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StPO III: Strafvollstreckungsverfahren. oder: Absehen von der mündlichen Anhörung des Sachverständigen?

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Und zum Schluss dann noch der KG, Beschl. v. 09.09.2019 – 2 Ws 141/19. Der Beschluss ist „uralt“ 🙂 , er ist mir leider immer wieder durchgegangen. Heute dann aber 🙂 .

Der Beschluss verhält sich zur Pflicht zur Anhörung des Sachverständigen gemäß § 454 Abs. 2 Satz 3 StPO im Strafvollstreckungsverfahren. Das LG hatte die Fortdauer der Unterbringung des Untergebrachten angeordnet, und zwar ohne mündliche Anhörung des Sachverständigen. Dagegen dessen sofortige Beschwerde, die Erfolg hatte:

„1. Die angefochtene Entscheidung leidet an einem wesentlichen Verfahrensfehler, der zu ihrer Aufhebung und zur Zurückverweisung der Sache an die Strafvollstreckungskammer führt. Denn rechtsfehlerhaft wurde der mit der Begutachtung des Beschwerdeführers beauftragte Sachverständige nicht zur Frage der Fortdauer der Unterbringung mündlich angehört.

Gemäß §§ 463 Abs. 1 Satz 1, 454 Abs. 2 Satz 3 StPO ist (auch) der beauftragte Sachverständige regelmäßig mündlich anzuhören. Die Verpflichtung, diesen mündlich zu hören, dient nicht nur der Verwirklichung des Anspruchs des Untergebrachten auf rechtliches Gehör, sondern soll vor allem die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer vorbereiten und ihre materielle Richtigkeit (gestützt auf aktuelles, geprüftes Expertenwissen) gewährleisten (vgl. Senat, Beschluss vom 14. August 2013 – 2 Ws 395/13 –). Die mündliche Erörterung des Sachverständigengutachtens in Anwesenheit der Verfahrensbeteiligten soll diesen Gelegenheit zur Mitwirkung im Anhörungstermin bieten und insbesondere ermöglichen, das Sachverständigengutachten eingehend zu diskutieren, das Votum des Sachverständigen zu hinterfragen und zu dem Gutachten Stellung zu nehmen (vgl. OLG Nürnberg, Beschluss vom 31. Januar 2013 – 2 Ws 17/13 –, juris; Graalmann-Scheerer in Löwe-Rosenberg, 26. Aufl. § 454 Rn. 66). Nur durch seine mündliche Anhörung kann der Zweck dieser Bestimmung, die wichtigste Entscheidungsgrundlage eingehend zu diskutieren und zu hinterfragen (vgl. OLG Koblenz, Beschluss vom 21. Februar 2007 – 1 Ws 85/07 –, juris = StraFo 2007, 302), erreicht werden.

Zwar sieht § 454 Abs. 2 Satz 4 StPO die Möglichkeit vor, dass das Gericht von der mündlichen Anhörung des Sachverständigen absehen kann. Dies gilt jedoch nur dann, wenn der Untergebrachte, sein Verteidiger und die Staatsanwaltschaft (ausdrücklich) darauf verzichten. Diese Voraussetzungen waren vorliegend jedoch nicht erfüllt. Bei Nichtanhörung des Sachverständigen trotz Fehlens eines solchen Verzichts liegt ein wesentlicher Verfahrensmangel vor (vgl. OLG Koblenz, Beschluss vom 4. Januar 2001 – 1 Ws 809/00 –, juris = StV 2001, 304).

Vorliegend bat der Vorsitzende der Strafvollstreckungskammer die Verfahrens-beteiligten nach Eingang des schriftlichen Gutachtens mit Schreiben vom 5. Juli 2019 um Mitteilung, ob auf die mündliche Anhörung des Sachverständigen verzichtet werde. Hierauf erklärte indes lediglich die Staatsanwaltschaft diesen Verzicht. Der Verteidiger teilte hingegen mit, dass er sowie der Untergebrachte „ungern auf eine mündliche Anhörung des Sachverständigen verzichten, dies aber durch das Gericht entscheiden lassen“ würden.

