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StrEG I: Entschädigung wegen U-Haft?, oder: Ja, aber nur für einen Tag

 

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Im Kessel Buntes stelle ich heute zwei Entscheidungen zur Strafrechtsentschädigung vor – also kurz: StrEG 🙂 .

Das ist zunächst der BGH, Beschl. v. 13.04.2021 – 5 StR 14/21. Das LG hatte den Angeklagten wegen Totschlags in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwölf Jahren verurteilt. Dagegen die Revision des Angeklagten, die zum Freispruch führte. Der BGh hat Verjährung angenommen.

Zum StrEG führt er dann aus:

„3. Dem Senat obliegt in dieser Konstellation nach § 8 StrEG auch die Entscheidung über Entschädigungsleistungen, weil er die verfahrensbeendende Entscheidung trifft und keine weiteren Feststellungen hierzu mehr erforderlich sind (vgl. BGH, Beschlüsse vom 11. März 2008 – 3 StR 378/07, StraFo 2008, 266; vom 26. Mai 2015 – 3 StR 437/12, StraFo 2015, 438, 439). Die Verfahrensbeteiligten sind durch den insoweit ausführlich begründeten Antrag des Generalbundesanwalts nach § 8 Abs. 1 Satz 2 StrEG (vgl. auch BGH, Beschluss vom 21. Dezember 2016 – 3 StR 453/16) angehört worden, dem die Entscheidung des Senats entspricht.

Entschädigung ist gemäß § 2 Abs. 1 StrEG nur für den letzten Tag der Untersuchungshaft zu gewähren. Im Übrigen ist eine Entschädigung nach § 5 Abs. 2 Satz 1 StrEG ausgeschlossen, weil der Angeklagte die Strafverfolgungsmaßnahmen durch die rechtsfehlerfrei festgestellte rechtswidrige und schuldhafte Tötung zweier Menschen sowie seine anschließende Flucht nach Tschechien vorsätzlich bzw. grob fahrlässig selbst verursacht hat (vgl. BGH, Beschlüsse vom 19. Dezember 1979 – 3 StR 396/79, BGHSt 29, 168, 171; vom 1. September 1998 – 4 StR 434/98, BGHR StrEG § 5 Abs. 2 Satz 1 Fahrlässigkeit, grobe 6). Insoweit ist nicht auf die Erkenntnismöglichkeiten zum Zeitpunkt der angefochtenen Entscheidung, sondern darauf abzustellen, wie sich der Sachverhalt den Ermittlungsbehörden bzw. Gerichten im Zeitpunkt der Anordnung oder Aufrechterhaltung der Strafverfolgungsmaßnahme dargestellt hat (vgl. BGH, Beschluss vom 3. Februar 1983 – 1 StR 823/82, bei Holtz MDR 1983, 450; KG, Beschluss vom 11. Januar 2012 – 2 Ws 351/11, NStZ-RR 2013, 192 [LS]). Nach der im Urteil dargestellten Auffindesituation der beiden Leichen und den übrigen Umständen des Falls sind Staatsanwaltschaft und Gericht zunächst rechtsfehlerfrei vom dringenden Tatverdacht des Mordes in zwei Fällen ausgegangen, bis sich erst am Ende der Hauptverhandlung herausgestellt hat, dass Mordmerkmale aus Sicht der Schwurgerichtskammer nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden können.

Etwas anderes gilt nur für den letzten Tag der bis zum 13. August 2020 dauernden Untersuchungshaft. Nachdem das Landgericht in der abschließenden Beratung keine Mordmerkmale feststellen konnte, hätte es den Angeklagten am 12. August 2020 freisprechen und den Untersuchungshaftbefehl sogleich aufheben anstatt aufrechterhalten müssen. Diese – bei sorgfältiger Prüfung zu diesem Zeitpunkt ohne weiteres erkennbare – rechtsfehlerhafte Sachbehandlung hat zur Folge, dass für diesen einen Tag Untersuchungshaft Entschädigung zu gewähren ist (vgl. BGH, Beschluss vom 25. April 2017 – 3 StR 453/16, NStZ-RR 2017, 264). Eine Versagung der Entschädigung nach dem insoweit nachrangigen § 6 Abs. 1 Nr. 2 StrEG kommt in dieser Konstellation nicht in Betracht (vgl. BGH, aaO).“

U-Haft III: Begriff „derselben Tat“, oder: „besondere Schwierigkeit“/„besonderer Umfang der Ermittlungen“

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Und als dritte U-Haft-Entscheidung dann noch der OLG Oldenburg, Beschl. v. 25.01.2021 – 1 HEs 1/21 -, auch im Haftprüfungsverfahren nach den §§ 121, 122 StPO ergangen.

