultheis, in: Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, 8. Aufl. 2019, § 119 Rn. 27; Gärtner, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl. 2019, § 119 Rn. 38).

Die in der Literatur und Rechtsprechung geäußerte Auffassung, an die Verhältnismäßigkeit der Überwachung der Telekommunikation seien weniger strenge Anforderungen zu stellen als an die akustische Überwachung von Besuchen (vgl. dazu Schultheis, in: Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, 8. Aufl. 2019, § 119 Rn. 27; Krauß, in: BeckOK StPO, § 119 Rn. 30 [Oktober 2022]; und OLG Hamm, Beschluss vom 9. Februar 2010 – 3 Ws 45/10 -, juris, Rn. 23), weil im ersteren Fall nicht einmal kontrolliert werden könne, mit wem diese Telefonate geführt würden, verfängt jedenfalls vorliegend nicht, da dem Beschwerdeführer – soweit ersichtlich – ohnehin lediglich die Erlaubnis zu Telefonaten mit seinen Eltern erteilt worden ist.

b) In Grundrechte darf nur auf gesetzlicher Grundlage eingegriffen werden. Dieser allgemeine rechtsstaatliche Grundsatz gilt auch für den Vollzug der Untersuchungshaft. Die Vorschrift des § 119 1 StPO bietet grundsätzlich eine zureichende gesetzliche Grundlage für Einschränkungen grundrechtlicher Freiheiten des Untersuchungsgefangenen und – gemäß § 119 Abs. 6 Satz 1 StPO – auch des Strafgefangenen, für den die nach § 116b Satz 2 StPO nachrangig zu vollstreckende Untersuchungshaft angeordnet ist (vgl. BVerfGE 34, 369 <379>; 34, 384 <395>; 35, 307 <309>; 35, 311 <316>; 57, 170 <177>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 30. Oktober 2014 – 2 BvR 1513/14 -, Rn. 18). Die Auslegung der Vorschriften zur Untersuchungshaft hat allerdings dem Umstand Rechnung zu tragen, dass ein Untersuchungsgefangener noch nicht rechtskräftig verurteilt ist und deshalb allein den unvermeidlichen Beschränkungen unterworfen werden darf (vgl. BVerfGE 15, 288 <295>; 34, 369 <379>; 42, 95 <100>; BVerfGK 13, 163 <165>). Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit prägt daher den Vollzug der Untersuchungshaft in besonderem Maße (vgl. BVerfGE 34, 369 <380>; 35, 5 <9>; 35, 307 <309>).

Voraussetzung für die Zulässigkeit von Grundrechtseingriffen auf der Grundlage von § 119 StPO ist eine reale Gefährdung der in der Bestimmung bezeichneten Haftzwecke (vgl. BVerfGE 15, 288 <295>; 34, 369 <380>), der durch die Inhaftierung allein nicht ausreichend entgegengewirkt werden kann. Das Gericht muss deshalb stets prüfen, ob für das Vorliegen einer solchen Gefahr im Einzelfall konkrete Anhaltspunkte bestehen (vgl. BVerfGE 35, 5 <10>; 42, 234 <236>; 57, 170 <177>). Die bloße Möglichkeit, dass ein Untersuchungsgefangener seine Freiheiten missbraucht, reicht bei einer den Grundrechten Rechnung tragenden Auslegung des § 119 Abs. 1 StPO nicht aus, um Beschränkungen anzuordnen (vgl. BVerfGE 35, 5 <10>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 25. Juli 1994 – 2 BvR 806/94 -, juris, Rn. 23; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 20. Juni 1996 – 2 BvR 634/96 -, juris, Rn. 8; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 10. Januar 2008 – 2 BvR 1229/07 -, Rn. 17).

