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Verkehrsrecht II: Nochmals Fahrverbot nach § 44 StGB, oder: Nebenstrafe als „gerechter Schuldausgleich“

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Als zweite Entscheidung des Tages stelle ich den OLG Dresden, Beschl. v. 07.07. 2022 – 2 OLG 22 Ss 299/22 – zum Fahrverbot nach § 44 StGB vor, und zwar eine Fortführung vom OLG Dresden, Beschl. v. 16.04.2021 – 2 OLG 22 Ss 195/21.

Das OLG nimmt noch einmal zum Sinn und Zweck des Fahrverbotes nach § 44 StGB Stellung:

„Der Revisionsführer beanstandet zu Unrecht, dass sich das Tatgericht mit den Voraussetzungen des § 44 Abs. 1 Satz 2 StGB nicht auseinandergesetzt habe. Die Revision unterliegt diesbezüglich einem Missverständnis dieser Vorschrift, die keinen Zeitfaktor enthält und nunmehr auch Nicht-Verkehrsstraftaten erfasst.

Wie der Senat bereits ausgeführt hat (Beschluss vom 16. April 2021 – 2 OLG 22 Ss 195/21 – juris), wurde der Anwendungsbereich des Fahrverbots nach § 44 StGB mit der Gesetzesnovellierung 2017 wesentlich erweitert (BT-Drs 18/11272, Seite 14 ff.). Seine bis dahin allgemein anerkannte, auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Fahrverbot nach § 25 StVG zurückgehende Bedeutung als Denkzettel- und Besinnungsmaßnahme für Straftaten im Zusammenhang mit dem Straßenverkehr (vgl. BVerfG, Beschluss vom 16. Juli 1969 – 2 BvL 11/69 –, juris Rdnr. 15) hat an Gewicht verloren. Statt dessen wurde den Tatgerichten mit der Erweiterung des Anwendungsbereichs ein „zielgenaueres“ (vgl. BT-Drs a.a.O., Seite 17) Mittel bereitgestellt, welches einerseits auch außerhalb von Verkehrsdelikten Anwendung finden kann und andererseits eine besser dosierte Gesamtsanktion aus Kombination und in Wechselwirkung mit der Hauptstrafe ermöglicht (BT-Drs a.a.O.).

Im Lichte des Zwecks dieser Novellierung ist die Gesetzesformulierung „zur Einwirkung auf den Täter erforderlich“ (§ 44 Abs. 1 Satz 2 StGB) daher nicht im Sinne der Denkzettelfunktion auszulegen (“noch“ erforderlich), sondern – korrespondierend mit der gesetzgeberischen Betonung der Pönalisierungsfunktion – als eine auf die Angemessenheit des Gesamtübels bezogenen Strafzumessungsrichtlinie. Die Rechtsfolge, bestehend aus Haupt- und/oder Nebenstrafe, soll im Verhältnis zum begangenen Unrecht gerechter Schuldausgleich sein. Die Nebenstrafe ist deshalb – losgelöst von einem präventiven Aspekt – „zur Einwirkung auf den Täter erforderlich“, wenn die Hauptstrafe allein nicht als gerechter Schuldausgleich ausreicht.

Der Senat vermag aus den genannten Gründen auch nicht den Überlegungen von Staudinger (jurisPR-StrafR 14/2021 Anm. 5 zum Senatsbeschluss vom 16. April 2021 (a.a.O.) zu folgen, der mit Blick auf die sich zum Fahrverbot nach § 25 StVG verhaltende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (a.a.O.) das Fahrverbot nicht als Kriminalstrafe verstanden wissen will. Seine Bezugnahme auf diese zum Ordnungswidrigkeitenrecht ergangene Rechtsprechung erscheint angesichts der amtlichen Begründung zur Gesetzesnovellierung 2017 (BT-Drs 18/11272, Seite 14 ff.) für eine Qualifizierung der hiervon zu unterscheidenden Kriminalsanktion nach StGB nicht überzeugend. Vielmehr wurde gerade die Pönalisierungsfunktion (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 03. Juni 2004 – Az.: 2 Ss 112/04 –, [juris Rdnr. 14] mit Verweis auf BT-Drs IV/651, Seite 12) dieser „echten“ (Neben-)Strafe stärker betont (BT-Drs  a.a.O. Seite 17).

Gemessen hieran werden die Urteilsgründe den an sie zu stellenden Anforderungen gerecht. Die Strafzumessung ist grundsätzlich Sache allein des Tatgerichts, dessen Aufgabe es ist, aufgrund der Hauptverhandlung die wesentlichen belastenden und entlastenden Umstände festzustellen, sie zu bewerten und gegeneinander abzuwägen. Sie lässt vorliegend noch hinreichend erkennen, dass sich die Kammer der untrennbaren Wechselwirkung zwischen Haupt- und Nebenstrafe bewusst war, zumal sie „mit Blick auf die Höhe“ (UA S. 5) der wegen § 331 StPO begrenzten Geldstrafe (UA a.a.O.) ein zusätzliches Fahrverbot – ebenso wie bereits die Vorinstanzen – für erforderlich erachtet hat.“

BtM III: Beweiswürdigung beim Handeltreiben, oder: Sachverständigengutachten und Entlastendes

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Und die dritte und letzte Entscheidung kommt dann vom OLG Koblenz. das hat im OLG Koblenz, Beschl. v. 11.11.2021 – 2 OLG 32 Ss 184/21 – zur Beweiswürdigung in einem landgerichtlichen Urteil, das den Angeklagten wegen Handeltreibens in zwei Fällen verurteilt hat, Stellung genommen. Das OLG beanstandet die Beweiswürdigung und hat das LG-Urteil aufgehoben:

„Die Revision hat mit der erhobenen Sachrüge Erfolg.

Die Beweiswürdigung, mit der das Landgericht seine Annahme begründet, der Angeklagte habe in zwei Fällen mit Betäubungsmitteln unerlaubt Handel getrieben, ist in beiden Fällen fehlerhaft, so dass das Urteil insgesamt der Aufhebung unterliegt.

