Ergangen ist es in einem Bußgeldverfahren. Dem Betroffenen war ein fahrlässiger Verstoß gegen eine Verordnung des Landes Baden-Württemberg nach dem Infektionsschutzgesetz vorgeworfen worden. Zur Last gelegt wurde dem betroffenen, sich am 25.04.2020, gegen 14.00 Uhr trotz eines Aufenthaltsverbots mit mehr als einer weiteren Person, die nicht zu den Angehörigen des eigenen Hausstands gehört, im öffentlichen Raum [in der Bahnhofstraße in Reutlingen] aufgehalten zu haben. Man habe als als Personengruppe zu dritt vor einer Gaststätte gesessen O. Man habe dort drei Stühle der Außenbewirtschaftung genommen und diese an den Straßenrand gestellt. Der Mindestabstand sei hierbei zwar eingehalten. Dies sei jedoch hierbei nur von geringer Bedeutung, da dies eine zusätzliche Regelung in der Corona-Verordnung ist. Der Betroffene habe sich auch unter Einhaltung des Mindestabstand nicht mit mehr als einer weiteren Person im öffentlichen Raum aufhalten dürfen.
1. Das Verhalten des Betroffenen ist freilich nicht durch die Verordnung der Landesregierung über infektionsschützende Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus SARS-Cov-2 vom 17.04.2020 sanktioniert. Der Betroffene hat sich schon nicht in verbotener Weise im Sinne des § 3 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung im öffentlichen Raum aufgehalten. Zwar kam es zu einem nicht bloß zufälligen, sogar kommunikativen Zusammentreffen, zum Reden, Sprechen und einem Beisammensein von mehr als zwei Menschen, einer Anwesenheit im Öffentlichen Raum, welche dem äußeren Anscheine nach unzweifelhaft gewollt und nicht auf einen (wie auch immer festzustellenden) „Haushalt“ beschränkt war. Andererseits waren zu keinem Zeitpunkt die nach § 3 Abs. 1 Satz 2 vorgeschriebenen Mindestabstände zwischen den Anwesenden (überdies nachweislich) unterschritten, sodass keine Ansammlung stattfand.
2. Aus § 3 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung folgt rechtlich zwanglos, dass eine jede Ansammlung, jedes Zusammensein, mithin der im Sinne der Vorschrift verbotene gemeinsame „Aufenthalt“ im öffentlichen Raum, stets und kumulativ eine Unterschreitung des Mindestabstandes von 1,5 Metern voraussetzt.
Nur in diesen Fällen konnte überhaupt ein (mit der Änderung des § 9 Nr. 1 der Verordnung auch nach dem 09.04.2020) bußgeldbewehrtes „Kontaktverbot“ nach § 3 Abs. I Satz 1 (In der zur Vorfallszeit geltenden Fassung vom 20.04.2020) i.V.m. § 9 Nr. 1 der Verordnung (in der zur Vorfallszeit geltenden Fassung vom 17.04.2020) greifen.
a) Die Vorschriften der Sätze 2 und 1 verlören im Gefüge jede normativ sinnhafte Bedeutung und jeden eigenen Regelungsgehalt, wenn nicht im Rahmen des Satzes 1 ausdrücklich gestattete Zusammenkünfte vernünftigerweise mit einer Unterschreitung eines bestimmten Mindestabstandes einhergehen dürften. Schon der allgemeinere Sinn und Wortlaut des Satzes 2 „zu anderen Personen“, also solchen anderen Menschen, die nicht Satz 1 unterfallen, macht deutlich, dass die Vorschrift in Satz 2 in der personellen Reichweite weiter und allgemeiner gefasst ist und Satz 1 mithin eine rechtliche Privilegierung von besonderen Zusammenkünften enthält.