Dass der Untergebrachte und sein Verteidiger sodann an dem Termin teilnahmen und die fehlende Anwesenheit des Sachverständigen nicht rügten, stellt sich nicht als konkludenter Verzicht iSd. § 454 Abs. 2 Satz 4 StPO dar (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, 62. Aufl. § 454 Rn. 37d).

Entsprechend einer handschriftlichen Ergänzung des Terminsvermerks erklärte zwar der Verteidiger in dem Anhörungstermin am 2. August 2019, auf die Anhörung des Sachverständigen zu verzichten. Jedoch fehlt es an einem ausdrücklichen Verzicht des Untergebrachten. Das bloße Schweigen des Untergebrachten stellt keinen wirksamen Verzicht auf die mündliche Anhörung des Sachverständigen dar und auch die Verzichtserklärung des Verteidigers ersetzt diejenige des Untergebrachten grundsätzlich nicht. Soweit der Untergebrachte, sein Verteidiger und die Staatsanwaltschaft auf die mündliche Anhörung des Sachverständigen verzichten, muss ihre Erklärung eindeutig sein. Verbleiben Zweifel, ob eine Verzichtserklärung eindeutig und wirksam ist, so ist der Sachverständige mündlich zu hören (vgl. Graalmann-Scheerer in Löwe-Rosenberg, aaO Rn. 63).

2. Der aufgezeigte Verfahrensfehler muss zur Zurückverweisung an die Strafvollstreckungskammer führen, da der Senat nicht nach § 309 Abs. 2 StPO in der Sache selbst entscheiden kann (vgl. Senat aaO; OLG Nürnberg NStZ-RR 2004, 318; Meyer-Goßner/Schmitt, aaO § 309 Rn. 8 mwN). Zwar kann das rechtliche Gehör grundsätzlich im Beschwerdeverfahren nachgeholt werden. Jedoch stellt das Unterlassen einer – wie hier – zwingend vorgeschriebenen mündlichen Anhörung des Sachverständigen einen im Beschwerderechtszug nicht heilbaren Verfahrensmangel dar (vgl. Senat aaO; KG, Beschluss vom 18. August 2014 – 5 Ws 2/14 –). Die Strafvollstreckungskammer wird deshalb nun eine erneute Anhörung des Untergebrachten und des Sachverständigen durchzuführen und in der Sache neu zu entscheiden haben.“

Wenn die Rechtsschutzversicherung einen bestimmten SV wünscht, oder: Nicht mit dem BGH

Im samstäglichen „Kessel Buntes“ verweise ich dann heute zunächst auf das BGH, Urt. v. 14.08.2019 – IV ZR 279/17, das in einem Verfahren gegen einen Rechtsschutzversicherer ergangen ist.Der Kundige sieht: Tiefstes Versicherungsrecht, aber mit straßenverkehrsrechtlichem Einschlag und/oder straßenverkehrsrechtlicher Bedeutung.

In der Sache ging es nämlich um Folgendes: Der Kläger hat die beklagte Rechtsschutzversicherung auf Freistellung von Vergütungsansprüchen eines Sachverständigen in Anspruch genommen. Der Kläger ist mitversicherte Person eines bei der Beklagten unterhaltenen Rechtsschutzversicherungsvertrages. Dem Vertrag liegen unstreitig die Allgemeinen Bedingungen für die Rechtsschutzversicherung 2010 (im Folgenden: ARB) zugrunde, in denen in § 17 das Verhalten nach Eintritt eines Rechtsschutzfalls geregelt ist.

Nachdem gegen den Kläger ein Bußgeldbescheid wegen eines Abstandsverstoßes ergangen war, beauftragte er einen Rechtsanwalt mit seiner Verteidigung. Dieser erbat von der Beklagten eine Kostendeckungszusage für ein Sachverständigengutachten, welche die Beklagte erteilte, und zwar wie folgt: „Sehr geehrter Herr Rechtsanwalt …,bedingungsgemäß bestätigen wir Kostenschutz für ein Sachverständigengutachten. Bitte beauftragen Sie hiermit die…Sachverständigengesellschaft …Bitte betrachten Sie dieses als Weisung im Sinne unserer Versicherungsbedingungen und des VVGs!