Die amtlichen Leitsätze befassen sich mit dem Begriff „derselben Tat“. Insoweit hat das OLG dem Beschluss folgende Leitsätze mitgegeben:

  1. Im Rahmen des § 121 StPO ist ein von demjenigen des § 264 StPO abweichender, erweiterter Tatbegriff zugrunde zu legen.
  2. Dies hat zur Folge, dass im Falle des Erlasses eines Urteils – welches auf eine Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehende Maßregel der Besserung und Sicherung in einem Verfahren erkennt, in welchem ein weiterer Haftbefehl vorliegt, welcher auf Taten gestützt wird, die in den ersten Haftbefehl hätten einbezogen werden können, da sie dem erweiterten Tatbegriff unterfallen – eine Prüfung der Haftfortdauer gem. § 121 StPO hinsichtlich beider Haftbefehle jedenfalls vom Erlass des Urteils an bis zum Abschluss des Verfahrens bzw. zur Aufhebung des (weiteren) Haft-befehls nicht zu erfolgen hat.
  3. In die im Anschluss daran für die Vorlage maßgebende Frist gem. § 121 Abs. 2 StPO ist zumindest die Zeitspanne vom Erlass des Urteils bis zum Verfahrensabschluss bzw. der Aufhebung des Haftbefehls in diesem Verfahren auch dann nicht einzubeziehen, wenn das Parallelverfahren nicht mit einer Verurteilung endet.
  4. Die Frist bestimmt sich alleine nach der vom Zeitpunkt möglicher Einbeziehung der Taten in den Haftbefehl bis zum Erlass des Urteils verstrichenen Zeit unter Hinzuziehung der nach Verfahrensabschluss laufenden Zeitspanne.
  5. Ob darüber hinaus auch die Dauer der Hauptverhandlung selbst auf dem Hintergrund des § 121 Abs. 3 Satz 2 StPO unberücksichtigt zu bleiben hat, kann vorliegend angesichts der Urteilsverkündung am ersten Hautverhandlungstag dahinstehen.

Aber das OLG macht auch Ausführungen zur „Beschleunigung“, und zwar:

„b) Die besonderen Voraussetzungen für den Vollzug von Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus liegen ebenfalls vor. Auch unter Berücksichtigung des Umstands, dass die Akten erst nach Fristablauf vorgelegt worden sind und deshalb erhöhte Anforderungen an die Prüfung des wichtigen Grundes zur Fortdauer der Untersuchungshaft zu stellen sind (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 20.01.2013 – 2 BL 3/03, NStZ-RR 2003, 143; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 14.03.1997 – 3 HEs 91/97, NStZ 1997, 452), rechtfertigen die besondere Schwierigkeit der Ermittlungen sowie der besondere Umfang der Sache die Fortdauer der Untersuchungshaft.

Der Verlängerungsgrund der „besonderen Schwierigkeit“ und des „besonderen Umfangs der Ermittlungen“ lässt sich vor allem mit der Anzahl und den Besonderheiten der aufzuklärenden Taten, dem Ausmaß der erforderlichen Ermittlungen – auch wenn sie dadurch mitbedingt sind, dass der Beschuldigte von seinem Schweigerecht nach § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO Gebrauch macht –, der Notwendigkeit, aufgetretene Widersprüche zu klären, der zeitraubenden Auswertung einer Vielzahl von Dokumenten, der Anzahl der Beschuldigten, Zeugen und Sachverständigen sowie der Schwierigkeiten ausländischer Ermittlungen rechtfertigen (vgl. Schultheis, in KK-StPO8, § 121 Rn. 14 m.w.N.).

Dies ist hier der Fall.

