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Haft II: Verhältnismäßigkeit des Sitzungshaftbefehls, oder: Vorführung geht vor Verhaftung

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Im zweiten Posting dann noch einmal etwas zur Verhältnismäßigkeit eines „Sitzungshaftbefehls“, also § 230 Abs. 2 StPO.

Dazu führt das LG Nürnberg-Fürth im LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 13.03.2023 – 7 Qs 17/23 – aus:

„Die zulässige Beschwerde ist begründet, weshalb der Haftbefehl vom 07.03.2023 aufzuheben war.

Zwar liegen die Voraussetzungen des § 230 Abs. 2 StPO insoweit vor, als der Angeklagte zum Termin am 07.03.2023 ordnungsgemäß mit der Belehrung über die Folgen unentschuldigten Fernbleibens geladen wurde und ohne (genügende) Entschuldigung zum Termin nicht erschienen ist.

Allerdings verstößt der Erlass eines Haftbefehls nach § 230 Abs. 2 StPO im vorliegenden Fall gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.

Zwischen den in § 230 Abs. 2 StPO vorgesehenen Zwangsmitteln besteht – wie das Amtsgericht auch erkannt hat – ein Stufenverhältnis, d.h. grundsätzlich ist zunächst zwingend das mildere Mittel – nämlich die polizeiliche Vorführung – anzuordnen (OLG Nürnberg. Beschluss vom 10.08.2021 – Ws 734/21). Dieser ist nach dem Willen des Gesetzgebers stets der Vorrang vor dem Haftbefehl zu geben.

Wie das OLG Nürnberg in seinem Beschluss vom 10.08.2021 (Ws 734/21) ausführte, kommt der Erlass eines Haftbefehls in der Regel nur dann in Betracht, wenn der Versuch der Vorführung zum Termin gescheitert ist und/oder mit hoher Wahrscheinlichkeit auszuschließen ist, dass die Anwesenheit des Angeklagten durch eine Vorführung sichergestellt werden kann (OLG Nürnberg, Be-schluss vom 10.08.2021 – Ws 734/21). Eine Verhaftung des Angeklagten ist mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht zu vereinbaren, wenn bei verständiger Würdigung aller Umstände die Er-wartung gerechtfertigt ist, dass der Angeklagte zu dem (nächsten) Hauptverhandlungstermin erfolgreich vorgeführt werden kann. Ohne eine Vorführung versucht zu haben, ist der Erlass eines Haftbefehls nur in seltenen Ausnahmefällen verhältnismäßig, etwa wenn feststeht, dass der An-geklagte auf keinen Fall erscheinen will oder die Vorführung wahrscheinlich deshalb aussichtslos sein wird, weil der Aufenthaltsort des Angeklagten unbekannt ist oder die begründete Sorge besteht, dass der Angeklagte vor einer Vorführung untertauchen wird (OLG Nürnberg, Beschluss vom 10.08.2021 – Ws 734/21).

Diese Voraussetzungen liegen nach Auffassung der Kammer nicht vor. Der Beschwerdeführer hat einen festen Wohnsitz. Zum Termin am 07.03.2023 war er zwar nicht im Sitzungssaal erschienen, bot jedoch nach telefonischer Rücksprache mit seinem Verteidiger an, sich unverzüglich von Bayreuth aus auf den Weg zum Gericht zu machen. Es ist mithin nicht ersichtlich, dass der Beschwerdeführer auf keinen Fall zum Termin erscheinen will oder untertauchen wird, um sich der Verhandlung zu entziehen. Die Gesamtschau ergab damit für die Kammer, dass eine Vorführung durchaus geeignet ist, die Anwesenheit des Beschwerdeführers in der Hauptverhandlung zu gewährleisten.

Von einer eigenen Entscheidung über die Vorführung sieht die Kammer angesichts der Verfahrenslage – noch ist kein neuer Hauptverhandlungstermin bestimmt – ab.“

Haft I: Alkoholisiert in der Hauptverhandlung, oder: Haftbefehl ist das letzte Zwangsmittel

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Ich habe länger keine Haftentscheidungen vorgestellt. Heute ist es dann mal wieder so weit.