Die Regelungsweise, bei welcher der allgemeinere Rechtssatz nicht am Normanfang postutliert ist, mag ungewöhnlich sein. Der Normtext beginnt vorliegend in Satz 1 mit einer Ausnahme. Dafür aber, dass dem Verordnungsgeber hier, wohl in großer Eile ein ganz schwerwiegendes redaktionelles Versehen unterfallen ist, bei gänzlich anderem rechtlichen Sinngehalt, gibt es keine Anhaltspunkte, zumal der Verordnungsgeber damit die gesetzliche Ermächtigung gänzlich überdehnt und die Empfehlungen des Bundes aus dem März des Jahres 2020 („Kontaktbeschränkung“) unbeachtet gelassen hätte.
b) Überdies gebietet das verfassungsrechtliche Gebot der Bestimmtheit eine einschränkende Auslegung. Würde auf das kumulative Erfordernis der objektiven feststellbaren Abstandsunterschreitung verzichtet, führte dieses Verständnis zum abstrusen, im Wortsinne „räumlich grenzenlosen“, tatbestandlich unbegrenzten und auch epidemiologisch nicht sinnvollen Ergebnissen und Verboten. Der Einkauf auf einem Wochenmarkt, das Warten auf einem Bahnsteig mit anderen Menschen, der Besuch in einem Supermarkt, der zufällig gleichzeitig mit mehr als zwei Menschen besucht ist, unterfiele, in der hier getätigten Auslegung der Stadt Reutlingen, dem Verbot und könnte mit einem Bußgeld sanktioniert werden. Ein besonderer ungeschriebener kommunikativer oder anderer subjektiver Aufenthaltswille kann, zum Zwecke der stets notwendigen Abgrenzung von erkennbar erlaubtem zu erkennbar verbotenem Verhalten, der Vorschrift in § 3 Abs. I gerade nicht entnommen werden. Auf die eine „innere Haltung“ der Personen oder den Zweck des Aufenhalts kann nicht ankommen, soweit nicht spezialgesetzliche oder allgemeine Vorschriften, beispielsweise des Versammlungsrechts, anwendbar sind.
c) Die Vorschrift in § 28 Abs I. Satz 2 Infektionsschutzgesetz hat keine Änderung zum 28.03.2020 erfahren. Die Gesetzesmaterialien (BT-Drs. 12/2530, S. 74 f.) der Ermächtigungsgrundlage in §§ 28 Abs. I, 33 Infektionsschutzgesetz (zur alten Fassung vom 29.11.2019) weisen zur Notwendigkeit einer restriktive Auslegung. Zwar kennt das Infektionsschutzgesetz, wie auch zuvor das Bundesseuchengesetz, den Begriff der „Ansammlung“, welche „beschränkt“ oder „untersagt“ werden kann, durch eine behördliche Entscheidung oder, wie hier, durch Rechtsverordnung. Aus der Entstehungsgeschichte ist erkennbar, dass der Begriff einer „Ansammlung“ einer für einen außenstehenden Beobachter anhand objektiv Merkmale erkennbaren Begrenzung bedarf, sei es durch vertypte Ansammlungsarten, verbindende organisatorische oder kommunikative Kritierien oder räumliche Gegebenheiten. Die bloße Anwesenheit im öffentlichen Raum kann hingegen zumindest nicht abstrakt-generell – auf Grundlage des Satze 2 untersagt werden.
Untersagbar waren nach dem Bundesseuchengesetz, in § 34, bis zur Neufassung im Jahr 2000 mit dem Infektionsschutzgesetz, „bestimmte Veranstaltungen in Räumen und Ansammlungen unter freiem Himmel“, die beispielhaft aufgezählt und bestimmt waren, wie „Veranstaltungen in Theatern, Filmtheatern, Versammlungsräumen, Vergnügungs- oder Gaststätten und ähnlichen Einrichtungen sowie die Abhaltung von Märkten, Messen, Tagungen, Volksfesten und Sportveranstaltungen oder sonstige Ansammlungen einer größeren Anzahl von Menschen […] und Badeanstalten“.