Die Strafverfolgungsorgane haben insbesondere seit der Festnahme des Beschuldigten sowie der Mitbeschuldigten alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen getroffen, die Ermittlungen so schnell wie möglich voranzutreiben. Von den Ermittlungsbehörden zu vertretende Verfahrensverzögerungen sind nicht ersichtlich. Vielmehr hat die Staatsanwaltschaft und die mit den polizeilichen Ermittlungen betraute Ermittlungsgruppe der Zentralen Kriminalinspektion Osnabrück, die seit dem 2. Juni 2020 über einen beachtlichen Personalbestand von 25 Beamten/-innen verfügt, – wie aus dem Übersendungsbericht der Staatsanwaltschaft Osnabrück vom 5. Januar 2021 ersichtlich – nahezu werktäglich das Verfahren gefördert.

Der Umstand, dass die Ermittlungen in der hiesigen Sache gleichwohl bis heute nicht abgeschlossen werden konnten, ist allein dem Umfang der Ermittlungen und der Vielzahl der im Raume stehenden Straftaten der Beschuldigten, die nach Lage der Akten einen Gesamtschaden im zweistelligen Millionenbereich zu verantworten haben, geschuldet. Es sind weit mehr als 1000 Urkunden auf ihre Echtheit zu prüfen. Von insgesamt ca. 130 Datenträgern, die bislang bei den Beschuldigten sichergestellt wurden und die einen Gesamtdatenbestand von mehreren Terabyte aufweisen, sind bislang etwa 100 ausgewertet worden. Das Einlassungsverhalten der Beschuldigten trägt ebenfalls zur besonderen Schwierigkeit der Ermittlungen bei: Auch wenn der Beschuldigte die Begehung der Taten zulasten der EE GmbH, der FF GmbH und der CC GmbH eingeräumt hat, ist dies durch weitere Ermittlungen zu überprüfen, da dessen schriftliche Einlassung an zahlreichen weiteren Punkten nach Aktenlage nachweislich wahrheitswidrig ist. Ob und in welchem Umfang der Beschuldigte im Rahmen seiner Vernehmung vom 17. November 2020 die Wahrheit gesagt hat, wird zur Zeit ermittelt. Das Einlassungsverhalten des Mitbeschuldigten GG erschwert ebenfalls die Ermittlungen, indem er etwa erst unter dem 3. September 2020 den PIN-Code seines sichergestellten Mobiltelefons den Ermittlungsbehörden mitgeteilt, dessen Auslesen bis dato nicht möglich war. Seine am 18. September 2020 eingegangene Einlassung ist bereits nach Aktenlage widerlegt und ersichtlich von dem Bestreben getragen, Mitbeschuldigte zu schonen. Nach Aktenlage besteht ferner der Verdacht, dass auch die Mitbeschuldigte HH lediglich Teile ihres Tatwissens preisgegeben hat. Der Mitbeschuldigte II schweigt hingegen bis heute; auf seine Computer konnten die Ermittlungsbehörden bis dato keinen Zugriff nehmen, da sie verschlüsselt sind. Nennenswerte Aufklärungsbemühungen gehen einzig von der Mitbeschuldigten JJ aus, die allerdings nach Aktenlage eine Vielzahl an offenen Fragen schlichtweg nicht beantworten kann. Zudem tragen die derzeitige Covid-19-Pandemie und die damit einhergehenden Maßnahmen zum Zwecke des Arbeits- und Infektionsschutzes ebenfalls nicht zur Beschleunigung des Verfahrens bei. Schließlich sind Rechtshilfeersuchen nach Andorra und Großbritannien, die in separaten AR-Vorgängen gestellt wurden, bis heute nicht beantwortet worden.

Von der Möglichkeit, aus Gründen des Beschleunigungsgebotes Teilanklage gegen den Beschuldigten und die weiteren Beschuldigten zu erheben, konnte kein Gebrauch gemacht werden, da keiner der – auch für sich genommenen äußerst umfangreichen – Ermittlungskomplexe aufgrund des Umfangs und der besonderen Schwierigkeit der Sachlage polizeilich ausermittelt werden konnte.“

U-Haft I: Beschleunigungsgrundsatz, oder: Beginn der HV spätestens drei Monate nach Eröffnung

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Heute stehen U-Haft-Entscheidungen an. Zu der Thematik habe ich schon länger nichts mehr gebracht.