Den Opener mache ich mit dem OLG Nürnberg, Beschl. v. 09.03.2023 – Ws 207/23 -, den mir der Kollege Jendricke aus Amberg geschickt hat. Das OLG nimmt Stellung zu einem nach § 230 Abs. 2 StPo ergangenen (Sitzungs)Haftbefehl. Ergangen ist der Haftbefehl im Berufungsverfahren. Der Angeklagte war dort in der Berufungshauptverhandlung alkoholisiert erschienen. Das LG erlässt daraufhin Haftbefehl, den das OLG auf die Haftbeschwerde des Kollegen hin aufgehoben hat:

„Die Beschwerde ist nach § 304 Abs. 1 StPO zulässig und hat in der Sache Erfolg, da der Haftbefehl unverhältnismäßig ist.

Dabei kann die Frage einer genügenden Entschuldigung des Beschwerdeführers dahin stehen.

Ein Haftbefehl nach § 230 Abs: 2 StPO mit dem damit verbundenen Eingriff in die persönliche Freiheit darf nur dann ergehen, wenn und soweit der legitime Anspruch der staatlichen Gemeinschaft auf vollständige Aufklärung der Tat und rasche Bestrafung des Täters anders nicht gesichert werden kann. Er dient allein der Verfahrenssicherung in Bezug auf die (weitere) Durchführung der Hauptverhandlung und hat nicht etwa den (Selbst-)Zweck, den Ungehorsam des Angeklagten zu sanktionieren.

Zwischen den in § 230 Abs. 2 StPO vorgesehenen Zwangsmitteln besteht ein Stufenverhältnis, d.h. grundsätzlich ist zunächst zwingend das mildere Mittel – nämlich die polizeiliche Vorführung – anzuordnen. Nur-dies wird dem verfassungsrechtlichen Gebot gerecht, dass bei einer den Bürger belastenden Maßnahme Mittel und Zweck im angemessenen Verhältnis zueinander stehen müsssen. Eine Verhaftung des Angeklagten ist mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht zu vereinbaren, wenn bei verständiger Würdigung aller Umstände die Erwartung ‚gerechtfertigt ist, dass der Angeklagte zu dem (nächsten) Hauptverhandlungstermin erfolgreich vorgeführt werden kann.

Wenn das Gericht demgegenüber sofort zum Mittel des Haftbefehls greift, muss aus seiner Entscheidung deutlich, werden, dass es eine Abwägung zwischen der polizeilichen Vorführung und dem Haftbefehl vorgenommen hat. Die Gründe, warum ausnahmsweise sofort die Verhaftung des Angeklagten angeordnet worden ist, müssen tragfähig sein und in dem Beschluss in einer Weise schlüssig und nachvollziehbar aufgeführt werden, dass sie in Inhalt und Umfang eine Überprüfung des Abwägungsergebnisses am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht nur für den Betroffenen selbst, sondern auch für das die Anordnung treffende Gericht im Rahmen seiner Eigenkontrolle gewährleisten. Von entsprechenden Darlegungen kann nur abgesehen werden, wenn die Nachrangigkeit des Freiheitsanspruchs offen zutage liegt und sich daher von selbst versteht.

Das Landgericht hat die in der Hauptverhandlung vorw15.02.2023 anwesende Sachverständige nicht befragt, ob durch eine frühzeitige Ingewahrsamnahme und Vorführung des Angeklagten zur nächsten Hauptverhandlung – gegebenenfalls unter Hinzuziehung eines Facharztes – eine Verhandlungsfähigkeit hergestellt werden könne, zumal der Angeklagte sich bereit gezeigt hatte, zur Verhandlung zu erscheinen und die Sachverständige ausgeführt hat, der Angeklagte sei in Anbetracht seiner Erkrankung bei einem Alkoholgehalt von .einem Promille weniger verhandlungsfähig als bei zwei Promille.