Stellt die einschränkende Maßnahme auch einen Eingriff in das Grundrecht aus Art. 6 Abs. 1 GG dar, bedarf es einer besonders ernstlichen und eingehenden, auch die Dauer der Untersuchungshaft einbeziehenden und am Kriterium der Zumutbarkeit orientierten Prüfung, ob eine Besuchsbeschränkung unverzichtbar vom Zweck der Untersuchungshaft oder der Ordnung im Vollzug gefordert wird (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 31. August 1993 – 2 BvR 1479/93 -, juris, Rn. 15). Nichts anderes kann für eine Beschränkung der Telekommunikation mit engen Familienangehörigen gelten, wenn diese für den Betroffenen – wie hier – eine der wenigen Möglichkeiten zur Aufrechterhaltung des Kontakts mit seiner Familie darstellt. Bei der Anordnung von Beschränkungen in der Untersuchungshaft ist stets zu beachten, dass Ehe und Familie unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung stehen und der in Art. 6 Abs. 1 GG enthaltenen wertentscheidenden Norm im Haftvollzug besondere Bedeutung zukommt (vgl. BVerfGE 42, 95 <101 f.>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 25. Juli 1994 – 2 BvR 806/94 -, juris, Rn. 16).

c) Diesen Anforderungen werden die angegriffenen Entscheidungen nicht gerecht. Die Begründungstiefe des landgerichtlichen Beschlusses, der vom Oberlandesgericht nicht beanstandet wurde, genügt den verfassungsrechtlichen Anforderungen angesichts der insbesondere auf Grund der Anordnungsdauer der Beschränkungsmaßnahme schwerwiegend betroffenen Grundrechte des Beschwerdeführers nicht. Dies gilt unabhängig davon, ob die in Streit stehenden Beschränkungen der Untersuchungshaft auch in verfassungsgemäßer Weise hätten angeordnet werden können.

aa) Das Landgericht, das die vom Amtsgericht angeordnete Beschränkung mit einer den veränderten Umständen entsprechenden, modifizierten Begründung aufrechterhalten hat, führt nur unzureichend zur Gefährdung der Haftzwecke im Falle einer Aufhebung der Beschränkungsmaßnahme aus. Eine Gefährdung des Haftzwecks der Fluchtgefahr wird lediglich behauptet, die Annahme einer Verdunkelungsgefahr nicht hinreichend begründet. Konkrete Anhaltspunkte für letztere erblickt das Landgericht in einer möglichen Einwirkung des Beschwerdeführers auf seine Eltern, deren „Angaben zur psychischen Verfassung des Angeklagten vor und während der Tatzeit Bedeutung für das weitere Verfahren erlangen könnten“, und dem Umstand, dass er bereits angeordnete Überwachungsmaßnahmen erfolgreich umgangen habe. Angesichts des Umstands, dass die einmalige Umgehung der Überwachungsmaßnahme im Ermittlungsverfahren, als dem Beschwerdeführer der telefonische Kontakt zu seinen Eltern vollständig untersagt war, und vor Rechtskraft des Schuldspruchs erfolgte, hätte die Einschätzung, daraus unverändert eine grundsätzliche Bereitschaft des Beschwerdeführers zur gezielten Manipulation seiner Eltern abzuleiten, jedenfalls näherer Erläuterung bedurft. Zudem hat das Landgericht nicht plausibel dargelegt, inwiefern eine vom Beschwerdeführer beeinflusste Aussage der Eltern im jetzigen Verfahrensstadium eine substantielle Veränderung des Rechtsfolgenausspruchs hin zur Anordnung einer Maßregel nach § 63 StGB bewirken könnte. Der Schuldspruch ist nach einem Geständnis des Beschwerdeführers bereits rechtskräftig, und die Möglichkeit seiner Unterbringung nach § 63 StGB war bereits zu Verfahrensbeginn nicht zuletzt deswegen Gegenstand gutachterlicher Beurteilung, weil er derzeit nach § 63 StGB untergebracht ist. Ferner lässt die Befassung des Landgerichts mit den betroffenen Grundrechtspositionen des Beschwerdeführers keine dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und der in Art. 6 1 GG enthaltenen Wertentscheidung genügende Abwägung erkennen. Die betroffenen Grundrechte werden lediglich abstrakt benannt, ohne dass die familiäre Situation des Beschwerdeführers, die Haftbedingungen und insbesondere die Dauer der seit Dezember 2019 währenden Überwachung der Telefonate erkennbar näher gewürdigt worden wären. Die Feststellung, die angeordneten Beschränkungen erschienen „weiterhin als erforderlich und verhältnismäßig“, lässt nicht erkennen, ob das Landgericht sich der Dauer der angeordneten Beschränkungsmaßnahme bewusst war, und bezieht das insoweit zunehmende Gewicht des Eingriffs nur unzureichend ein.