Der anwaltliche Vertreter des Klägers beauftragte einen anderen Sachverständigen, der 711,80 € brutto berechnete. Die Beklagte erstattete 500 €. Zur Freistellung von der darüber hinausgehenden Vergütung sah sie sich nicht verpflichtet, weil bei Beauftragung der von ihr benannten Sachverständigengesellschaft lediglich eine Vergütung von 400 € netto angefallen wäre. Mit seiner Klage hat der Kläger die Verurteilung der Beklagten zur Freistellung von den restlichen Gutachterkosten in Höhe von 211,80 € nebst Zinsen beantragt. Damit hatte er weder beim AG noch beim LG Erfolg. Die Revision hatte Erfolg.

Der BGH macht in seinem Urteil einige Ausführungen zu einem von der Beklagten – die noch in der Revisionsinstanz anerkannt hatte – beantragten Anerkenntnisurteil. Damit befassen sich die Ziffern 1 und 2 der amtlichen Leitsätze. Die Ziffern 3 und 4 befassen sich mit der Sachfrage

1. Die Regelung des § 555 Abs. 3 ZPO ist nicht auf Fälle beschränkt, in denen das Anerkenntnis erst nach Beginn der mündlichen Revisionsverhandlung erklärt worden ist.

2. Besteht der Kläger nach Anerkenntnis der beklagten Partei im Revisionsverfahren auf einer streitigen Entscheidung, unterliegt der Vortrag der beklagten Partei, sie habe die Klageforderung nach Erlass des Berufungsurteils erfüllt, gemäß § 559 Abs. 1 Satz 1 ZPO nicht der Beurteilung des Revisionsgerichts. Das gilt auch dann, wenn die Erfüllung unstreitig ist.

3. Die Schadensminderungsklausel des § 17 Abs. 1 c) bb) der Allgemeinen Bedingungen für die Rechtsschutzversicherung (ARB 2010) ist intransparent.

4. Die Zurechnungsklausel des § 17 Abs. 7 ARB 2010 benachteiligt den Versicherungsnehmer unangemessen.

Mit der Entscheidung dürfte dann wohl die Praxis der Rechtsschutzversicherungen, Weisungen hinsichtlich der Beauftragung von Sachverständigen zu erteilen, erledigt sein. Wird die RSV und deren „Haus-und-Hof-Sachverständigen“ – wenn man sie so nennen will – nicht freuen.

<<Werbemodus an >> „Miterstritten“ hat das Urteil übrigens die VUT aus Saarbrücken. Deren Geschäftsführer Herr H.-P. Grün ist Mitherausgeber des Buches „Messungen im Straßenverkehr“, dessen 5. Auflage kurz vor dem Erscheinen steht (zur Vorbestellung geht es hier); die VUT hatte ja auch schon vor ein paar Tagen auf dieses Urteil in ihrem Newsletter hingewiesen. Und deshalb das Bild 🙂 <<Werbemodus aus>>

Wenn der Sachverständige in der HV schläft, oder: Befangen

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Die zweite Entscheidung kommt vom LG Aurich. Das hat im LG Aurich, Beschl. v. 20.05.2019 – 13 KLs 410 Js 30859/18 (1/19) – in einem Verfahren wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern das Ablehnungsgesuch gegem einen Sachverständigen für begründet erachtet. Grund: Der Sachverständige hat während der Vernehmung eines Zeugen geschlafen:

„Das Ablehnungsgesuch des Angeklagten gegen den Sachverständigen ist erfolgreich. Die Voraussetzungen des§ 74 II StPO liegen vor. Danach kann ein Sachverständiger aus denselben Gründen, die zur Ablehnung eines Richters berechtigen, abgelehnt werden. Gründe, die beim Angeklagten die Besorgnis begründen, der Sachverständige stehe ihm nicht mehr unvoreingenommen gegenüber, liegen vor. Der Sachverständige hat während der Vernehmung des Zeugen pp. zeitweise geschlafen. Dass der Sachverständige dies in seiner Stellungnahme vom 15.05.2019 auf eine Müdigkeitsphase sowie eine Atemwegserkrankung zurückführt und er sich auch beim Angeklagten entschuldigt hat, vermag die Besorgnis der Befangenheit nicht auszuräumen. So kommt es nicht darauf an, ob der Sachverständige tatsächlich befangen ist, sondern auf den objektiven Empfängerhorizont des Angeklagten. Aus Sicht eines verständigen Angeklagten kann bei einem zeitweise schlafenden Sachverständigen durchaus der Eindruck entstehen, dieser nehme das Verfahren nicht hinreichend ernst, zumal im Falle eines Schuldspruchs die Verhängung erheblicher Rechtsfolgen wie einer Unterbringung in der Sicherungsverwahrung gegen den Angeklagten zu prüfen sein wird.“

Insolvenzstrafverfahren, oder: Akteneinsicht des „Gutachters“ in die Sachakten?