Hinzukommt, dass der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz erfordert, dass die Hauptverhandlung in angemessener Frist durchgeführt wird und vorliegend nicht geprüft wurde, ob zeitnah eine Herstellung der Verhandlungsfähigkeit bei zeitnaher Fortsetzung der Hauptverhandlung hergestellt kann. Ein neuer Hauptverhandlungstermin wurde bis jetzt nicht bestimmt, hierzu hätte spätestens zum Zeitpunkt der Abhilfeentscheidung Veranlassung bestanden.

Vor diesem Hintergrund ist der Haftbefehl unverhältnismäßig, er wird daher aufgehoben. Angesichts des Fehlens eines neuen Hauptverhandlungstermins und Feststellungen zur Erfolgsaus-sieht einer Vorführung wird davon abgesehen, schon jetzt über die Vorführung des Angeklagten als milderes Mittel zu entscheiden.

Haft II: Der Sitzungshaftbefehl ergeht in der Hauptverhandlung, oder: Liegt auf der Hand

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Die zweite (Haft)Entscheidung stammt auch vom OLG Brandenburg. Das hat im OLG Brandenburg, Beschl. v. 11.03.2019 – 1 Ws 35/19 – zum Erlass eines sog. Sitzungshaftbefehls nach § 230 Abs. 2 StPO und zum Rechtsmittel gegen eine solche Maßnahme Stellung genommen.

Das LG Potsdam hatt Hauptverhandlung auf den den 09.01.2019 anberaunmt. Nachdem der Angeklagte dem Folgetermin am 16. Januar 2019 trotz ordnungsgemäßer Ladung unentschuldigt fernblieb, erließ das LG am 16.01.2019 außerhalb der Hauptverhandlung gegen ihn einen Haftbefehl gemäß § 230 Abs. 2 StPO. Der Angeklagte wurde daraufhin am 17.01.2019 festgenommen. Am 18.01.2019 wurde ihm der Haftbefehl verkündet. Dre Verteidiger hat Beschwerde eingelegt, der das LG unter dem 13.02.2019 nicht abgeholfen hat. Mit Beschluss vom 22.02.2019 hat das LG aber den Haftbefehl aufgehoben, da es das Verfahren nach § 229 Abs. 4 StPO ausgesetzt hat. Hintergrund der Aussetzung war eine mehr als dreiwöchige Unterbrechung der Hauptverhandlung wegen der Erkrankung eines Schöffen.

Das OLG stellt fest: Die Beschwerde ist nicht gegenstandslos geworden und: Der Haftbefehl war rechtswidrig.

1. Die Beschwerde des Angeklagten gegen den Haftbefehl der 4. großen Strafkammer des Landgerichts Potsdam vom 16. Januar 2019 ist durch die Aufhebung des Haftbefehls und die Entlassung des Angeklagten aus der Haft am 22. Februar 2019 nicht gegenstandslos geworden.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gibt das Erfordernis eines effektiven Rechtschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) dem Betroffenen das Recht, die Berechtigung eines tiefgreifenden Grundrechtseingriffs auch dann noch gerichtlich klären zu lassen, wenn dieser tatsächlich nicht mehr fortwirkt. Während früher generell eine nachträgliche gerichtliche Klärung schwerwiegender Grundrechtseingriffe davon abhängig gemacht wurde, dass deren direkte Belastung sich typischerweise auf eine Zeitspanne beschränkt, in der der Betroffene die gerichtliche Entscheidung in dem von der maßgeblichen Prozessordnung vorgesehenen Verfahren kaum erlangen kann (vgl. BVerfGE 96, 27; 110, 77), hängt nach der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Gewährung von Rechtsschutz im Hinblick auf das bei Freiheitsentziehungen bestehende Rehabilitierungsinteresse weder vom konkreten Ablauf des Verfahrens und dem Zeitpunkt der Erledigung der Maßnahme noch davon ab, ob Rechtsschutz typischerweise noch vor Beendigung der Haft erlangt werden kann (vgl. BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 11. April 2018 – 2 BvR 2601/17 -; BVerfGE 104, 220; BVerfGK 6, 303). Dies gilt sowohl für den Fall der strafrechtlichen Untersuchungshaft (vgl. BVerfGK 6, 303) als auch für die Konstellation eines Sitzungshaftbefehls (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 27. Oktober 2006 – 2 BvR 473/06 -; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 21. September 2017 – 2 BvR 1071/15 -). Die Beschwerde darf in solchen Fällen nicht wegen prozessualer Überholung als unzulässig verworfen werden; vielmehr ist die Rechtmäßigkeit der zwischenzeitlich erledigten Maßnahme zu prüfen und gegebenenfalls deren Rechtswidrigkeit festzustellen (vgl. BVerfGE 96, 27; 104, 220; BVerfGK 6, 303; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 12. Februar 2001 – 1 Ws 33/01 -; OLG Celle, Beschluss vom 21. Februar 2003 – 2 Ws 39/03 -; OLG München, Beschluss vom 31. Januar 2006 – 3 Ws 61/06 -, StV 2006, 317; OLG Braunschweig, Beschluss vom 20. Juni 2012 – Ws 162/12 -; OLG Saarbrücken, Beschluss vom 5. Januar 2015 – 1 Ws 166/14 -; BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 11. April 2018 – 2 BvR 2601/17 -).

Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Die Verhaftung eines nicht erschienen Angeklagten zur Sicherstellung der Hauptverhandlung stellt einen schwerwiegenden Eingriff in das durch Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG garantierte Grundrecht dar.

2. Das zulässige Rechtsmittel hat Erfolg. Die Beschwerde führt zur Feststellung, dass die Haftanordnung der Strafkammer rechtswidrig war.

Der auf § 230 Abs. 2 StPO gestützte Haftbefehl erweist sich bereits deshalb als rechtswidrig, weil er nicht ordnungsgemäß erlassen worden ist.

Über Zwangsmittel nach § 230 Abs. 2 StPO hat das erkennende Gericht grundsätzlich in der für die Hauptverhandlung maßgebenden Besetzung, mithin unter Mitwirkung der Schöffen, zu entscheiden (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 61. Auflage, § 230 Rn. 24 m.w.N.). Der angefochtene Haftbefehl wurde nicht in der Hauptverhandlung mit der hierfür maßgeblichen Besetzung erlassen. Zwar kann das Gericht außerhalb der Hauptverhandlung einen Haftbefehl gemäß § 230 Abs. 2 StPO erlassen, wenn es sich diesen Erlass in der Hauptverhandlung vorbehält; Voraussetzung eines solchen Vorbehalts ist aber, dass eine vorgebrachte Entschuldigung geprüft oder der Eingang des glaubhaft angekündigten Nachweises abgewartet werden soll (Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O.; OLG Köln, Beschluss vom 29. Juni 2004 – 2 Ws 328/04). Ein solcher Fall liegt hier aber nicht vor, jedenfalls ergibt sich dies nicht aus dem Hauptverhandlungsprotokoll vom 16. Januar 2019. Dass der spätere Erlass eines Haftbefehls gemäß § 230 Abs. 2 StPO in der Hauptverhandlung nicht vorbehalten worden ist, wird durch das Hauptverhandlungsprotokoll bewiesen.“

Dass der Sitzungshaftbefehl in der Hauptverhandlung ergeht, liegt m.E. auf der Hand. Oder?

Und: <<Werbemodus an>>: Natürlich steht zum Haftbefehl nach § 230 Abs. 2 StPO einiges bei „Burhoff, Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 9. Aufl. 2019″, die man hier – zusammen mit dem Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 8. Aufl., 2019“ hier bestellen kann. <<Werbemodus aus>>.

Nochmals Sitzungshaftbefehl: In der Ladung darf man nur ein bisschen drohen…

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Ich habe gestern den KG, Beschl. v. 19.07.2016 – 4 Ws 104/16 – vorgestellt (vgl. So einfach ist das mit dem Sitzungshaftbefehl nicht, oder: Stufenverhältnis), der sich mit den Fragen der Verhältnismäßigkeit beim Erlass eines „Sitzungshaftbefehls“ nach § 230 Abs. 2 StPO befasst. Zu dem Posting passt dann ganz gut der OLG Karlsruhe, Beschl. v. 21.09.2016 – 3 Ws 634/16 – sorry, habe ich gerade erst in meinem Blogordner wieder entdeckt, hätte gestern natürlich – noch – besser gepasst.