bb) Durch die Entscheidung des Oberlandesgerichts ist dieser Begründungsmangel nicht behoben worden. Die knappe Feststellung, „das durch Art. 2 1 und Art. 6 Abs. 1 GG gewährleistete Interesse des Angeklagten an vertraulicher innerfamiliärer Kommunikation [habe] unter den gegebenen Umständen hinter dem staatlichen Interesse an einer Meidung missbräuchlicher Einwirkungen auf die neue Verhandlung über den Rechtsfolgenausspruch zurückzustehen“, bleibt hinsichtlich der abzuwägenden Grundrechtspositionen ebenfalls abstrakt und lässt eine substantielle Auseinandersetzung mit der Angemessenheit beziehungsweise Zumutbarkeit der Überwachung der Telefonate, insbesondere mit Blick auf die fortgeschrittene Dauer der Maßnahme, vermissen.“

Die Entscheidung zeigt mal wieder, was nach dem Erlass einer einstweiligen Anordnung in diesem Verfahren schon zu ahnen war: Der Weg nach Karlsruhe kann sich lohnen, vor allem, wenn wie hier, es die vom BVerfG in Haftsachen immer wieder eingeforderte „Begründungstiefe“ der Entscheidungen der Fachgerichte fehlt. Damit hatte es schon beim LG gehapert und erst recht dann wohl beim OLG, das sich in seiner Begründung auf nur einen Satz beschränkt hatte. Selbst wenn der Angeklagte die „Früchte“ dieser BVerfG-Entscheidung möglicherweise nicht mehr lange wird genießen können, weil der BGH im zweiten Rechtsgang entschieden haben wird, sind solche Entscheidungen nicht nutzlos, sondern haben einen erzieherischen Effekt im Hinblick darauf, dass die Fachgerichte sich dann vielleicht doch mehr Mühe geben.

Aber: Mehr als hoffen kann man nicht. Denn, wenn man die Begründungen des LG und des OLG liest, dann ist man schon erstaunt, was man dort offenbar unter „Begründungstiefe“ versteht. Und das der OLG-Satz: „das durch Art. 2 1 und Art. 6 Abs. 1 GG gewährleistete Interesse des Angeklagten an vertraulicher innerfamiliärer Kommunikation [habe] unter den gegebenen Umständen hinter dem staatlichen Interesse an einer Meidung missbräuchlicher Einwirkungen auf die neue Verhandlung über den Rechtsfolgenausspruch zurückzustehen“, nichts mit Begründungstiefe und Einzelfallabwägung zu tun hat, liegt m.E. klar auf der Hand. Der Satz enthält nichts anderes als Worthülsen und fordert eine solche Entscheidung des BVerfG geradezu heraus. Die Quittung hat man dann bekommen. Hoffen wir, dass es hilft…….

U-Haft I: Überwachung von Telefongesprächen, oder: Auch noch, wenn es nur noch um die Rechtsfolgen geht

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Heute dann noch einmal Entscheidungen, die mit U-Haft zu tun haben. Allerdings nicht mit der Anordnung von U-Haft, sondern mit deren Vollzug, vor allem also mit U-Haft-Beschränkungen.

Und den Opener mache ich mit dem OLG München, Beschl. v. 25.05.2022 – 2 Ws 283/22 – zur Aufrechterhaltung von Haftbeschränkungen zur Abwendung von Verdunkelungsgefahr auch noch in einem Verfahren, in dem nur noch über den Rechtsfolgenausspruch zu verhandeln ist. Der Angeklagte befindet sich seit dem 28.06.2019 in U-Haft/Unterbringung wegen des dringenden Verdachts der Vergewaltigung in Tateinheit mit schwerem sexuellem Missbrauch eines Kindes und Nötigung. Es ist u.a. bestimmt, dass Telekommunikation des Angeklagten der Erlaubnis bedarf und ggf. zu überwachen ist. In der Folge Erlaubnisse wurden für Telefonate zwischen dem Angeklagten und seinen Eltern Erlaubnisse erteilt.

Am 13.07.2021 ist der Angeklagte wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes in Tateinheit mit Vergewaltigung und Nötigung schuldig gesprochen worden, gegen ihn wurde eine Freiheitsstrafe von 12 Jahren verhängt und die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Den Haftbefehl ist nach Maßgabe des Urteils aufrecht erhalten worden.

Auf Revision des Angeklagten hat der BGH das Urteil am 22.03.2022 im Rechtsfolgenausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben. Inzwischen befinden sich die Akten wieder „in der Instanz“.