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Heute dann mal ein Kessel Buntes in der Woche. „Kessel Buntes“ deshlab, weil sich die die Entscheidungen, die ich heute vorstellen werde, nicht unter eine gemeinsame Thematik packen lassen.

Ich starte mit dem OLG Braunschweig, Beschl. v. 29.04.2019 – 1 Ws 9/19. Es geht um Akteneinsicht im Insolvenzstrafverfahren. Über die dem OLG-Beschluss zugrunde liegende Verfügung des Vorsitzenden der Strafkammer hatte ich bereits berichtet (vgl. hier die LG Braunschweig, Vfg. v. 07.11.2018 – 16 KLs 5/17 und dazu Akteneinsicht des Sachverständigen eines Insolvenzverfahrens?, oder: Die wird gewährt).

Das OLG hat die die Akteneinsicht des Rechtsanwalts, der im Insolvenzverfahren mit der Erstellung eines Gutachtens zur Frage der drohenden Zahlungsunfähigkeit beauftragt ist, (ebenfalls) bejaht:

Die Gewährung der beantragten Akteneinsicht in die gesamte Verfahrensakte nebst der in der angefochtenen Entscheidung bezeichneten Asservate ist rechtmäßig, da Rechtsanwalt pp. als Gutachter im Insolvenzeröffnungsverfahren über das Vermögen der pp. zur Erfüllung des ihm durch das Insolvenzgericht erteilten Auftrags Einsicht in diese Unterlagen benötigt (§§ 475 Abs. 1 S. 1. Abs. 2 StPO).

 

Dem durch Beschluss des Amtsgerichts Braunschweig – Insolvenzgericht – vom der pp. bestellten Rechtsanwalt pp. steht das gemäß § 475 Abs. 1 S. 1 StPO erforderliche berechtigte Interesse zu, das er durch Übersendung des Beschlusses nachgewiesen hat. Mehr als den durch Übersendung des Bestellungsbeschlusses erbrachten Nachweis seiner Bestellung sowie die Angabe, auf die beschlagnahmten Unterlagen zur Erfüllung seiner Pflicht gegenüber dem Insolvenzgericht angewiesen zu sein, kann dem zum Sachverständigen bestellten Rechtsanwalt pp. zur Darlegung des berechtigten Interesses nicht abverlangt werden. Hierbei ist nämlich zu beachten, dass dem Sachverständigen in diesem Verfahren eine konkretisierende Darstellung regelmäßig ohne die Kenntnis der Akten, in die er Ein-sicht begehrt, nicht möglich ist (OLG Köln, Beschl. v. 16.10.2014, 2 Ws 396/14, juris, Rn. 10).

Als gemäß § 5 Abs. 1 InsO gerichtlich bestellter Gutachter im Insolvenzverfahren hat er das Vorliegen von Tatsachen zu prüfen, die den Schluss auf (drohende) Zahlungs-unfähigkeit der Insolvenzschuldnenn, hier: pp. rechtfertigen und – falls dies der Fall sein sollte -, ob eine die Verfahrenskosten deckende Masse vorhanden ist und ob vorläufige Anordnungen zur Massesicherung erforderlich sind. Hierzu ist eine Auswertung der beschlagnahmten Geschäftsunterlagen der vonnöten.