Zwar ist die Beweiswürdigung allein Sache des Tatrichters, so dass die revisionsgerichtliche Prüfung sich auf das Vorliegen von Rechtsfehlern beschränkt (§ 337 StPO). Ein sachlich-rechtlicher Fehler kann indes dann vorliegen, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist, oder wenn sie gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt (st. Rspr., BGH 2 StR 278/14 v. 18.02.2015, NStZ 2015, 419; 2 StR 552/19 v. 27.05.2020, BeckRS 2020, 23344 Rn. 13; 2 StR 466/18 v. 16.10.2019, BeckRS 2019, 30970 Rn. 6).

Die Beweiswürdigung der Kammer ist lücken- und damit rechtsfehlerhaft.

Die Kammer stützt die Annahme des Handeltreibens im ersten Fall maßgeblich auf die Menge der in Fall 1 bestellten und der zuvor in engem zeitlichem Zusammenhang bestellten und dem Angeklagten auch gelieferten Betäubungsmittel. Zwar lässt sich dem Urteil in seiner Gesamtschau noch der Zeitpunkt der Bestellungen (7. Juli bis 22. August 2017, Seite 5 des Urteils unten) und die Menge (5-mal 25 mg, insgesamt also 125 mg) entnehmen sowie die Konsumeinheit für Butyrfentanyl (0,5 mg, Seite 6 des Urteils oben) und möglicherweise aus dem Gesamtzusammenhang sogar, dass es zu den Auslieferungen in den fünf eingestellten Fällen gekommen ist.

Es wird aber nicht ausreichend dargelegt, wie die Kammer zu der Feststellung gelangt, dass eine Konsumeinheit lediglich 0,5 mg betrage. In den Urteilsgründen findet sich dazu unter IV. 2. b. aa. am Ende des ersten Absatzes lediglich die Bemerkung „Die diesbezüglichen Feststellungen ergeben sich insbesondere aus dem Behördengutachten des Bundeskriminalamtes und den Angaben des Zeugen pp.“.

Nach ständiger obergerichtlicher und höchstrichterlicher Rechtsprechung muss der Tatrichter, der ein Gutachten verwertet, dem er – wie hier – Beweisbedeutung beimisst, auch dann, wenn er sich den gutachterlichen Ausführungen anschließt, diese in der Regel in einer in sich geschlossenen (wenn auch nur gedrängten) zusammenfassenden Darstellung unter Mitteilung der zugrundeliegenden Anknüpfungstatsachen und der daraus gezogenen Schlussfolgerungen im Urteil wiedergeben, um dem Rechtsmittelgericht die gebotene Nachprüfung zu ermöglichen (OLG Hamm, 4 RBs 216/17 v. 22.06.2017, juris m.w.N.). Diesen Anforderungen wird das angegriffene Urteil nicht gerecht, so dass sich die Beweiswürdigung als lückenhaft erweist. Die bloße Angabe, dass die Feststellungen sich „insbesondere“ aus dem Behördengutachten und den Angaben des Zeugen pp. ergeben ist unzureichend. Es ist für den Senat nicht nachvollziehbar, wie der Gutachter des Bundeskriminalamtes zu der Annahme einer Konsumeinheit Butyrfentanyl von 0,5 mg gekommen ist und was der Zeuge pp. zu der Frage der Konsumeinheit, auf die es hier ganz maßgeblich ankommt, beigetragen haben kann. Auch wird nicht erkennbar, warum die Kammer dem Behördengutachten und den Bekundungen des Zeugen folgt.

Auch hinsichtlich des zweiten Falles ist die Beweiswürdigung lückenhaft.

Die Beweise sind erschöpfend zu würdigen (BGH, 4 StR 441/78 v. 07.07.1979, BGHSt 29, 18, 20). Das Urteil muss insbesondere erkennen lassen, dass der Tatrichter solche Umstände, die geeignet sind, die Entscheidung zu Gunsten oder zu Ungunsten des Angeklagten zu beeinflussen, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat (BGH, 4 StR 420/14 v. 12.2.2015, NStZ-RR 2015, 148; 2 StR 78/16 v. 01.02.2017, BeckRS 2017, 107749, Rn. 20; 4 StR 587/17 v. 30.01.2018, NStZ-RR 2018, 120; 1 StR 305/17 v. 11.10.2017, BeckRS 2017, 136085 Rn. 4). Dabei ist der Tatrichter gehalten, sich mit den festgestellten Tatsachen unter allen für die Entscheidung wesentlichen Gesichtspunkten auseinanderzusetzen, wenn sie geeignet sind, das Beweisergebnis zu beeinflussen (BGH, 2 StR 110/17 v. 05.07.2017, juris Rn. 6 mwN). Aus den Urteilsgründen muss sich außerdem ergeben, dass der Tatrichter die einzelnen Beweisergebnisse nicht nur isoliert gewertet, sondern in eine umfassende Gesamtwürdigung eingestellt hat (BGH a.a.O., m.w.N.).

Diesen Anforderungen genügt die angegriffene Entscheidung nicht. Die Strafkammer sieht als wesentliches Indiz für die Annahme eines unerlaubten Handeltreibens des Angeklagten die Diversität der beim Angeklagten sichergestellten Betäubungsmittel, die für einen Konsumenten gänzlich ungewöhnlich sein soll und das Auffinden „diverser Utensilien“ und von Verpackungsmaterial (diverse Griptütchen mit Betäubungsmittelanhaftungen, diverse leere Glasfläschchen und diverse Handelsutensilien). Auf welcher Grundlage die Kammer zu der Erkenntnis gelangt, dass die Diversität der Stoffe für einen Konsumenten gänzlich ungewöhnlich sein soll, ergibt sich aus den Urteilsgründen nicht. Vor allem aber hat die Kammer zu Lasten des Angeklagten lediglich die Indizien in ihre Erwägungen eingestellt, die ihrer Auffassung nach für ein Handeltreiben sprechen.