Ich starte mit dem BVerfG, Beschl. v. 03.02.2021 – 2 BvR 2128/20 -, auf den mich einer meiner Tippgeber 🙂 – Oliver Garcia von dejure – aufmerksam gemacht hat. Besten Dank.

Das BVerfG nimmt noch einmal zur Geltung des Beschleunigungsgrundsatzes im Zwischenverfahren (§§ 199 ff. StPO) Stellung. Die Verfassungsbeschwerde gegen einen Haftfortdauerbeschluss des OLG München hatte Erfolg.

Dazu allgemein:

„d) Der Beschleunigungsgrundsatz beansprucht dabei auch für das Zwischenverfahren nach den §§ 199 ff. StPO Geltung. So ist nach Anklageerhebung bei Entscheidungsreife über die Zulassung der Anklage zur Hauptverhandlung zu beschließen und im Regelfall innerhalb von weiteren drei Monaten mit der Hauptverhandlung zu beginnen (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 1. August 2018 – 2 BvR 1258/18 -, Rn. 25; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 18. Februar 2020 – 2 BvR 2090/19 -, Rn. 49).

e) Zur Durchführung eines geordneten Strafverfahrens und zur Sicherstellung der Strafvollstreckung kann die Untersuchungshaft dann nicht mehr als notwendig anerkannt werden, wenn ihre Fortdauer durch Verfahrensverzögerungen verursacht ist, die ihre Ursache nicht in dem konkreten Strafverfahren haben. Von dem Beschuldigten nicht zu vertretende, sachlich nicht gerechtfertigte und vermeidbare erhebliche Verfahrensverzögerungen stehen regelmäßig einer weiteren Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft entgegen (vgl. BVerfGK 15, 474 <480>; 17, 517 <523>). Allein die Schwere der Tat und die sich daraus ergebende Straferwartung vermögen bei erheblichen, vermeidbaren und dem Staat zuzurechnenden Verfahrensverzögerungen nicht zur Rechtfertigung einer ohnehin schon lang andauernden Untersuchungshaft zu dienen (vgl. BVerfGK 7, 140 <156>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 23. Januar 2019 – 2 BvR 2429/18 -, Rn. 58). Zu berücksichtigen ist, dass auch eine erst bevorstehende, aber schon zum Entscheidungszeitpunkt deutlich absehbare Verfahrensverzögerung bereits eingetretenen Verfahrensverzögerungen gleichsteht (vgl. BVerfGK 6, 384 <392 f.>; 12, 166 <168>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 23. Januar 2019 – 2 BvR 2429/18 -, Rn. 57; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 18. Februar 2020 – 2 BvR 2090/19 -, Rn. 50).

Die nicht nur kurzfristige Überlastung eines Gerichts kann insofern niemals Grund für die Anordnung der Haftfortdauer sein. Vielmehr kann die nicht nur kurzfristige Überlastung eines Gerichts selbst dann die Fortdauer der Untersuchungshaft nicht rechtfertigen, wenn sie auf einem Geschäftsanfall beruht, der sich trotz Ausschöpfung aller gerichtsorganisatorischen Mittel und Möglichkeiten nicht mehr innerhalb angemessener Fristen bewältigen lässt (vgl. BVerfGE 36, 264 <273 ff.>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 1. April 2020 – 2 BvR 225/20 -, Rn. 62). Die Überlastung eines Gerichts fällt – anders als unvorhersehbare Zufälle und schicksalhafte Ereignisse – in den Verantwortungsbereich der staatlich verfassten Gemeinschaft. Dem Beschuldigten darf nicht zugemutet werden, eine längere als die verfahrensangemessene Aufrechterhaltung des Haftbefehls nur deshalb in Kauf zu nehmen, weil der Staat es versäumt, seiner Pflicht zur rechtzeitigen verfassungsgemäßen Ausstattung der Gerichte zu genügen (vgl. BVerfGE 36, 264 <275>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 23. Januar 2019 – 2 BvR 2429/18 -, Rn. 59).“

Und konkret im Fall:

„2. Diesen Vorgaben genügt der angegriffene Beschluss des Oberlandesgerichts München nicht. Er zeigt keine besonderen Umstände auf, die die Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft verfassungsrechtlich hinnehmbar erscheinen lassen, und wird damit den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Begründung von Haftfortdauerentscheidungen nicht gerecht.