Die weiteren Voraussetzungen von § 475 Abs. 2 StPO, der eine Ausnahme zu der Regel in § 475 Abs. 1 StPO beinhaltet, sind ebenfalls erfüllt. Danach kann unter den Voraussetzungen des Absatzes 1 Akteneinsicht gewährt werden, wenn die Erteilung von Auskünften einen unverhältnismäßigen Aufwand erfordern oder nach Darlegung desjenigen, der Akteneinsicht begehrt, zur Wahrnehmung berechtigter Interessen nicht ausreichen würde. Aufgrund des Umfangs der beschlagnahmten Unterlagen wäre eine Beschränkung auf die Erteilung lediglich von Auskünften mit einem für die Justizorgane nicht hinnehmbaren Aufwand verbunden. § 475 Abs. 2 Alt. 1 StPO trägt diesem Umstand Rechnung. Darüber hinaus liegen auch die Voraussetzungen der zweiten Alternative der Vorschrift vor. Die Erteilung einzelner Auskünfte würde zur Wahrnehmung des berechtigten Interesses nicht genügen. Nach dem Ergebnis der Ermittlungen war der Angeklagte faktischer Geschäftsführer nicht nur der «Ob sondern darüber hinaus auch noch anderer Gesellschaften. Die Aufgabe der die Aufgabe der Kundenakquise beschränkt haben. Dem Asservatenverzeichnis lässt sich entnehmen, dass Unterlagen nicht nur betreffend die pp., sondern auch bezüglich weiterer Gesellschaften, bei denen der Angeklagte faktischer Geschäftsführer gewesen sein soll. sichergestellt worden sind. Teilweise befanden sich Unterlagen, die verschiedene Gesellschaften betreffen, in einem Ordner. Soweit der Sachverständige drei Sparbücher gesondert erwähnt, ist unklar, welcher der Gesellschaften sie zuzuordnen sind. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass der durch das Gericht bestellte Sachverständige im Insolvenzeröffnungsverfahren nicht nur im Interesse einer Privatperson, sondern auch für die Rechtspflege tätig wird und seinem Interesse daher ein vergleichbares Gewicht beizumessen ist wie dem Interesse einer Justizbehörde, die nach § 474 Abs. 1 StPO Akteneinsicht verlangen kann (OLG Braunschweig, Beschl. v. 10.03.2016, 1 Ws 56/16, juris, Rn. 12; OLG Dresden, Beschl. v. 04.07.2013, 1 Ws 53/13, juris, Rn. 8).

Dem berechtigten Interesse des Sachverständigen auf Einsicht in die gesamte Verfahrensakte nebst der in der angefochtenen Entscheidung bezeichneten Asservate steht bei der gebotenen Abwägung kein schutzwürdiges Interesse des Angeklagten an der Versagung der Akteneinsicht gemäß § 475 Abs. 1 S. 2 StPO entgegen. Soweit sich der Angeklagte auf die Entscheidung des Landgerichts Hamburg vom 19.06.2018 (Az. 618 Qs 20/18) beruft. verhält sich diese nicht zu der Frage der Akteneinsicht für die Erstellung eines Sachverständigengutachtens im Rahmen des Insolvenzeröffnungsverfahrens.

Vor dem Hintergrund der erheblichen Bedeutung der ordnungsgemäßen Durchführung von Insolvenzverfahren besteht im Ergebnis kein Vorrang des Rechts des Angeklagten auf informationelle Selbstbestimmung gegenüber dem Akteneinsichtsinteresse des Sachverständigen, zumal auch Letzterer im Insolvenzeröffnungsverfahren gemäß § 203 Abs. 2 Nr. 5 StGB zur Verschwiegenheit verpflichtet ist.“

Akteneinsicht des Sachverständigen eines Insolvenzverfahrens?, oder: Die wird gewährt

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Und als letzte Entscheidung des Tages dann die LG Braunschweig, Vfg. v. 07.11.2018 – 16 KLs 5/17. Es geht um das Akteneinsichtsrecht eines Sachverständigen aus einem Insolvenzverfahren in die Verfahrensakten eines Strafverfahrens. Der Vorsitzende hat in seiner Verfügung ein Akteneinsichtsrecht bejaht und dem Sachverständigen Akteneinsicht durch Übersendung eines verschlüsselten Datenträgers mit der Verfahrensakte des LG Braunschweig gewährt.