DerBeschluss  behandelt auch Fragen des § 230 Abs. 2 StPO, nämlich die der ordnungsgemäßen Ladung des Angeklagten, die ja Voraussetzung dafür ist, dass überhaupt ein Sitzungshaftbefehl erlassen werden darf. Die Fragen spielen insbesondere eine Rolle, wenn der Angeklagte im Ausland lebt. Dann stellt sich die Problematik, ob er – was in der Praxis häufig geschieht – unter der Androhung von Zwangsmitteln für den Fall des unentschuldigten Ausbleibens geladen werden darf. Darf er nach h.M. nicht, und zwar – so das OLG Karlsruhe – auch dann nicht, wenn die Ladung an einen Zustellungsbevollmächtigen im Inland zugestellt wird. Allerdings ist eine „modifizierte Warnung“ zulässig:

„Der Haftbefehl des Amtsgerichts Offenburg vom 15.6.2016 kann keinen Bestand haben, weil die Angeklagte zu dem auf diesen Tag anberaumten Hauptverhandlungstermin nicht ordnungsgemäß geladen worden war und es damit an einer Voraussetzung für den Erlass eines Haftbefehls nach § 230 Abs. 2 StPO fehlt (Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., Rdn. 18 zu § 230). Der in der Ladung enthaltene Hinweis nach § 216 Abs. 1 Satz 1 StPO, dem zufolge im Falle des unentschuldigten Ausbleibens der Angeklagten ihre Verhaftung oder Vorführung angeordnet werden müsste, hätte ihr in dieser Form nicht erteilt werden dürfen.

Nach wohl überwiegender Meinung darf die Ladung eines dauernd im Ausland lebenden Angeklagten die in § 216 Abs. 1 Satz 1 StPO vorgeschriebene Androhung von Zwangsmitteln für den Fall des unentschuldigten Ausbleibens nämlich nicht enthalten, da dies die Androhung der Ausübung hoheitlicher Gewalt auf dem Gebiet eines fremden Staates darstellt, die entsprechend dem Territorialitätsprinzip unzulässig ist (KG StraFo 2013, 425; OLG Brandenburg StV 2009, 348; OLG Köln NStZ-RR 2006, 22; OLG Frankfurt NStZ-RR 1999, 18; KK-Gmel, StPO, 7. Aufl. 2013, Rdn, 5 zu § 216 m.w.N.). Nichts anderes gilt, wenn – wie hier – die Ladung an einen Zustellungsbevollmächtigen im Inland zugestellt wird (vgl. KG a.a.O.).

Jedoch ist eine dem § 216 StPO genügende modifizierte Warnung über die Folgen des Nichterscheinens des im Ausland auf freiem Fuß befindlichen Angeklagten dann zulässig, wenn diese den eindeutigen einschränkenden Hinweis enthält, dass die Vollstreckung der angedrohten Zwangsmaßnahme ausschließlich im Geltungsbereich der Strafprozessordnung, also im Inland, erfolgt. Insoweit handelt es sich nämlich nicht um eine möglicherweise völkerrechtswidrige „Androhung“ eines Zwangsmittels, sondern lediglich um die gesetzlich vorgeschriebene Darstellung der deutschen Rechtslage zum Schutz des sich im Ausland aufhaltenden Ladungsempfängers (OLG Karlsruhe StV 2015, 346; Beschluss v. 23.4.2014 – 1 Ws 55/14; KG NStZ 2011, 653; OLG Saarbrücken NStZ-RR 2010, 49; OLG Rostock NStZ 2010, 412; KK-Gmel, a.a.O., Rdn. 5 zu § 216; a.A. KG StraFo 2013, 425).

Da die am 23.3.2016 verfügte Ladung der Angeklagten zu dem Hauptverhandlungstermin am 15.6.2016 diese Einschränkung nicht enthielt, war der Haftbefehl aufzuheben.“

Häufiger Fehler bei der „Auslandsladung“, der dann dem Erlass eines Haftbefehls nach § 230 Abs. 2 StPO entgegensteht.