Die gegen ein Handeltreiben sprechenden Umstände hat die Kammer gänzlich außer Betracht gelassen. So setzt sie sich nicht mit dem Umstand auseinander, dass lediglich Kleinstmengen der verschiedenen Betäubungsmittel aufgefunden wurden. Es wurde bei keinem der diversen Betäubungsmittel eine größere Menge sichergestellt. Auch bleibt unberücksichtigt, dass die Griptütchen nach den Feststellungen Betäubungsmittelanhaftungen aufgewiesen haben, was dafür sprechend könnte, dass sie gebraucht waren, was wiederum für Konsum und gegen ein Handeltreiben sprechend könnte. Diese Gesichtspunkte, die gegen ein Handeltreiben sprechen, hätten im Rahmen der Beweiswürdigung erörtert und in eine vorzunehmende Gesamtabwägung eingestellt werden müssen…“

StGB I: Erlass von Auflagen wegen Personalmangel, oder: Rechtsbeugung?

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Heute dann mal ein wenig materielles Recht, und zwar: Außegewöhnliche Entscheidungen – zumindest vom Sachverhalt her.

Ich beginne die Berichterstattung mit dem BGH, Urt. v. 21.01.2021 – 4 StR 83/20. Eine der doch recht seltenen „Rechtsbeugungsentscheidungen“ des BGH. Hier war es Der angeklagt ein Richter am Amtsgericht Kaiserslautern, der dort seit 1993 als Strafrichter und Vorsitzender des Schöffengerichts eingesetzt war. Der hat im Januar 2016 in vier Bewährungssachen den Verurteilten die noch nicht erfüllten Bewährungsauflagen erlassen und das in den jeweiligen Beschlüssen mit einem angeblichen Personalmangel des Gerichts begründet. Auf die Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft hat das Beschwerdegericht die angefochtenen Beschlüsse u. a. mit der Begründung auf, die Entscheidungen des Angeklagten seien ermessensfehlerhaft und von sach- bzw. verfahrensfremden Erwägungen getragen. Die entsprechenden Ausführungen haben dazu geführt, der Richter dann  in allen von ihm zu bearbeitenden Verfahren die Bewährungsaufsicht fortgesetzt hat.

Das LG hatte den Richter vom Vorwurf der Rechtsbeugung frei gesprochen. Dagegen die Revision der Staatsanwaltschaft, die vom GBA nicht vertreten worden ist. Der BGH hat die Revision verworfen.

Der BGH meint: Zwar traf der Angeklagte rechtswidrige Entscheidungen, jedoch erweisen sich diese nicht als elementare Rechtsverstöße i.S. von § 339 StGB. Er führt u.a. aus:

„bb) Zwar waren die vom Angeklagten erlassenen Aufhebungs- und Nichtabhilfebeschlüsse nicht mit einer vertretbaren Begründung versehen, weil der Angeklagte sachfremde und damit unzulässige Ermessenserwägungen in seine Entscheidungen einstellte. Die Entscheidungen erweisen sich aber dennoch unter Beachtung der dargelegten Grundsätze aufgrund einer Gesamtbewertung nicht als elementare Rechtsbrüche im Sinne des § 339 StGB.

(1) Eröffnet eine Rechtsnorm – wie hier § 56e StGB – Ermessen, begründet das Willkürverbot eine Verpflichtung zu dessen sachgerechter Ausübung. Das zur Entscheidung berufene Rechtspflegeorgan darf seine Entscheidung daher nicht nach freiem Belieben treffen, sondern muss das ihm eingeräumte Ermessen pflichtgemäß ausüben (vgl. BVerfG, Beschluss vom 29. Oktober 2015 – 2 BvR 388/13; Beschluss vom 15. Februar 2010 – 1 BvR 285/10; Beschluss vom 23. Mai 2006 – 1 BvR 2530/04, BVerfGE 116, 1).

Die Ausübung des Ermessens hat sich daher ausschließlich an dem Zweck zu orientieren, zu dem es eingeräumt ist. Nachträgliche Entscheidungen über Bewährungsauflagen dürfen sich deshalb nur auf solche Gesichtspunkte stützen, die sich auf den Zweck und die rechtlichen Grenzen dieses Rechtsinstituts beziehen. Insoweit bestimmt § 56b Abs. 1 Satz 1 StGB, dass Bewährungsauflagen der Genugtuung für das begangene Unrecht dienen. Sie stellen damit eine strafähnliche Sanktion dar (vgl. BGH, Beschluss vom 29. Januar 2014 – 4 StR 254/13, BGHSt 59, 172; Kinzig in Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl., § 56b Rn. 2 mwN). Einschränkend regelt § 56b Abs. 1 Satz 2 StGB, dass an den Verurteilten keine unzumutbaren Anforderungen gestellt werden dürfen. Allein solche neuen oder neu hervorgetretenen Tatsachen, die eine geänderte Bewertung des Genugtuungsbedürfnisses oder der Zumutbarkeit der Auflage für den Verurteilten rechtfertigen, dürfen in eine Abwägung nach § 56e StGB eingestellt werden (vgl. OLG Köln, Beschluss vom 2. November 2010 – 2 Ws 704/10; OLG Brandenburg, Beschluss vom 4. August 2008 – 1 Ws 135/08; OLG Stuttgart, Beschluss vom 24. September 2004 – 1 Ws 248/04; LG Zweibrücken, Beschluss vom 6. Mai 2010 – Qs 27/10; Kinzig in Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl., § 56e Rn. 8; Hubrach in LK-StGB, 12. Aufl., § 56e Rn. 5; Groß/Kett-Straub in MK-StGB, 4. Aufl., § 56e Rn. 12).