1. Die Gewährung von Akteneinsicht in die gesamte Verfahrensakte basiert auf § 475 Abs. 2 StPO.

Da die PP. im vorliegenden Fall nicht verfahrenszentral ist, hat die Kammer keine Kenntnis darüber, ob das Stammkapital bei Eintragung in das Handelsregister vorhanden gewesen ist. Insofern ist die reine Erteilung einer Auskunft aus den Akten unverhältnismäßig, weil der gesamte Verfahrensstoff auf Bezüge zur PP. durchgearbeitet werden müsste.

Gleiches gilt für die Frage, ob sich in den Unterlagen die dazugehörigen Kontoauszüge und Belege betreffend die PP. befinden.

Der Zeuge PP. gab auf Seite 2 seiner Vernehmung vom 03.04.2014 an, dass die PP. GmbH oder die PP. sein Arbeitgeber gewesen sei, dass er bei der PP. GmbH Geschäftsführer gewesen sei und dass die Firma umbenannt worden sei. Ferner befindet sich in der Akte ein Handelsregisterauszug der PP. (Bd. I, BI. 276 d.A.) sowie ein Durchsuchungsbeschluss des Amtsgerichts Braunschweig vom 02.04.2014 (Az.: 7 Gs 830/14) betreffend die PP. Eine Beurteilung der Frage, welche dieser Informationen für den Sachverständigen von Relevanz sind, ist der Kammer ohne unzumutbare weitere Ermittlungen im verfahrensfremden Insolvenzverfahren 273 IN 86/18a nicht möglich. Vielmehr obliegt es dem in diesem Verfahren bestellten Sachverständigen, die für ihn relevanten Tatsachen selbst herauszuarbeiten.

Es bestehen keine Bedenken gegen die Akteneinsicht dem Grunde nach. Nach der h.M. ist der im Insolvenzverfahren bestellte Sachverständige zu einer umfassenden Einsicht in die Strafakten berechtigt, wenn sich daraus Hinweise dazu ergeben können, ob Ansprüche mit Bezug zum Insolvenzschuldner bestehen (OLG Braunschweig, Beschluss vom 10.03.2016, Az.: 1 Ws 56/16 = NJW 2016, 1834; OLG Dresden, ZVI 2014, 145). Nach dem Akteninhalt erscheint es möglich, dass im Zusammenhang der PP. Summen bewegt wurden, ohne dass diese Geschäftsvorgänge so dokumentiert wurden, dass sie von einem Dritten innerhalb angemessener Zeit nachvollzogen werden können (§§ 238 Abs. 1 S. 2 u. 3, 6 Abs. 1 HGB, § 13 Abs. 3 GmbHG). Wenn der im Insolvenzverfahren bestellte gerichtliche Sachverständige nach dem Inhalt seiner Antragsbegründung schon nicht feststellen kann, ob überhaupt das Stammkapital eingezahlt wurde, so muss davon ausgegangen werden, dass möglicherweise auch Anhaltspunkte dafür vorhanden sind, dass Regressansprüche gegen Dritte aus bisher nicht aufgeklärten Vorfällen bestehen könnten. Nach Nr. 2 des Beschlusses des Amtsgerichts Braunschweig vom 05.04.2018 hat der Sachverständige auch Angaben über mögliche Forderungen gegen Dritte und deren Realisierbarkeit zu machen. In diesem Falle ist die Gewährung uneingeschränkter Akteneinsicht rechtmäßig, weil sie der Erfüllung des gerichtlichen Gutachtenauftrages dient (OLG Dresden, ZVI 2014, 145).

Da der Antragsteller im vorliegenden Fall Sachverständiger und nicht Insolvenzverwalter ist, bedarf auch die dogmatische Frage, ob das Akteneinsichtsrecht des Insolvenzverwalters weiterreichen kann als das der Insolvenzschuldnerin, hier keiner Entscheidung. Als gerichtlich bestellter Sachverständiger ist der Antragsteller „Gehilfe des Gerichts“, hier des Amtsgerichts Braunschweig – Insolvenzabteilung -, nicht aber der Masse.

Das erforderliche Interesse an der Akteneinsicht ist durch Vorlage des Beschlusses über die Bestellung zum Sachverständigen (hier: Bd. IV, BI 277 der Akte) hinreichend dargelegt (OLG Dresden, ZVI 2014, 145).