a) Das Oberlandesgericht hat nicht schlüssig begründet, weshalb vorliegend weder die (ursprünglich zuständige) 2. Strafkammer noch die (nunmehr zuständige) 1. Strafkammer bis zum angegriffenen Beschluss über vier Monate nach Erhebung der Anklage noch keine Entscheidung über die Zulassung der Anklage und die Eröffnung des Hauptverfahrens getroffen haben.

aa) Das Oberlandesgericht hat nicht hinreichend dargelegt, dass das Verfahren angemessen gefördert worden ist. Die Entscheidungen des Landgerichts, die das Oberlandesgericht zur Begründung anführt, sind zum Nachweis einer Verfahrensförderung erkennbar nicht geeignet. Es ist jedenfalls ohne nähere Erläuterung nicht ersichtlich, wie den Entscheidungen über den Antrag auf Haftprüfung, über die Anhaltung und Beschlagnahme von Briefen des Beschwerdeführers sowie über die Pflichtverteidigung Auswirkungen auf die Eröffnungsreife zukommen konnten und sie damit zur Verfahrensförderung beigetragen haben können.

bb) Darüber hinaus ist unerheblich, ob die vom Oberlandesgericht angeführten Nachermittlungen und das Abwarten des Eingangs des toxikologischen Gutachtens vom 6. Juli 2020 das Verfahren angemessen gefördert haben. Denn die Ergebnisse gingen bereits am 9. Juli 2020 beim Landgericht ein. Die Stellungnahmefrist gemäß § 201 Abs. 1 Satz 1 StPO war seit dem 15. Juli 2020 abgelaufen. Dass die Strafkammer ab diesem Zeitpunkt weitere Nachermittlungen in Auftrag gab, führt das Oberlandesgericht weder an noch ist ein solcher Auftrag sonst ersichtlich. Das Oberlandesgericht führt überdies nicht aus, dass nach Eingang der Nachermittlungen noch keine Eröffnungsreife vorgelegen habe. Weshalb das Landgericht dennoch mehr als drei Monate nach Kenntnis der Nachermittlungsergebnisse keine Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens getroffen hatte, begründet der Senat nicht tragfähig und lässt somit die notwendige Begründungstiefe vermissen. Rechtliche Schwierigkeiten, die einer Eröffnungsentscheidung entgegenstanden haben könnten, sind weder dem angegriffenen Beschluss des Oberlandesgerichts zu entnehmen noch sind sie sonst ersichtlich.

b) aa) Die verspätete Entscheidung hat das Verfahren auch verzögert, obwohl die Vorsitzende der 2. Strafkammer vor der Eröffnungsentscheidung bereits Termine für die Durchführung der Hauptverhandlung mit den Verteidigern des Beschwerdeführers abgesprochen hat, denn auch die von der Kammervorsitzenden avisierten Termine ab dem Februar 2021 führen zu einer deutlichen Überschreitung des vom Bundesverfassungsgericht für die Dauer des Zwischenverfahrens für den Regelfall als geboten erachteten Zeitraums (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 1. August 2018 – 2 BvR 1258/18 -, Rn. 25; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 18. Februar 2020 – 2 BvR 2090/19 -, Rn. 49). Damit setzt sich das Oberlandesgericht nicht in der erforderlichen Begründungstiefe auseinander. Es musste bei seiner Entscheidung vom 28. Oktober 2020 berücksichtigen, dass sich der Beschwerdeführer im Februar 2021 schon mehr als ein Jahr und einen Monat in Untersuchungshaft befinden würde und der Eingang der Akten beim Landgericht über acht Monate zurücklag. Eine solche späte Terminierung hätte unter Berücksichtigung des Beschleunigungsgebots nur mit gewichtigen Gründen gerechtfertigt werden können, die ausweislich des angegriffenen Beschlusses nicht ersichtlich sind.“

U-Haft I: Telefonieren aus der U-Haft in Corona-Zeiten, oder: Mit den Eltern schon, mit den Schwestern nicht

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Seit längerem heute dann mal wieder drei U-Haft-Entscheidungen.