Keine zulässigen Ermessenserwägungen sind demgegenüber der vom Angeklagten in den Gründen der Aufhebungs- und Nichtabhilfebeschlüsse angeführte personelle Engpass des Gerichts bzw. die Überlastung des zur Entscheidung berufenen Richters, denn diese Umstände stehen weder mit der Bewertung des Genugtuungsbedürfnisses noch mit der Zumutbarkeit der Auflage für den Verurteilten in einem sachlichen Zusammenhang. Dem Strafrecht ist es grundsätzlich fremd, den Inhalt von Ermessensentscheidungen an der Arbeitsbelastung des Richters zu orientieren (vgl. BGH, Beschluss vom 24. Juni 2009 – 1 StR 201/09, Rn. 6 f.; Urteil vom 3. Dezember 1998 – 1 StR 240/98, BGHSt 44, 258). Soweit der Angeklagte insbesondere in den Gründen der Nichtabhilfebeschlüsse seinen Unmut über die Personalpolitik der Justizverwaltung aufscheinen ließ, fehlt es ebenfalls offensichtlich am sachlichen Zusammenhang mit dem Gegenstand der Entscheidung. Der Angeklagte durfte das gerichtliche Verfahren nicht zweckentfremden, um persönliche justizpolitische Überzeugungen zu transportieren (vgl. BGH, Urteil vom 27. Oktober 2020 – RiZ (R) 4/20). Die Beschlussbegründungen erweisen sich nach alledem als sachwidrig.

(2) Dem Angeklagten ist jedoch bei wertender Gesamtbetrachtung aller objektiven und subjektiven Umstände kein elementarer Rechtsverstoß zur Last zu legen.

(a) Zwar stellen sich die Aufhebungs- und Nichtabhilfebeschlüsse des Angeklagten für sich betrachtet wegen der dort niedergelegten unvertretbaren Ermessenserwägungen als rechtswidrig dar. Der Senat verkennt auch nicht, dass der Angeklagte mit seinen Entscheidungen nachträglich in das aus Schuld- und Strafausspruch sowie Bewährungsauflage bestehende Gefüge der ursprünglichen Sanktion mit rechtswidrigen Erwägungen eingegriffen hat. Indes ist die Aufhebung von Auflagen im Rahmen der Bewährungsaufsicht nach § 56e StGB grundsätzlich statthaft und fiel gemäß §§ 453b, 453 StPO i.V.m. § 462a Abs. 2 und Abs. 1 StPO in die Zuständigkeit des Angeklagten. Dass sich Entscheidungen im Rahmen grundsätzlich eingeräumter Entscheidungsmöglichkeiten und prozessualer Zuständigkeiten halten, schließt für sich genommen eine Rechtsbeugung nicht aus (vgl. BGH, Urteil vom 27. Januar 2017 – 5 StR 328/15), kann aber . wie hier . im Zusammentreffen mit weiteren Umständen den Rechtsverstoß als weniger gravierend erscheinen lassen.

(b) Maßgeblich gegen das Vorliegen eines elementaren Rechtsverstoßes sprechen hier die vom Landgericht letztlich rechtsfehlerfrei festgestellten weiteren sachbezogenen Überlegungen, die der Angeklagte bei Erlass der jeweiligen Entscheidungen anstellte.

Hieraus ergibt sich, dass der Angeklagte seine Entscheidungen nicht ausschließlich an sachfremden Kriterien ausrichtete. Vielmehr legte er ihnen weitere Ermessenserwägungen zugrunde, wenngleich er diese – mit Ausnahme des Falls des Verurteilten Wo. , wo sie mit dem Hinweis auf die fehlende Reaktion des Auflagenempfängers auf gerichtliche Anfragen zumindest angedeutet wurden – freilich nicht in die Beschlussgründe aufnahm. Diese Erwägungen waren jedenfalls nicht sachfremd, sondern ließen sich auf den Zweck und die rechtlichen Grenzen der Erteilung von Bewährungsauflagen, wie sie sich aus § 56b Abs. 1 StGB ergeben, zurückführen. In den Fällen der Verurteilten M. , Me. und Wo. standen die vom Angeklagten berücksichtigten Umstände – Erbringen des weit überwiegenden Teils der Arbeitsauflage, erstmaliger Freiheitsentzug bzw. anscheinend fehlendes Interesse des Geschädigten an der Schadenswiedergutmachung – im Zusammenhang mit einer Neubewertung des Genugtuungsbedürfnisses des § 56b Abs. 1 Satz 1 StGB. Im Fall des Verurteilten W. berührten dessen berufliche Pläne die Zumutbarkeit der Arbeitsauflage gemäß § 56b Abs. 1 Satz 2 StGB und legten zumindest eine Überprüfung nahe.

(c) Darüber hinaus handelte der Angeklagte nicht in der Absicht, eine ermessensfehlerfreie Anwendung des Rechts generell zu verweigern (vgl. BGH, Urteil vom 4. September 2001 – 5 StR 92/01, BGHSt 47, 105 [zu mutwilligem Ermessensmissbrauch]). Vielmehr war es in den einzelnen Fällen sein Ziel, ein Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft und damit eine Entscheidung des Beschwerdegerichts herbeizuführen, um eine Stellungnahme zu seiner Rechtsauffassung zu erhalten. Die Entscheidung des Beschwerdegerichts wollte er akzeptieren und akzeptierte sie tatsächlich, was sich darin zeigte, dass er die Bewährungsaufsicht ohne weitere Unregelmäßigkeiten fortführte. Diese innere Haltung des Angeklagten ist auch dadurch belegt, dass er für seine Zwecke gezielt vier Verfahren auswählte.

(d) Die Fehler in der Anwendung des materiellen Strafrechts erlangen auch nicht dadurch das Gewicht eines elementaren Rechtsverstoßes, dass ihnen ein Verstoß gegen das Verfahrensrecht vorausging.