Bei der Entscheidung über die Akteneinsicht und der Auslegung von § 475 StPO ist ferner zu berücksichtigen, dass der durch das Gericht bestellte Sachverständige im Insolvenzeröffnungsverfahren nicht nur im Interesse einer Privatperson, sondern auch für die Rechtspflege tätig wird und seinem Interesse daher ein vergleichbares Gewicht beizumessen ist wie dem Interesse einer Justizbehörde, die nach § 474 Abs. 1 StPO Akteneinsicht verlangen kann (OLG Braunschweig, aaO). Daher ist auch ein möglicher Rückgriff auf die Rechtsprechung und Kommentierung zum Akteneinsichtsrecht nach § 406e StPO hier nicht angebracht.

2. Die Gewährung von Akteneinsicht in die Asservate beruht auf § 275 Abs. 3 i.V.m. Abs. 2 StPO. Die Entscheidung über die Akteneinsicht in die Asservate wird von den oben genannten Erwägungen getragen.

3. Auch nach einer umfassenden Güter- und Interessenabwägung ist dem Sachverständigen PP. Akteneinsicht zu gewähren. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass das Insolvenzverfahren nicht nur im Privatinteresse von Gläubigern und Schuldnern durchgeführt wird. Vielmehr besteht ein besonderes öffentliches Interesse an der ordnungsgemäßen Abwicklung von Insolvenzverfahren (Wozniak, jurisPR-InsR 14/2017, Anm. 5).

Bei der Entscheidung über das Akteneinsichtsgesuch wurde nicht aus dem Blick gelassen, dass sich im hier vorliegenden Fall das Insolvenzverfahren nicht das Vermögen der Angeklagten oder das Vermögen möglicherweise Geschädigter betrifft. Den Angeklagten erscheint eine Einsicht des Sachverständigen in die Verfahrensakten und Asservate zumutbar. Denn dem im öffentlichen Interesse geltend gemachten Akteneinsichtsgesuch des Sachverständigen stehen keine schutzwürdigen Interessen der Angeklagten gegenüber. Vor dem Hintergrund der erheblichen Bedeutung der ordnungsgemäßen Durchführung von Insolvenzverfahren besteht kein Vorrang des Rechts des Angeklagten auf informationelle Selbstbestimmung gegenüber dem Akteneinsichtsinteresse des Antragstellers (OLG Braunschweig, aaO). Denn dass hier – beispielsweise nach § 475 Abs. 1 S. 2 StPO schutzwürdige – Interessen wie der Schutz der Intimsphäre oder von bestimmten Geschäfts- und Betriebsgeheimnissen betroffen seien könnten, ist nicht ersichtlich.

§§ 474, 475 StPO sind Spezialvorschriften zum allgemeinen Datenschutzrecht und verdrängen dieses im Rahmen ihres Anwendungsbereiches.

4. Der Beschluss des LG Hamburg vom 19.06.2018, Az.: 618 Qs 20/18 = StraFo 2018, 438 ist vorliegend nicht einschlägig. Denn im dortigen Fall ging es darum, dass der Beschwerdeführer ein Altgläubiger war, der im privaten Interesse Forderungen verfolgen wollte. Im dortigen Fall hat das Landgericht Hamburg zutreffend erkannt, dass dies zu den Aufgaben des Insolvenzverwalters gehört, weshalb der Beschwerdeführer im dortigen Fall kein schutzwürdiges Interesse an der Akteneinsicht hatte (LG Hamburg, StraFo 2018, 438 (439)).

So liegt die Sache hier aber gerade nicht. Im hier vorliegenden Fall geht es nicht darum, dass der gerichtlich bestellte Sachverständige mögliche zivilrechtliche Ansprüche selbst verfolgen möchte. Vielmehr ist er zum Sachverständigen bestellt worden, um herauszufinden, ob solche Ansprüche bestehen. Sein Gutachten soll im gerichtlichen Interesse die Entscheidung vorbereiten, ob ein Insolvenzverfahren überhaupt eröffnet wird oder nicht.

2. Vermerk:

Vor einer Umsetzung der Entscheidung zu 1. wird den Angeklagten Gelegenheit gegeben, die Einlegung einer Beschwerde zu prüfen.“