Ich beginne mit dem AG Kempten, Beschl. v. v. 28.10.2020 – 1 Gs 3356/20 -, der an das gestrige Tagesthema anknüpft, also Corona. Es geht um das Telefonieren eines U-Haft-Gefangenen in Coronazeiten. Das AG hat ein Telefonat mit den Eltern, die in Tschechien wohnen, genehmigt, mit den Schwestern hingegen abgelehnt:

„Dem Antrag des Rechtsanwaltes pp. vom 20.10.2020, Telefonate zwischen den Eltern des Beschuldigten und dem Beschuldigten zu gestatten, war im Hinblick auf ein Telefonat stattzugeben.

Der Antrag, Telefonate zwischen den Schwestern des Beschuldigten und dem Beschuldigten zu gestatten, war zurückzuweisen.

Grundsätzlich widerspricht das Begehren eines Untersuchungsgefangenen, Telefonate mit Personen außerhalb der Justizvollzugsanstalt zu führen oder von solchen empfangen zu dürfen, sowohl dem Zweck der Untersuchungshaft als auch der Anstaltsordnung.

Telefonate können daher nur unter ganz außergewöhnlichen Umständen genehmigt werden. Bei berechtigtem Interesse können Telefonate insbesondere mit Familienangehörigen im Einzelfall erlaubt werden. Bei Telefonaten mit nahen Familienangehörigen ist mit Blick auf Art. 6 Abs. 1 GG ein großzügiger Maßstab angezeigt (vgl. BeckOK StPO/Kreuß, 37. Ed. 1.7.2020, StPO § 119 Rn. 20).

Vorliegend war ein Telefonat zwischen dem Beschuldigten und seinen Eltern zu genehmigen. Des von der Staatsanwaltschaft Kempten eingeräumte Besuchsrecht kann auf Grund der derzeitigen Lage im Hinblick auf die Corona-Pandemie nicht oder nur sehr erschwert ausgeübt werden. So Ist die Tschechische Republik derzeit vom Robert-Koch-Institut als Risikogebiet eingestuft, so dass sich diverse Reisebeschränkungen ergeben.

Des Weiteren ist derzeit nicht vorhersehbar, ob und wie sich die Besuchsregelungen in der JVA angesichts der epidemiologischen Entwicklung In naher Zukunft ändern.

Auch Im Hinblick auf das Alter der Eitern des Beschuldigten war aus diesen Gründen ein Telefonat zu genehmigen.

Ein Telefonat mit den Schwestern des Beschuldigten war vorliegend Jedoch nicht zu genehmigen.

Auch wenn die Einschränkungen des Besuchsrechts auch die Schwestern des Beschuldigten trifft, so Ist nach Ansicht des Gerichts dem Interesse des Beschuldigten auf Kontakt mit seiner Familie durch das Telefonat mit den Eltern genügend Rechnung getragen.

Eine Ausweitung von Telefonaten auf weitere Familienangehörige widerspricht dem Zweck der Untersuchungshaft als auch der Anstaltsordnung. Dies vor allem im Hinblick auf das erhebliche Gewicht der Tat und der erheblichen Verdunkelungsgefahr.

Hinsichtlich der Schwestern des Beschuldigten ist der Beschuldigte auf die Möglichkeit des Briefverkehrs zu verweisen, welcher ebenfalls eine Kontaktaufnahme ermöglicht.“

U-Haft I: Fixierung, oder: Nicht in der U-Haft

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Heute gibt es dann drei Postings zu „Haftfragen“.

Ich beginne mit dem AG Lübeck, Beschl. v. 31.08.2020 – 9 XIV 17461 L. Das AG hat die Frage entschieden, ob in Schleswig-Holstein während der U-Haft die  die Anordnung einer Fixierung zulässig ist.Grudnlage war folgender Sachverhalt:

„Der Betroffene ist U-Haftgefangener. Die Untersuchungshaft wurde seit dem 03.07.2020.in der JVA N. vollzogen. Nachdem der Betroffene am 30.08.2020 einen Bediensteten der Untersuchungshaftabteilung mit einem gefährlichen Gegenstand angegriffen und verletzt hatte, wurde er unter Fesselung am 31.08.2020 in die JVA L. verlegt und machte bei seiner Zuführung einen zunächst ruhigen und kooperativen Eindruck. Bei der Abnahme der für den Transport angeordneten Handfesseln schlug er direkt auf die umstehenden Bediensteten ein. Der Betroffene wurde erneut an den Händen gefesselt und in den besonders gesicherten Haftraum (bgH) verbracht. Während des Transports in den bgH war der Betroffene erneut ruhig. Bei erneuter Abnahme der Handfesseln wurde der Betroffene wieder aggressiv und versuchte die Bediensteten körperlich zu attackieren. Daraufhin wurde der Betroffene gegen 12.50 Uhr fixiert. Gegen 14.00 Uhr erfolgte eine Antragstellung beim Amtsgericht Lübeck sowie gegen 15.00 Uhr eine körperliche Untersuchung des Betroffenen durch den stellvertretenden Anstaltsarzt Dr. L. Um 16.30 Uhr wurde der Betroffene 7- Punkt fixiert in der JVA angetroffen und im Beisein des ihm beigeordneten Verfahrenspflegers angehört.“

Das AG verneint die Zulässigkeit der Fixierung und hat den entsprechenden Antrag zurückgewiesen:

„Für die freiheitsentziehende Maßnahme der Fixierung fehlt es an einer gesetzlichen Grundlage. Die Fixierung des betroffenen Gefangenen ist auf Basis des § 49 UVollzG SH nicht möglich. Diese von der JVA in Anspruch genommene Vorschrift nennt in Abs. 2 Nr. 6 als besondere Sicherungsmaßnahme die Fesselung. Eine Fesselung ist allerdings etwas anderes als eine Fixierung. Eine Fesselung beschränkt die Bewegungsfreiheit der Extremitäten, nicht des ganzen Körpers. Dies ergibt sich bereits aus § 51 S. 1 UVollzG SH, wonach in der Regel Fesseln nur an den Händen oder an den Füßen angelegt werden. Selbst wenn hieraus geschlossen werden könnte, dass von dieser Regel Ausnahmen möglich sein müssen und eine solche die 7-Punkt-Fixierung sei, dürfte eine solche von der regelmäßigen Fesselung abweichende besondere Fesselung nur im Interesse des Gefangenen angeordnet werden, § 51 S. 2 UVollzG SH. Hier wurde die Fixierung (als besondere Art der Fesselung) allerdings im Interesse der Bediensteten angeordnet, denn diese sollen vor weiteren Angriffen des betroffenen Gefangenen geschützt werden. Selbst bei einer extensiven Auslegung des Begriffes Fesselung könnte die hiervon der JVA durchgeführte und nachträglich beantragte Maßnahme also nicht auf § 49 Abs. 2 Nr, 6 UVollzG SH gestützt werden.

Die extensive Auslegung des Begriffes „Fesselung“ überzeugt ohnehin nicht. Eine Fixierung, also die vollständige Aufhebung der Bewegungsfreiheit in jede Richtung, ist etwas andere als eine Fesselung, die die Extremitäten beschränkt. Dies ergibt neben der Auslegung des Begriffes auch die Gesetzessystematik. § 49 UVollzG nennt ausweislich der Überschrift „Besondere Sicherungsmaßnahmen“. Unter derselben Überschrift regelt § 108 LStVollzG SH dies für den Bereich des Strafvollzugs, also einer der U-Haft sehr ähnlichen Situation, die auch in denselben Haftanstalten vollzogen wird. Hier sind als besondere Sicherungsmaßnahme ausdrücklich die Fesselung sowie die Fixierung genannt, § 108 Abs. 2 Nr. 5, 6 LStVollzG SH. Mithin unterscheidet der Landesgesetzgeber durchaus zwischen Fesselung und Fixierung. Das UVollzG wurde im Jahre 2011 beschlossen, das LStVollzG im Jahre 2016. Es ist nicht ersichtlich, dass der Gesetzgeber im Jahre 2011 eine andere Begrifflichkeit verwendet hat als 5 Jahre später.

Auch ist der Gesetzgeber verpflichtet, insbesondere die Fälle, in denen eine Freiheitsentziehung zulässig sein soll, hinreichend klar zu bestimmen. Freiheitsentziehungen sind in berechenbarer messbarer und kontrollierbarer Weise zu regeln, BVerfG a. a. O., Randnummer 79. Dies spricht gerade in diesem Bereich gegen die den Wortlaut überdehnende Auslegung, dass eine Fixierung eine besondere Form der Fesselung sei.

