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Sitzungshaftbefehl II: LG Berlin – na bitte, geht doch

© Aleksandar Radovanov – Fotolia.com

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In meinem vorhin veröffentlichten Beitrag zum Sitzungshaftbefehl in Sachsen (vgl. Sitzungshaftbefehl I – zu schnell ging es in Sachsen – da hilft nur der VerfGH) hatte ich über den VerfGH Sachsen, Beschl. v. 17. 10 2013 – Vf. 40-IV-13 – berichtet, in dem der VerfGH Sachsen zwei Entscheidungen des LG Leipzig und des OLG Dresden, mit denen Rechtsmittel des Angeklagten gegen einen Sitzungshaftbefehl als unzulässig verworfen worden waren, gerügt hat. Dass es auch anders geht und man das Verfassungsgericht nicht braucht, zeigt der LG Berlin, Beschl. v. 10.10.2013 – 524 Qs 48/13.  Das LG sieht nicht nur die (nachträgliche) Beschwerde als zulässig an, sondern schreibt dem AG gleich auch noch einiges ins Stammbuch zum Erlass des Haftbefehls, nämlich:

Die gegen den Haftbefehl erhobene Beschwerde ist zulässig, obwohl das Strafverfahren rechtskräftig abgeschlossen und die angefochtenen gerichtlichen Entscheidungen bereits aufgehoben wurden. Denn bei tiefgreifenden Grundrechtseingriffen — wie im vorliegenden Fall in das der Freiheit — besteht ein berechtigtes Interesse d-es Betroffenen, klären zu lassen, ob dieser Eingriff rechtmäßig war. Eine Haftbeschwerde darf in solchen Fällen nicht wegen prozessualer Überholung als unzulässig verworfen werden; vielmehr ist die Rechtmäßigkeit der zwischenzeitlich erledigten Maßnahme zu prüfen und ggf. deren Rechtswidrigkeit festzustellen. (vgl. BVerfG, Beschluss vom 31. 10. 2005 — 2 BvR 2233/04). Diese Grundsätze gelten auch für den Haftbefehl nach § 230 Abs. 2 StPO (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 123. Februar 2001 — 1 Ws 33/01).

Das Rechtsmittel ist auch begründet. Denn der vom Amtsgericht Leipzig verhängte Haftbefehl war unverhältnismäßig. Zwar lagen im vorliegenden Fall die Voraussetzungen vor, nach denen Zwangsmittel gemäß § 230 StPO gegen den nicht erschienenen Angeklagten verhängt werden durften. Denn er war – wie dieser selbst vorträgt – ordnungsgemäß geladen. Er hatte den Gerichtstermin versäumt, weil er ihn „vergessen“ hatte. Jedoch besteht zwischen den in § 230 Abs. 2 StPO vorgesehenen Zwangsmitteln ein Stufenverhältnis, d.h. grundsätzlich ist zunächst das mildere Mittel — nämlich die polizeiliche Vorführung – anzuordnen. Ohne diese versucht zu haben, ist der Erlass eines Haftbefehls nur in seltenen Ausnahmefällen verhältnismäßig; ein solcher liegt etwa dann vor, wenn feststeht, dass der Angeklagte auf keinen Fall erscheinen will (vgl. KG Beschluss vom 29. Juni 2012 — 4 Ws 69/12).

Wenn ein Gericht sofort zum Mittel des Haftbefehls greift, muss aus der Entscheidung deutlich werden, dass es eine Abwägung zwischen polizeilicher Vorführung und Haftbefehl vorgenommen hat. Die Gründe, warum ausnahmsweise sofort die Verhaftung des Angeklagten angeordnet worden ist, müssen in dem Beschluss aufgeführt werden. Das Amtsgericht hat seinerzeit keinerlei Abwägung vorgenommen. Dies hätte sich hier bereits deshalb aufgedrängt, weil der Beschwerdeführer zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung noch Heranwachsender war. Es ist in dieser Altersgruppe ein nicht selten anzutreffender Umstand, dass Termine verschlampt oder vergessen werden, ohne dass dahinter eine grundsätzliche Ablehnung des Gerichtsverfahrens stehen würde. Dies müsste jedem Jugendrichter aus der täglichen Praxis hinlänglich bekannt sein.