Der Senat entnimmt dem Zusammenhang der Urteilsgründe, dass der Angeklagte es jeweils entgegen § 453 Abs. 1 Satz 2 StPO unterließ, vor Erlass der Aufhebungsentscheidungen die Staatsanwaltschaft zu seinem beabsichtigten Vorgehen anzuhören. Dieser Verfahrensfehler, der für sich genommen nicht das Gewicht einer Rechtsbeugung erreicht, erhöht in den konkreten Fällen auch den Schweregrad des materiellen Rechtsverstoßes nicht. Soweit in der Rechtsprechung anerkannt ist, dass eine heimliche Vorgehensweise ein Gesichtspunkt sein kann, der im Rahmen einer Gesamtbetrachtung einen Rechtsverstoß als Rechtsbeugung kennzeichnet (vgl. BGH, Beschluss vom 14. September 2017 – 4 StR 274/16 [Scheinverfügungen eines Staatsanwalts, um Verfahren der Dienstaufsicht zu entziehen]; Urteil vom 18. Juli 2013 – 4 StR 84/13), sind die betreffenden Konstellationen mit der vorliegenden nicht vergleichbar. Denn mit dem Unterlassen der Anhörungen bezweckte der Angeklagte kein heimliches Vorgehen, da es ihm gerade darauf ankam, dass das Beschwerdegericht im Instanzenzug seine „Rechtsauffassung“ überprüfte, was aber eine vorherige Kenntnisnahme der Staatsanwaltschaft spätestens nach Erlass der Beschlüsse voraussetzte. Die Sachwidrigkeit der Entscheidungen lag damit – dem Plan des Angeklagten entsprechend – offen zutage. Objektiv verschlechterte sich die Prozesslage für die Staatsanwaltschaft nicht wesentlich, da ihr rechtliches Gehör im Beschwerdeverfahren nachgeholt werden konnte.

(e) Nicht als bewusster Rechtsverstoß anzusehen ist es, dass der Angeklagte nicht alle Erwägungen in die Beschlussgründe aufgenommen hat; insoweit ist den rein formellen Anforderungen des § 34 StPO durch die vom Angeklagten gegebene – wenn auch sachwidrige und inhaltlich nicht erschöpfende – Begründung genügt.

(3) Insgesamt rechtfertigt das Zusammentreffen der genannten objektiven und subjektiven Faktoren die Bewertung, dass sich der Angeklagte jedenfalls nicht im Sinne des § 339 StGB in schwerwiegender Weise von Recht und Gesetz entfernt hat.“

StGB I: Besitzverschafffung an KiPo, oder: „Sexuell aufreizende Wiedergabe“?

Heute dann kein OWi und keine Pflichtverteidigung, sondern seit längerem mal wieder materielles Recht, also StGB.

Ich starte mit dem BGH, Beschl. v. 1.9.2020 -3 StR 275/20 – zur Verbreitung von KiPo. Das LG hat den Angeklagten wegen Besitzverschaffung an einer kinderpornographischen Schrift verurteilt. Nach den vom LG getroffenen Feststellungen hatte der Angeklagte über Internetseiten Bilddateien auf sein Mobiltelefon heruntergeladen und sie dort gespeichert. Drei der in den Urteilsgründen genauer beschriebenen Fotos zeigten jeweils das in den Vordergrund gerückte unbekleidete Gesäß eines fünf- bis neunjährigen Mädchens.

Dagegen die Revision, die erfolglos war:

„2. Die Nachprüfung des Urteils auf Grund der Revisionsrechtfertigung hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben. Näherer Ausführungen bedarf allein, dass nach den Feststellungen die Bilddateien die Voraussetzungen kinderpornographischer Schriften im Sinne des § 184b Abs. 1 Nr. 1 Buchst. c StGB erfüllen.

a) Eine sexuell aufreizende Wiedergabe der unbekleideten Genitalien oder des unbekleideten Gesäßes eines Kindes gemäß § 184b Abs. 1 Nr. 1 Buchst. c StGB liegt vor, wenn die genannten Körperteile aus Sicht eines durchschnittlichen Betrachters in sexuell motivierter Weise im Blickfeld stehen. Hierfür sind die aus der Schrift (§ 11 Abs. 3 StGB) zu entnehmenden Umstände heranzuziehen; auf die daraus nicht ersichtlichen Beweggründe der die Wiedergabe erstellenden oder damit umgehenden Person kommt es nicht an.

aa) Eine sexuell aufreizende Wiedergabe ist eine solche, die eine sexuell konnotierte Fokussierung auf die näher bezeichneten unbekleideten Körperregionen eines Kindes enthält (vgl. den letztlich nicht weiterverfolgten, aber weitgehend wortgleichen Gesetzesantrag des Freistaates Bayern, BR-Drucks. 127/14, 12). Der Begriff des Aufreizens findet sich bereits im Rahmenbeschluss 2004/68/JI des Rates vom 22. Dezember 2003 zur Bekämpfung der sexuellen Ausbeutung von Kindern und der Kinderpornografie (ABl. EU 2004 Nr. L 13/44, 45) und geht nach der allgemeinen Wortbedeutung in sexualisierter Weise über eine neutrale Abbildung hinaus („lascivious“ nach der englischsprachigen, „lascive“ nach der französischsprachigen Fassung des Rahmenbeschlusses 2004/68/JI). Davon abzugrenzen sind Wiedergaben mit anderer Intention, beispielsweise als unverfängliches Urlaubsfoto oder zu medizinischen, wissenschaftlichen oder künstlerischen Zwecken (vgl. Europarat, Explanatory Report to the Council of Europe Convention on the Protection of Children against Sexual Exploitation and Sexual Abuse, Nr. 142; BR-Drucks. 127/14, 7; s. auch § 201a Abs. 4 StGB).

bb) Für die Beurteilung sind allein die sich aus der Schrift ergebenden Umstände heranzuziehen.