Der Verteidiger des Angeklagten hat beantragt, die Anordnung über die akustische Überwachung der Telefonate zwischen dem Angeklagten und dessen Eltern aufzuheben. Der Antrag hatte keinen Erfolg:

„2. In der Sache hat das Rechtsmittel keinen Erfolg. Denn die Voraussetzungen für eine Überwachung der Telekommunikation des Angeklagten mit seinen Eltern liegen weiterhin vor.

Gemäß § 119 Abs. 1 Nr. 2 StPO kann das Haftgericht anordnen, dass Telekommunikation eines Untersuchungsgefangenen überwacht wird, soweit dies unter anderem zur Abwehr von Verdunkelungsgefahr erforderlich ist. Das gilt auch dann, wenn sich der Haftbefehl – wie hier – auf einen anderen Haftgrund stützt (Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Auflage, 2019, § 119, Rn 16).

Im vorliegenden Fall besteht nach wie vor die Gefahr, dass der Angeklagte unüberwachte Telefonate mit seinen Eltern zu Verdunkelungshandlungen missbrauchen würde. Dass er die verfahrensgegenständliche Tat eingeräumt hat und der gegen ihn ergangene Schuldspruch rechtskräftig ist, steht dem nicht entgegen. Denn aufgrund der Teilaufhebung des Urteils ist über den Rechtsfolgenausspruch neu zu verhandeln, und aus in dem Urteil wiedergegebenen Äußerungen des Angeklagten gegenüber seinen Therapeuten ergibt sich, dass er mit Nachdruck eine Unterbringungsanordnung gemäß § 63 StGB auch im vorliegenden Verfahren anstrebt (vgl. insbesondere Bl. 51 der Urteilsgründe, sechster Absatz). Angesichts dessen liegt es nahe, dass der Angeklagte einen Wegfall der Telekommunikationsüberwachung zu nutzen versuchen würde, um in Telefonaten mit seinen Eltern manipulativ darauf hinzuwirken, dass diese in der neuen Verhandlung als Zeugen Angaben zu seiner psychischen Verfassung vor der Tat machen, die geeignet wären, den Rechtsfolgenausspruch im erläuterten Sinne zu seinen Gunsten zu beeinflussen (gemäß § 358 Abs. 2 Satz 3 StPO stünde das Verschlechterungsverbot der Anordnung einer Unterbringungsmaßregel gemäß § 63 StGB in der neuen Verhandlung nicht entgegen).

Konkreter Anhalt dafür, dass der Angeklagte eine Aufhebung der Telekommunikationsüberwachungsanordnung zu entsprechenden Verdunkelungshandlungen nutzen würde, resultiert daraus, dass er im Ermittlungsverfahren gezielt eine angeordnete Haftbeschränkung umging: Aufgrund der diesbezüglichen Ausführungen im vorletzten Absatz auf Seite 3 des Nichtabhilfebeschlusses hat der Senat die seinerzeitige Berichterstatterin des Hauptsachverfahrens vor der 20. Strafkammer des Landgerichts München I, Frau Richterin am Landgericht P., zu dem konkreten Hintergrund des dort erwähnten Vorfalls befragt. Diese erklärte, dass eine als sachverständige Zeugin vernommene Ärztin des BKH S. im Hauptverhandlungstermin vom 14.04.2021 ausgesagt habe, der Angeklagte sei zu einem Zeitpunkt, zu dem ihm die erforderliche Erlaubnis, Telefonate zu führen, noch nicht vorlag, an einen im Besitz einer Telefonkarte befindlichen Mitpatienten herangetreten und habe diesen dazu überredet, ihm – dem Angeklagten – die Telefonkarte vorübergehend zu überlassen, um damit ein unüberwachtes Telefonat mit seinen Eltern zu führen. Der Senat hat keinen Grund daran zu zweifeln, dass Frau Richterin am Landgericht P. die Aussage der Ärztin zutreffend wiedergegeben hat. Dass deren Angaben nicht den Tatsachen entsprechen, sondern gleichsam aus der Luft gegriffen sind, ist auszuschließen. Der Senat teilt die Bewertung des Landgerichts, wonach aus jenem Vorfall eine grundsätzliche Bereitschaft des Angeklagten zu einer Gefährdung der Haftzwecke mittels gezielter Manipulationen abzuleiten ist.