Der angefochtene Haftbefehl leidet aber nicht nur an einem Erörterungsmangel. Aus dem Akteninhalt ergibt sich darüber hinaus auch, dass die Anordnung der Haft nicht rechtmäßig war. Denn der Angeklagte war durchaus willens, an der Hauptverhandlung teilzunehmen: Bereits am 7. März 2007 hatte er telefonisch mitgeteilt, dass er die Anklageschrift erhalten habe. Er sei unschuldig (vgl. Bd. II, 245). Auch auf die Ladung reagierte er am 4. Juni 2007 telefonisch. Er bat darum, auf seine Schwester, die als Zeugin geladen worden war, zu verzichten, da er das in ihr Wissen Gestellte bestätigen könne. Außerdem bat er um einen Gesprächstermin bei der zuständigen Richterin (vgl. Bd. II, 249). Bereits aus diesen beiden Telefonaten wird ersichtlich, dass das Gericht nicht davon ausgehen durfte, dass der Angeklagte auf keinen Fall zu einem Termin erscheinen würde. Spätestens der Anruf vom 9. Juni 2008, in dem der Angeklagte noch einmal deutlich bekräftigte, dass er zu einem neuen Hauptverhandlungstermin auf jeden Fall – erscheinen würde, hätte das Amtsgericht veranlassen müssen, seinen Haftbefehl aufzuheben.“

Na bitte, Geht doch.

Sitzungshaftbefehl I – zu schnell ging es in Sachsen – da hilft nur der VerfGH

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Etwas schnell bei der Hand mit der (nachträgliche) Verwerfung einer Beschwerde gegen einen 230-iger Haftbefehl waren das LG Leipzig und das OLG Dresden. Da war der Angeklagte einem für den 08.08.2011 anberaumten  Hauptverhandlungstermin ferngeblieben. Das AG hatte daraufhin Sitzungshaftbefehl gem. § 230 Abs. 2 StPO gegen den ihn erlassen. Der Angeklagte wurde am 02.09.2011 festgenommen und dem AG Tiergarten zur Verkündung des Haftbefehls vorgeführt. Am 16.09.2011 wurde er dem AG Leipzig zur Vernehmung vorgeführt. Nach der Vernehmung ging das AG Leipzig unmittelbar in die Hauptverhandlung über und verurteilte den Beschwerdeführer am selben Tag – nicht rechtskräftig – zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 8 Monaten, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Zugleich hob das AG den Haftbefehl auf. Am 19.09.2011 legte der Beschwerdeführer gegen den Haftbefehl des AG Leipzig v Beschwerde ein. Mit Beschluss vom 24. 10. 2011 verwarf das LG Leipzig die Beschwerde gegen den Haftbefehl als unzulässig. Die Beschwerde sei nicht zulässig erhoben worden, weil sie zu einem Zeitpunkt eingelegt worden sei, zu dem der Beschwerdeführer bereits aus der Haft entlassen und der angegriffene Haftbefehl aufgehoben worden sei. Der Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit sei auch unter dem Aspekt der Gewährung effektiven Rechtsschutzes und bei Berücksichtigung der Rechtsprechung des BVerfG nicht zu bescheiden. Nachdem der Beschluss des LG dem Beschwerdeführer zunächst nicht zugestellt werden konnte, legte dieser gegen den Beschluss dann weitere Beschwerde ein. Das OLG Dresden hat diese als unzulässig verworfen, weil der Beschwerdeführer seine weitere Beschwerde nahezu zehn Monate nach Erlass des angefochtenen Beschlusses eingelegt habe.

Beide Begründungen halten beim VerfGH Sachsen nicht. Der führt im VerfGH Sachsen, Beschl. v. 17. 10 2013 – Vf. 40-IV-13 – aus:

„… Während vormals generell eine nachträgliche gerichtliche Klärung schwerwiegender Grundrechtseingriffe verfassungsrechtlich davon abhängig gemacht wurde, dass deren direkte Belastung sich auf eine Zeitspanne beschränkt, in der der Betroffene die gerichtliche Entscheidung in dem von der maßgeblichen Prozessordnung vorgesehenen Verfahren kaum erlangen kann, wird mittlerweile im Hinblick auf das bei Freiheitsentziehungen bestehende Rehabilitierungsinteresse dem konkreten Ablauf des Verfahrens, dem Zeitpunkt der Erledigung der Maßnahme oder der Frage, ob Rechtsschutz typischerweise noch vor Beendigung der Haft erlangt werden kann, keine Bedeutung für die gebotene Gewährung von Rechtsschutz mehr beigemessen (BVerfG, Beschluss vom 31. Oktober 2005, BVerfGK 6, 303 [309] m.w.N.; Beschluss vom 5. Dezember 2001, BVerfGE 104, 220 [235]; Beschluss vom 13. März 2002, NJW 2002, 2701; vgl. SächsVerfGH, Beschluss 27. August 2013 – Vf. 61- IV-13 [HS]/Vf. 62-IV-13 [e.A.]). Das Rechtsmittel darf in solchen Fällen nicht als unzulässig verworfen werden; vielmehr ist die Rechtmäßigkeit der zwischenzeitlich erledigten Maßnahme zu prüfen und gegebenenfalls deren Rechtswidrigkeit festzustellen (BVerfG, Beschluss vom 31. Oktober 2005, BVerfGK 6, 303 [309], m.w.N.).

bb) Das Oberlandesgericht und das Landgericht haben bei ihren Entscheidungen verkannt, dass nach diesen verfassungsrechtlichen Maßstäben ein schutzwürdiges Interesse an der nachträglichen Feststellung der Rechtswidrigkeit eines solch schwerwiegenden Grundrechtseingriffs wie einer Freiheitsentziehung aufgrund eines Sitzungshaftbefehls regelmäßig auch nach dessen Erledigung und unabhängig davon besteht, ob der Betroffene Rechtsschutz tatsächlich auch vor Beendigung der Haft hätte erlangen können.

Und das OLG bekommt noch einen weiteren „Rüffel“:

„aa) Das Rechtsschutzbedürfnis kann – auch bei an sich unbefristeten Anträgen – entfallen, wenn die verspätete Geltendmachung eines Anspruchs gegen Treu und Glauben verstößt, etwa weil der Berechtigte sich verspätet auf das Recht beruft und unter Verhältnissen untätig geblieben ist, unter denen vernünftigerweise etwas zur Wahrung des Rechts unternommen zu werden pflegt. Das öffentliche Interesse an der Wahrung des Rechtsfriedens kann in derartigen Fällen verlangen, die Anrufung des Gerichts nach langer Zeit untätigen Zuwartens als unzulässig anzusehen.Gleichwohl darf hierdurch der Weg zu den Gerichten nicht in unzumutbarer Weise erschwert werden (BVerfG, Beschluss vom 4. März 2008, BVerfGK 13, 382 [388], m.w.N.; Beschluss vom 26. Januar 1972, BVerfGE 32, 305 [308 f.]).

bb) Diesen Anforderungen hat das Oberlandesgericht nicht Rechnung getragen. Der Zeitraum von etwa zehn Monaten, der zwischen der Übermittlung der landgerichtlichen Beschwerdeentscheidung und dem Einlegen der weiteren Beschwerde verstrichen sei, weist für sich betrachtet keine derart lange Dauer auf, dass nach den Umständen dieses Einzelfalls nicht mehr damit zu rechnen gewesen wäre, dass der Beschwerdeführer von der weiteren Beschwerde Gebrauch macht (vgl. BVerfG, Beschluss vom 4. März 2008, BVerfGK 13, 382 [389 f.]). Gemessen daran lässt sich den Ausführungen des Oberlandesgerichts nicht entnehmen, weshalb das Rechtsschutzbedürfnis des Beschwerdeführers entfallen sein sollte. Auch der weitere Umstand, dass die Beschwerde zunächst nicht begründet wurde, vermag ein Vertrauen in die Wahrung des Rechtsfriedens durch die Beschwerdeentscheidung schon deshalb nicht zu stützen, weil der Beschwerdeführer ausdrücklich eine Begründung nach Einsicht in die Verfahrensakten angekündigt hatte, ihm die beantragte Akteneinsicht jedoch erst – nach der Bestellung einer Pflichtverteidigerin – am 20. März 2012 über seine Verteidigerin gewährt wurde….“