So einfach ist das mit dem Sitzungshaftbefehl nicht, oder: Stufenverhältnis

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Die Instanzgerichte arbeiten nicht selten gern mit dem doch recht scharfen Schwert des § 230 Abs. 2 StPO und erlassen, wenn der Angeklagte in der Hauptverhandlung ausbleibt einen „Sitzungshaftbefehl“. „Scharfes Schwert“ deshlab, weil die Voraussetzungen des § 112 StPO nicht vorliegen müssen und auch § 121 StPO nicht gilt. So war dann auch das LG Berlin bei einem Angeklagten verfahren, der bei einer sich über mehrere Hauptverhandlungstage erstreckenden Hauptverhandlung an den ersten sechs Verhandlungstagen beanstandungsfrei erschienen war, bevor er sich am 7. Tag, dem 01.06.2016, um 20 Minuten verspätete. An der Tag verhängte das LG gegen ihn ein Ordnungsgeld in Höhe von 200 €, ersatzweise vier Tage Ordnungshaft, weil er „unentschuldigt verspätet erschienen“ war. Am nächsten Hauptverhandlungstag, dem 08.06.2016, erschien der Angeklagte zu der um 9.39 Uhr begonnenen Hauptverhandlung erneut verspätet, erst um 9.50 Uhr. Am 9. Verhandlungstag, dem 20.06.2016, blieb der Angeklagte in der Hauptverhandlung aus. Das LG stellte fest, dass eine Entschuldigung für das Ausbleiben nicht vorliege, worauf der Vertreter der StA beantragte, gegen den Angeklagten Ordnungshaft zu verhängen. Die Strafkammer beschloss nach einer kurzen Unterbrechung hingegen, das Verfahren gegen den Angeklagten abzutrennen und gegen diesen einen Haftbefehl nach § 230 Abs. 2 StPO zu erlassen, weil er „wiederholt (…) unentschuldigt verspätet bzw. nicht erschienen“ sei. In dem Sitzungshaftbefehl selbst ist zur Begründung der Haftanordnung lediglich ausgeführt, dass der Beschwerdeführer zur Hauptverhandlung am 20.06.2016 unentschuldigt nicht erschienen sei. Auf die Beschwerde des Angeklagten ist dann das KG mit der Sache befasst, das im KG, Beschl. v. 19.07.2016 – 4 Ws 104/16 – aufhebt und dabei sehr schön zum Stufenverhältnis der Maßnahmen nach § 230 Abs. 2 StPO Stellung nimmt:

„aa) Ein Haftbefehl nach § 230 Abs. 2 StPO mit dem damit verbundenen Eingriff in die persönliche Freiheit darf nur dann ergehen, wenn und soweit der legitime Anspruch der staatlichen Gemeinschaft auf vollständige Aufklärung der Tat und rasche Bestrafung des Täters anders nicht gesichert werden kann. Er dient allein der Verfahrenssicherung in Bezug auf die (weitere) Durchführung der Hauptverhandlung und hat nicht etwa den (Selbst-)Zweck, den Ungehorsam des Angeklagten zu sanktionieren (vgl. nur Becker in LR-StPO 26. Aufl., § 230 Rn. 14 mwN; auch Senat StraFo 2007, 291 [mit Blick auf die Besonderheiten des Strafbefehlsverfahrens]; ebenso LG Essen StraFo 2010, 28).

Zwischen den in § 230 Abs. 2 StPO vorgesehenen Zwangsmitteln besteht ein Stufenverhältnis, d.h. grundsätzlich ist zunächst zwingend das mildere Mittel – nämlich die polizeiliche Vorführung – anzuordnen. Nur dies wird dem verfassungsrechtlichen Gebot gerecht, dass bei einer den Bürger belastenden Maßnahme Mittel und Zweck im angemessenen Verhältnis zueinander stehen müssen (vgl. BVerfGK 9, 406 mwN; OLG Braunschweig NdsRpfl 2012, 313). Eine Verhaftung des Angeklagten ist mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht zu vereinbaren, wenn bei verständiger Würdigung aller Umstände die Erwartung gerechtfertigt ist, dass der Angeklagte zu dem (nächsten) Hauptverhandlungstermin erfolgreich vorgeführt werden kann (vgl. Sächs. VerfGH, Beschluss vom 26. März 2015 – Vf. 26-IV-14 – [juris] mwN).