Da auf Basis des U-Haftvollzugsgesetz keine Fixierung angeordnet werden kann, ist der Antrag der Justizvollzugsanstalt mangels gesetzlicher Grundlage insgesamt zurückzuweisen. Etwas anderes könnte nur gelten, wenn die Möglichkeit der Anordnung der Fixierung unmittelbar aus der Verfassung folgen würde, wie es das BVerfG für Fixierungen in Bayern angenommen hat, da die dortige Regelung der öffentlich rechtlichen Unterbringung an entsprechender Klarheit zu wünschen übrig ließ, BVerfG a. a. O., Randnummer 128, 129. Das Bundesverfassungsgericht hatte innerhalb einer Übergangsfrist trotz fehlender gesetzlicher Grundlage Fixierungen für zulässig erklärt soweit sie unerlässlich sind, um eine gegenwärtige erhebliche Selbstgefährdung oder eine erhebliche Gefährdung bedeutender Rechtsgüter anderer abzuwenden.

Selbst wenn man annehmen würde, dass bei Vollzug einer Untersuchungshaft in Schleswig-Holstein unter diesen strengen Voraussetzungen trotz fehlender gesetzlicher Grundlage eine Fixierung zulässig wäre, so wäre sie im konkreten Fall jedoch nicht anzuordnen. Es ist nicht ersichtlich, dass die vom Betroffenen für andere ausgehende Gefahr nicht auch im besonders gesicherten Haftraum abgewendet werden könnte. Zwar wäre er erst einmal dort hinzubringen, seine Fesselung wäre dann zu lösen, durch geeignete Personalstärke wird es aber gelingen, den betroffenen Gefangenen in den bgH zu verbringen und dort die Fesselung zu lösen, ohne dass die dies durchführenden Beamten verletzt werden. Jedenfalls ist die Gefahr für das eingesetzte Personal bei dem unbewaffneten Gefangenen nicht so hoch, dass sein Aufenthalt in der JVA ohne Fixierung nicht riskiert werden könnte; erst dann aber dürfte eine einfach gesetzliche nicht geregelte Fixierungsmöglichkeit sich unmittelbar aus der Verfassung ergeben.

Schließlich ist bei der Frage, ob sich nicht aus der Verfassung eine Fixierungsmöglichkeit ergäbe, zu berücksichtigen, dass andere Maßnahmen zwischen Aufnahme in die Haftanstalt und der Verlegung nach Lübeck möglicherweise eher angezeigt gewesen wären, um die Verbringung in den bgH, Fesslungen und jetzt eine Fixierung und gleichzeitig Gefahren für Dritte zu vermeiden. Nach dem Eindruck, den das Gericht vom Betroffenen gewonnen hat und nach den Ausführungen des Anstaltsarztes dürfte beim Betroffenen eine psychotische Symptomatik vorliegen, die zu raptusartigen Durchbrüchen führt. Es ist nicht ersichtlich, dass der Betroffene auf eine psychiatrische Grunderkrankung überhaupt untersucht worden ist, geschweige denn dass versucht wurde, diese zu behandeln. Die Verlegung von der JVA N., bei der eine psychiatrische Behandlung immerhin möglich ist, in die JVA L. erscheint daher verwunderlich. Den Gefangenen bei Wiederherstellung seiner Gesundheit zu unterstützen ist aber eine der Aufgaben der JVA; bei Gefahren für Dritte wie vorliegend kämen auch Behandlungsmaßnahmen gegen den Willen des Betroffenen in Betracht, § 21 UVollzG. Es ist nicht ersichtlich, dass solches in der bisher zuständigen JVA auch nur erwogen wurde.

Auch weckt die Durchführung der Fixierung in der JVA L. Bedenken. Der Betroffene hat sich ausweislich der Anhörung und der Schilderungen der Justizbediensteten in einem starken Erregungszustand befunden, was auch die ärztliche Stellungnahme belegt. Den Betroffenen in einem solch starken Erregungszustand ohne jede beruhigende Medikation zu fixieren scheint nicht sachgemäß und medizinisch kaum vertretbar zu sein; der Erregungszustand dürfte sich im nicht beruhigten fixierten Zustand eher verstärken. Dies muss allerdings nicht abschließend beurteilt werden, da aus vorgenannten Gründen die Fixierung ohnehin nicht anzuordnen ist.“