Da mildere Mittel zur Verhinderung einer manipulativen Einflussnahme des Angeklagten auf seine in der neuen Verhandlung als Zeugen in Betracht kommenden Eltern nicht gegeben sind, ist die Aufrechterhaltung der beschwerdegegenständlichen Anordnung auch nicht unverhältnismäßig. Das durch Art. 2 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 1 GG gewährleistete Interesse des Angeklagten an vertraulicher innerfamiliärer Kommunikation hat unter den gegebenen Umständen hinter dem staatlichen Interesse an einer Meidung missbräuchlicher Einwirkungen auf die neue Verhandlung über den Rechtsfolgenausspruch zurückzustehen.“

OWi I: Keine „Knöllchen“ durch private Dienstleister in Uniform, oder: Strafbare Amtsanmaßung?

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Heute dann gleich noch mal ein OWi-Tag.

Und als erste Entscheidung kommt dann hier die „Knöllchen“-Entscheidung des OLG Frankfurt am Main, über die ja in den letzten Tagen viel berichtet worden ist. Der OLG Frankfurt, Beschl. v. 03.01.2020 – 2 Ss-OWi 963/18 – reiht sich nahtlos ein in die Reihe der Entscheidungen, die das OLG Frankfurt in der letzten Zeit zur Beteiligung Privater bei der Verkehrsüberwachung gemacht hat (vgl. z.B. OLG Frankfurt am Main, Beschl. v. 6.11.2019 – 2 Ss OWi 942/19 und dazu OWi I: Einsatz Privater bei Messungen I, oder: “Untermauerung und Festigung unserer Rechtsprechung ….”).

Hier ging es um ein Parkknöllchen, das die Stadt Frankfurt am Main (Stadt Frankfurt) als Ortspolizeibehörde wegen unerlaubten Parkens im eingeschränkten Halteverbot gegen den Betroffenen mit einem Verwarngeld von 15 € erlassen. Dagegen der Einspruch des Betroffenen Auf den Einspruch des Betroffenen hat das Amtsgericht Frankfurt am Main das Verwarngeld . Das AG hat den Betroffenen dann verurteilt. In der Hauptverhandlung ist der Zeuge H. vernommen worden. Auf dessen Aussage beruhte die Veruretilung. Er war der Stadt Frankfurt durch „die Firma W. überlassen“ und von der Stadt als „Stadtpolizist“ bestellt worden. Die Tätigkeit übte der Zeuge in Uniform aus.

Das OLG Frankfrut am Main hat auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen aufgehoben. Es sieht den Einsatz „privater Dienstleister“ zur Verkehrsüberwachung des ruhenden Verkehrs als gesetzeswidrig an. Das Recht, Ordnungswidrigkeiten zu ahnden, sei ausschließlich dem Staat – hier konkret der Polizei – zugewiesen. Dieses im Rechtsstaatsprinzip verwurzelte staatliche Gewaltmonopol beziehe sich auf die gesamte Verkehrsüberwachung, d.h. sowohl den fließenden als auch den ruhenden Verkehr.

Bitte die umfangreiche Begründung der Entscheidung, die der Stadt und dem Innenministerium Täuschung vorwirft, selbst lesen. Hier stelle ich nur die Leitsätze ein, und zwar:

  1. Die den kommunalen Polizeibehörden gesetzlich zugewiesene Verpflichtung der Überwachung des ruhenden Verkehrs und die Ahndung von Verstößen sind hoheitliche Aufgaben. Mangels Ermächtigungsgrundlage dürfen sie nicht durch private Dienstleister durchgeführt werden.
  2. Die Überlassung privater Mitarbeiter nach dem Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) zur Durchführung hoheitlicher Aufgaben ist unzulässig.
  3. Die Bestellung privater Personen nach § 99 HSOG zu Hilfspolizeibeamten der Ortspolizeibehörden ist gesetzeswidrig.
  4. Der von einer Stadt bewusst durch „privaten Dienstleister in Uniform der Polizei“ erzeugte täuschende Schein der Rechtsstaatlichkeit, um den Bürgern und den Gerichten gegenüber den Eindruck polizeilicher Handlungen zu vermitteln, ist strafbar.