(1) Der Wortlaut des durch das Neunundvierzigste Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches – Umsetzung europäischer Vorgaben zum Sexualstrafrecht vom 21. Januar 2015 (BGBl. I S. 10, 12) eingefügten § 184b Abs. 1 Nr. 1 Buchst. c StGB stellt auf die „sexuell aufreizende Wiedergabe“ ab. Damit ist Bezugsobjekt des sexuellen Aufreizens die Wiedergabe, nicht davon losgelöste Umstände. In diesem Sinne nimmt § 184b Abs. 1 Nr. 1 StGB allgemein – „vor die Klammer“ gezogen – den Gegenstand der Schrift in den Blick (vgl. zur Bedeutung des Gesamtinhalts der Schrift als Korrektiv BT-Drucks. 18/3202 [neu] S. 27; BT-Rechtsausschuss, Protokoll 18/28 S. 21, 77, 85).

(2) Systematische Erwägungen sprechen ebenfalls dafür, lediglich die (Gesamt-)Darstellung als solche und sich daraus ergebende Gesichtspunkte heranzuziehen, nicht aber darüber hinausgehende Zwecke des Erstellers oder Verwenders (vgl. auch Hilgendorf/Kudlich/Valerius/Greco, Handbuch des Strafrechts, § 10 Rn. 88, 95; SK-StGB/Greco, 9. Aufl., § 184b Rn. 15; Matt/Renzikowski/Eschelbach, StGB, 2. Aufl., § 184b Rn. 23; anders dagegen Eisele/ Franosch, ZIS 2016, 519, 523; Schönke/Schröder/Eisele, StGB, 30. Aufl., § 184b Rn. 17; Fischer, StGB, 67. Aufl., § 184b Rn. 9b; MüKoStGB/Hörnle, 3. Aufl., § 184b Rn. 20). Ansonsten wäre eine konsistente Bewertung, ob eine bestimmte Schrift kinderpornographisch ist oder nicht, nicht möglich. Wären etwa die Zwecke zu berücksichtigen, die eine Person konkret beim Umgang mit der Schrift verfolgt, könnte dies eine unterschiedliche Einordnung derselben Schrift – beim gleichzeitigen Umgang mehrerer sogar zum selben Zeitpunkt – zur Folge haben. Eine derartige uneinheitliche, situationsbedingtsubjektive Auslegung des objektiven Tatbestandsmerkmals der kinderpornographischen Schrift ist im Gesetz nicht angelegt (vgl. kritisch zu subjektiven Kriterien bei der Eingrenzung des objektiven Tatbestandes auch BGH, Beschluss vom 3. Juni 2008 – 3 StR 246/07, BGHSt 52, 257 Rn. 26 ff.).

In ähnlicher Weise hat der Bundesgerichtshof bereits entschieden, dass für den Begriff des „Unzüchtigen“ gemäß § 184 StGB aF Zweck und Art der Verwendung von Bedeutung sein können, hierfür indes die Umstände, aus denen sich die objektive, auf das Geschlechtliche gerichtete Zweckbestimmung ergibt, mit dem Gegenstand, um dessen Kennzeichnung es sich handelt, unmittelbar verknüpft sein müssen (s. BGH, Urteile vom 16. Februar 1954 – 5 StR 475/53, BGHSt 5, 346, 348 f.; vom 11. Oktober 1960 – 5 StR 296/60, juris Rn. 6; RG, Urteil vom 6. November 1893 – Rep. 2597/93, RGSt 24, 365, 367).

(3) Der Gesetzeszweck und die Gesetzesgenese erfordern ebenfalls keine andere Handhabung.

Mit der Schaffung des § 184b Abs. 1 Nr. 1 Buchst. c StGB zielte der Gesetzgeber auf eine vollständige Umsetzung der Richtlinie 2011/93/EU in Anlehnung an den dortigen Art. 2 Buchst. c Doppelbuchst. ii (ABl. EU 2011 Nr. L 335/1, 7) und an Art. 20 Abs. 2 des Übereinkommens des Europarats vom 25. Oktober 2007 zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch (BGBl. 2015 II S. 27, 37). Aus den genannten Regelungen ergibt sich zwar ein Bezug zur Zwecksetzung, nicht aber dazu, dass dafür auch die jeweilige Verwendung entscheidend ist. Vielmehr lassen sich die gewählten Formulierungen („jede Abbildung der Geschlechtsteile eines Kindes zu vorwiegend sexuellen Zwecken“, „jegliche Darstellung der Geschlechtsorgane eines Kindes für primär sexuelle Zwecke“) damit in Einklang bringen, dass für die Ermittlung des Zwecks die Abbildung bzw. Darstellung ausschlaggebend ist (vgl. auch Europarat, Explanatory Report to the Council of Europe Convention on the Protection of Children against Sexual Exploitation and Sexual Abuse, wo unter Nr. 142 auf den Zweck der Verkörperung abgestellt wird).

In der Gesetzesbegründung wird als Maßstab für die Beurteilung, ob die Wiedergabe sexuell aufreizender Art ist, die Beurteilung eines durchschnittlichen Betrachters angesehen (BT-Drucks. 18/3202 [neu] S. 27; vgl. auch BR-Drucks. 127/14, 12). Dies deutet darauf hin, dass eine abstraktobjektive Bewertung der Darstellung vorzunehmen ist und es nicht auf die davon unabhängige Motivation des einzelnen Nutzers ankommt. Von Bedeutung können insofern etwa Bildkomposition, Kameraperspektive, der gewählte Ausschnitt oder die Haltung des Kindes sein (s. BR-Drucks. 127/14, 12).

b) Gemessen daran tragen die – ergänzend auf die Abbildungen gemäß § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO verweisenden – Urteilsgründe die rechtliche Einordnung als kinderpornographische Schriften. Das Landgericht hat im Einzelnen dargelegt, aufgrund welcher Umstände die Darstellungen ersichtlich auf die Erregung sexueller Reize zielten. Daher ist es unschädlich, dass es darüber hinaus bei der Einordnung der Bilder als sexuell aufreizend darauf abgestellt hat, dass sie in der konkreten, sich nicht aus den Aufnahmen selbst ergebenden Verwendung durch den Angeklagten ausschließlich sexuellen Zwecken dienten.