Ohne eine Vorführung versucht zu haben, ist der Erlass eines Haftbefehls nur in seltenen Ausnahmefällen verhältnismäßig; ein solcher Fall liegt etwa dann vor, wenn feststeht, dass der Angeklagte auf keinen Fall erscheinen will (vgl. Senat, Beschluss vom 29. Juni 2012 – 4 Ws 69/12 –; LG Berlin ZJJ 2014, 47). Wenn das Gericht demgegenüber sofort zum Mittel des Haftbefehls greift, muss aus seiner Entscheidung deutlich werden, dass es eine Abwägung zwischen der polizeilichen Vorführung und dem Haftbefehl vorgenommen hat. Die Gründe, warum ausnahmsweise sofort die Verhaftung des Angeklagten angeordnet worden ist, müssen tragfähig sein und in dem Beschluss in einer Weise schlüssig und nachvollziehbar aufgeführt werden, dass sie in Inhalt und Umfang eine Überprüfung des Abwägungsergebnisses am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht nur für den Betroffenen selbst, sondern auch für das die Anordnung treffende Gericht im Rahmen seiner Eigenkontrolle gewährleisten. Von entsprechenden Darlegungen kann nur abgesehen werden, wenn die Nachrangigkeit des Freiheitsanspruchs offen zutage liegt und sich daher von selbst versteht (vgl. Sächs. VerfGH aaO, juris-Rz. 12; s. auch LG Dresden, Beschluss vom 29. Dezember 2006 – 3 Qs 155/06 – [juris] mwN).

bb) Diesen Anforderungen wird die angefochtene Entscheidung ersichtlich nicht gerecht. Lediglich die in unbekannter Besetzung ergangene Nichtabhilfeentscheidung enthält überhaupt Ausführungen zu der hier maßgeblichen Frage. Auch diese Entscheidung vermag den Anforderungen indessen nicht zu genügen, sondern erscheint eher als Versuch, den Erlass des Haftbefehls zu rechtfertigen. Mit dem Umstand, dass die aktenkundigen zwei Verspätungen des Beschwerdeführers kein großes Ausmaß hatten, und insbesondere mit deren Folgen auf den Verfahrensgang hat sich das Landgericht nicht befasst. Nicht erkennbar ist, dass sich das Gericht am 20. Juni 2016 mit der Möglichkeit einer Vorführung auseinandergesetzt hat. Auch ist nicht ersichtlich, dass die Strafkammer – anstelle der mit erheblichen Nachteilen verbundenen Abtrennung des Verfahrens – eine nur vorübergehende Abtrennung oder eine Verfahrensweise nach § 231 Abs. 2 StPO mit dem Ziel einer Fortführung – ggf. auch erst am nächsten Verhandlungstag – nach einer Vorführung des Beschwerdeführers erwogen und weshalb es diese Möglichkeiten verworfen hat. Zu bedenken ist ferner, dass im Rahmen der Verhältnismäßigkeit auch der bei einem Haftbefehl nach § 230 Abs. 2 StPO grundsätzlich bedeutungslose Umstand Gewicht gewinnt, in welchem Umfang der Anklage der Tatverdacht gegen den Angeklagten dringend ist und mit welcher Strafe der Angeklagte konkret zu rechnen hat (vgl. KG, Beschluss vom 2. Dezember 2002 – 5 Ws 652/02 –). Mit diesen Aspekten hat sich die Strafkammer ebenfalls nicht befasst. Dies war nicht etwa entbehrlich; hier dürfte nicht besonders nahe liegen, dass der wegen des Versuchs einer Strafvereitelung angeklagte und bislang lediglich mit einer Geldstrafe belangte Angeklagte mit einer so erheblichen Bestrafung zu rechnen hat, dass eine Beschäftigung mit dem Gesichtspunkt der Straferwartung überflüssig war.“

Also: Ganz so einfach ist es mit dem „scharfen Schwert“ nicht.