Nun ja, etwas aus dem Beschluss will ich dann aber doch zitieren, und zwar die Ausführungen des OLG zum Beweisverwertungsverbot. Die sind ungewohnt deutlich:

„Die den vorliegenden Parkverstoß belegenden Beweismittel unterliegen einem absoluten Beweisverwertungsverbot.

Die für die Annahme eines Beweisverwertungsverbots notwendige Abwägung des staatlichen Verfolgungsinteresses mit den Rechten des Beschuldigten vor dem Hintergrund der Schwere des staatlich vorgenommenen Gesetzesverstoßes bei der Beweiserhebung führt vorliegend dazu, dass die hier erzeugten rechtswidrigen Beweismittel für den Parkverstoß einem absoluten Verwertungsverbot unterliegen.

Vorliegend ist der Zeuge B Mitarbeiter eines privaten Dienstleisters. Durch die rechtswidrige Arbeitnehmerüberlassung ist er nicht zu einem Bediensteten der Stadt1 geworden. Das Regierungspräsidium Stadt2 ist zu einer Bestellung von städtischen Hilfspolizeibeamten bei der Stadt1 nicht befugt. Der Nachweis des vorliegenden Parkverstoßes erfolgte damit nicht durch einen im staatlichen Auftrag handelnden, alleine im Interesse der Allgemeinheit und ohne eigene finanzielle Interessen agierenden Polizisten, sondern durch einen mit eigenen finanziellen Interesse versehenen „privaten Dienstleister“ in Uniform der Stadtpolizei.

Unter Berücksichtigung, dass die Stadt1 nach eigenen Angaben jährlich über 700.000 (Jahr 2018) Parkverstöße mit einem Sanktionsvolumen von über 1 Mio Euro ahndet, offenbart dieser Fall, dass hier ein strukturelles System der wirtschaftlichen Verflechtungen entstanden ist, bei dem staatliche Verkehrsüberwachung und -sanktionierung zur Finanzierung rivatwirtschaftlicher Geschäftsmodelle verwendet wird. Verschärfend kommt vorliegend noch hinzu, dass anders als in den bisher von den Gerichten aufgedeckten Missbräuchen im fließenden Verkehr (vgl. Beschlüsse v. 26.04.2017 – 2 Ss-Owi 295/17 und v. 06.11.2019 – 2 Ss-OWi 942/19) hier zur Täuschung auch noch Mitarbeiter „private Dienstleister“ strafbewehrt in Polizeiuniformen „Dienst“ tun“ (vgl. zur Strafbarkeit §§ 132, 132a StGB).

Die Stadt1 hat damit nicht nur systemisch gegen geltendes Recht verstoßen, sondern darüber hinaus in Kenntnis dieses Verstoßes im Zusammenwirken mit einem privaten Dienstleister ein System der Verschleierung und Täuschung aufgebaut, das nicht nur den Bürger, sondern vorliegend auch die Gerichte über Jahre hin getäuscht hat.

Durch das Vorspiegeln polizeilicher Beweiserhebung und Beweisermittlung, hat das Amtsgericht hier auch fälschlich die für polizeiliche Zeugen prozessual möglichen Regelungen zur Anwendung gebracht.

Im vorliegenden Urteil des Amtsgerichts wird der „Zeuge“ als „Hilfspolizeibeamter mit allen erforderlichen Befugnissen für die Parküberwachung (…) einschließlich einer Uniform“ gewürdigt und darauf die Beweiswürdigung gestützt. Das Gericht hat damit in verkürzter Form die besondere „Glaubwürdigkeit“ des „polizeilichen Zeugen“ und die „Glaubhaftigkeit“ seiner Angaben, da er kein eigenes Interesse an der Verfolgung hat, dargelegt.

Diese Annahme beruht wie dargelegt auf einer Täuschung, so dass das angefochtene Urteil des Amtsgerichts daher keinen Bestand haben kann.“

Und:

„Da der hier vorgeworfenen Parkverstoß möglicherweise auch auf rechtsstaatliche Weise bewiesen werden könnte, dieser Aufwand aber außer Verhältnis zum behaupteten Verstoß steht, verweist der Senat das Verfahren nicht zur Neuverhandlung zurück, sondern stellt das Verfahren ein.“

Tja, da wird man sich bei den Kommunen wohl eine andere Praxis überlegen müssen 🙂 . Und: Die Begründung der Entscheidung ist schon eine Ohrfeige für die Stadt Frankfurt am Main und das hessische Innenministerium.