StGB III: Unterhaltspflichtverletzung, oder: Zivilrecht meets Strafrecht

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Die dritte Entscheidung des Tages ist dann auch wieder etwas älter. In dem OLG Stuttgart, Beschl. v. 22.11.2020 – 4 Rv 26 Ss 1199/19 – hat das OLG zu den Voraussetzungen der Leistungsfähigkeit i.S. des § 170 StGB – Unterhaltspflichtverletzung – Stellung genommen.

Das AG hatte den Angeklagten wegen Verletzung der Unterhaltspflicht in zwei Fällen verurteilt. Dagegen die Berufung des Angeklagten, die keinen Erfolg hatte. Erfolg hatte dann aber die Revision. Die führte zum Freispruch.

Das LG hatte folgende Feststellungen getroffen:

„Der Angeklagte ist der leibliche Vater des am pp. 2000 geborenen pp. Spp., der pp. 2003 geborenen pp. Spp. sowie der am 9pp. 2007 pp. Spp., die nach Trennung der Eltern zunächst allesamt im Haushalt ihrer Mutter lebten.

Zwischen dem pp. 2017 und pp. 2018 lebten die beiden minderjährigen Töchter bei der Mutter, während der zunächst noch minderjährige Sohn nach einem Streit mit der Mutter beim Angeklagten eingezogen war. Die Mutter bezog das Kindergeld für beide Töchter; das Kindergeld für pp. wurde an den Angeklagten ausbezahlt, dem zugleich für sich und seinen Sohn als Bedarfsgemeinschaft ergänzende Leistungen zur Grundsicherung nach SGB II gewährt wurden.

Der Angeklagte war seinen beiden minderjährigen Töchtern, die weder über eigenes Einkommen noch Vermögen verfügten, gesetzlich zum Unterhalt verpflichtet, kam dieser Pflicht im vorgenannten Zeitraum aber nicht nach. Nach den Feststellungen des Landgerichts zahlte er bewusst und gewollt keinen Unterhalt für seine Töchter, obwohl er aufgrund seiner Einkommensverhältnisse dazu zumindest partiell in der Lage war.

Als Taxifahrer bezog er bei einer wöchentlichen Arbeitszeit von effektiv 32,5 Stunden (zuzüglich Warte- bzw. Standzeiten) 1.400 € brutto bzw. ca. 1.050 € netto sowie monatlich durchschnittlich zumindest 80 € Trinkgelder. An ergänzenden Leistungen zur Grundsicherung entfielen auf ihn monatlich 326,44 € für November und Dezember 2017 sowie 333,90 € für Januar, Februar und April 2018. Für März 2018 hat der Angeklagte keine Leistungen beantragt. Abzüglich eines Selbstbehalts für Erwerbstätige von 1.080 € errechnete das Landgericht eine durchschnittliche Verteilungsmasse zwischen 53,99 € im März 2018 und 387,89 € im April 2018 und durchschnittlich 326,34 €. Unter Zugrundelegung des Unterhaltsbedarfs der Töchter gemäß der Düsseldorfer Tabelle errechnet es einen monatlichen Unterhaltsbetrag für pp. in Höhe von 180 € und für pp. in Höhe von 145 €.

Im Tatzeitraum bezog der Angeklagte für den bei ihm lebenden Sohn pp. neben dem Kindergeld ergänzende Leistungen zur Grundsicherung sowie einen Unterhaltsvorschuss, der auf die Leistungen zur Grundsicherung anrechenbar ist, weshalb noch Erstattungsansprüche des Jobcenters im Raum stehen.“

Das OLG hat ausfgehobeN.

„…. Diese Feststellungen tragen den Schuldspruch nicht. Die Erwägungen, mit denen das Landgericht die Leistungsfähigkeit des Angeklagten festgestellt hat, erweisen sich als rechtsfehlerhaft und führen zur Aufhebung des Urteils.

a) Die Unterhaltspflicht, die sich im Rahmen des § 170 StGB aus dem Gesetz ergeben muss, ist zunächst ihrem Umfang nach festzustellen; dem ist die Leistungsfähigkeit des Verpflichteten gegenüberzustellen, die bei der Prüfung der Strafbarkeit nach § 170 StGB teils als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal (Fischer, StGB, 66. Auflage 2019, § 170 Rn. 4, 5 und 8; Frommel in Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, StGB, 5. Auflage 2017 § 170 Rn. 8), teils als ein vom Strafrichter selbstständig zu beurteilendes Element des gesetzlichen Merkmals der Unterhaltspflicht (Bosch/Schittenhelm in Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, 30. Auflage 2019, § 170 Rn. 19) bewertet wird, die jedenfalls nach allgemeiner Meinung Voraussetzung für eine Strafbarkeit nach § 170 Abs. 1 StGB ist. Die Frage, ob ein potentieller Unterhaltsschuldner leistungsfähig ist, ist auch im Rahmen der Frage einer Strafbarkeit nach § 170 Abs. 1 StGB nach zivilrechtlichen Maßstäben (Ritscher in Münchener Kommentar zum StGB, 3. Auflage 2017, § 170 Rn. 36) und ohne Bindung an zivil- bzw. familiengerichtliche Entscheidungen (OLG Zweibrücken, Beschluss vom 16. Oktober 2018 – 1 OLG 2 Ss 46/18, juris OLG München, Beschluss vom 2. September 2008 – 5St RR 160/08, juris; Münchener Kommentar, a.a.O., Rn. 31) zu beurteilen. Die Leistungsfähigkeit ist vom Strafrichter im Urteil in der Weise festzustellen, dass angegeben wird, welchen Betrag der Täter mindestens hätte leisten können; außerdem müssen die Beurteilungsgrundlagen (tatsächliches oder erzielbares Einkommen, zu berücksichtigende Lasten, Eigenbedarf usw.) so genau dargelegt werden, dass eine Überprüfung der vom Tatrichter angenommenen Leistungsfähigkeit möglich ist (Schönke/Schröder, a.a.O., Rn. 22 m.w.N.; Heuchemer in BeckOK StGB, 43. Edition Stand 1.6.2019, § 170 Rn. 18; Fischer, a.a.O.). Der Strafrichter darf sich grundsätzlich der Unterhaltsrechtlichen Leitlinien und Tabellen der Oberlandesgerichte bedienen, um Leistungsfähigkeit und Selbstbehalt festzustellen (Münchener Kommentar, a.a.O., Rn. 39; Fischer, a.a.O., 8).

b) Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil nicht gerecht.

aa) Es erweist sich als rechtsfehlerhaft, dass bei der Berechnung der Leistungsfähigkeit die Einkünfte des Angeklagten aus ergänzenden Leistungen zur Grundsicherung einkommenserhöhend eingestellt werden. Denn die nach §§ 19 ff. SGB II an den Unterhaltspflichtigen gezahlten Leistungen decken grundsätzlich allein den sozialhilferechtlichen Lebensbedarf ab und gewähren auch zur Höhe kein Einkommen, das den verfassungsrechtlich gewährleisteten Mindestselbstbehalt übersteigt. Sie stellen keine Einkommensersatzleistungen dar (Dose in Wendl/Dose, Das Unterhaltsrecht in der familienrechtlichen Praxis, 10. Auflage 2019, § 1 Rn. 110; Born in Münchener Kommentar zum BGB, 7. Aufl. 2017, § 1603 Rn. 43; OLG Stuttgart, Urteil vom 5. Februar 2008 – 18 UF 225/07, beck-online; Bosch/Schittenhelm in Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, 30. Auflage 2019, § 170 Rn. 21; BGH, Urteil vom 19.11.2008 – XII ZR 129/06, beck-online; ebenso die Unterhaltsrechtlichen Leitlinien der Familiensenate in Süddeutschland unter Ziff. 2.2; anders lediglich Fischer, a.a.O., Rn. 8 a ohne nähere Begründung oder Differenzierung).

Anhaltspunkte dafür, dass der Angeklagte ausnahmsweise – beispielsweise aufgrund besonderer, bei der Berechnung der Grundsicherung angesetzter Freibeträge (Wendl/Dose, a.a.O., Rn. 111; Reinken in BeckOK, BGB, 51. Edition Stand 1.8.2019, § 1603 Rn. 34) – dennoch leistungsfähig sein könnte, sind nicht erkennbar.

Rechtsfehlerhaft hat die Strafkammer das Einkommen nicht um eine Pauschale von 5 % für berufsbedingte Aufwendungen vermindert. Grundsätzlich sind entsprechend Nr. 10.2.1 SüdL berufsbedingte Aufwendungen mit einer Pauschale von 5 % zu berücksichtigen, wenn tatsächliche Anhaltspunkte für solche Aufwendungen bestehen. Nach den Feststellungen liegen aufgrund der Entfernung von Wohn- und Arbeitsort solche Anhaltspunkte vor. Anhaltspunkte dafür, dass im Einzelfall wegen der eingeschränkten Leistungsfähigkeit nur konkrete Aufwendungen angesetzt werden können, sind nicht ersichtlich.

Damit verbleibt für den Tatzeitraum kein für Unterhaltszahlungen einzusetzendes Einkommen beim Angeklagten.

bb) Es kommt daher nicht mehr darauf an, dass die Urteilsgründe die Berechnungsgrundlagen der ergänzenden Leistungen zur Grundsicherung nicht darlegen, ohne die dem Senat die Überprüfung des angenommenen notwendigen Selbstbehalts nicht möglich ist. Dieser kann zwar regelmäßig den Süddeutschen Leitlinien entnommen werden. Allerdings handelt es sich insoweit um Regelsätze, die je nach Fallgestaltung ermäßigt oder erhöht werden können (Guhling in Wendl/Dose, a.a.O., § 5 Rn. 22 ff.; Ziff. 21.5 der SüdL). Insbesondere bei Heranziehung von ergänzenden Leistungen zur Grundsicherung ist hierbei zu beachten, dass niemand durch Unterhaltszahlungen zum Sozialfall werden soll. Die finanzielle Leistungsfähigkeit endet jedenfalls dort, wo der Unterhaltspflichtige nicht mehr in der Lage ist, seine eigene Existenz zu sichern (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 20. August 2001 – 1 BvR 1509/97, juris). Diese Opfergrenze wird im Allgemeinen etwas über dem Sozialhilfebedarf des in Anspruch genommenen angesetzt. Wenn der Sozialhilfebedarf aber im Einzelfall höher liegt als diese generellen Sätze, erhöht sich der Selbstbehalt entsprechend. Daher wäre auch im vorliegenden Fall zu prüfen, ob der Selbstbehalt den Sozialhilfebedarf (für die Hilfe zum Lebensunterhalt) nicht unterschreitet. Gegebenenfalls wäre der Selbstbehalt entsprechend zu erhöhen (Wendl/Dose, a.a.O., Rn. 12). Die Prüfung dieser Voraussetzungen erfordert jedoch die Darlegung der Berechnungsgrundlagen für die ergänzenden Leistungen zur Grundsicherung.

cc) Ebenso wenig kommt es noch darauf an, dass es – wie die Generalstaatsanwaltschaft zutreffend ausgeführt hat – im Fall des Bezugs von Grundsicherungsleistungen wie auch bei der Leistung von Naturalunterhalt für ein weiteres Kind auch näherer Feststellungen zur Frage des Vorliegens eines vorsätzlichen Handelns bedurft hätte. Ein Irrtum über die Leistungsfähigkeit ist ein Tatbestandsirrtum (Fischer, a.a.O., Rn. 8; Heger in Lackner/Kühl, StGB, 29. Auflage 2018, § 170 Rn. 11; BeckOK, a.a.O., Rn. 20; Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, a.a.O., Rn. 13).“