Auf diese Aufzählung hat der Gesetzgeber mit der Neufassung des § 28 Infektionsschutzgesetz verzichtet und stattdessen der Begriff „Veranstaltungen oder sonstige Ansammlungen einer größeren Anzahl von Menschen“ verwandt. Durch diese Beschreibung sollte einerseits sichergestellt werden, dass alle Zusammenkünfte (nicht: der „Aufenthalt“, ein Begriff den das Infektionsschutzgesetz an anderer Stelle, in gänzlich anderem Zusammenhang, melderechtlich oder lediglich individuell bezogen verwendet) von Menschen, die eine Verbreitung von Krankheitserregern begünstigen, erfasst werden.
Anderseits gebietet eine solch weite Fassung eine verfassungskonkretisierende Auslegung, um dem Bestimmtheitsgebot Genüge zu tun. Ohne diese Einschränkung, anhand verobjektivter äußerer Kriterien, wäre die schon bloße Anwesenheit mehrere Menschen oder eines Menschen in einem öffentlichen Raum (von unbestimmter Größe und Reichweite) nicht mehr von einer Ansammlung im Sinne der seuchenrechtlichen Vorschriften zu unterscheiden. Die bloße Anwesenheit eines Menschen, grundsätzlich ein Nichtstörer, im öffentlichen Raum unmittelbar zu untersagen, ermächtigt das Infektionsschutzgesetz in § 28 Satz 2 auch in der Fassung ab 28.03.2020 gerade nicht. Das ermöglichen lediglich die spezielleren Vorschriften der §§ 16, 30 Infektionssschutzgesetz, im Sinne der Gefahrenabwehr dann regelmäßig einen Störer betreffend. Eine Regelung im Sinne von § 28 Satz 1 war von Baden-Württembergischen Verordnungsgeber mit § 3 der Verordnung schon dem Wortlaut nach nicht gewollt. Die Regelung bezieht sich alleine auf den Öffentlichen Raum und enthält keine wohnungsbezogene Ausgangssperre.
Vorliegend hat der Verordnungsgeber zwar generalklauselartig in § 3 Abs. I Satz 1 ein dem Wortlaut nach weites allgemeines Ansammlungsverbot ausgesprochen, dieses aber, soweit an anderer Stelle nicht besondere Orte (Fitnessstudios, Gaststätten, Einrichtungen der Altenpflege) oder typisierend Ansammlungen, so § 3 Abs. II Satz 2, speziell geregelt werden, durch die objektive Abstandsregelung von 1, 5 Meter (noch) hinreichend genau konkretisiert, sodass die tatbestandliche Abgrenzung zwischen einer Zusammenkunft im Sinne des Infektionschutzgesetzes, einem „Aufenthalts“ im Sinne der Vorschrift, zur bloßen Anwesenheit möglich wird.
3. Letztlich kann deswegen dahingestellt bleiben, ob nicht sogar ein Aufenthalt des Betroffenen im Öffentlichen Raum, am Taxistand, mit seinen Kollegen, alles freischaffende oder angestellte Taxifahrer, der Privilegierung des § 3 Abs. 3 Nr. 1 der Verordnung unterfiel. Das Taxigewerbe ist ein gesetzlicher Normalfall der Daseinsfür- und Vorsorge. Die grundsätzlich unbedingte Bereithaltung von Beförderungsdienstleistungen, auch unter schwierigsten oder gefährlichen Bedingungen, ist für das regulierte Personenbeförderungsgewerbe kennzeichnend und
konstitutiv. Zumal davon auszugehen ist, dass Inhaberinnen solcher Beförderungsberechtigungen nach dem Personenbeförderungsgesetz auch dann nach § 47 PBefG zur Beförderung verpflichtet sind, wenn ein abstrakt-generelles, dafür aber besonders hohes Infektionsrisiko besteht und nicht die Schwelle zum Krankentransport erreicht ist.
4. Lediglich anzumerken ist, dass die Verordnung, in jedem Falle die Vorschrift des § 3, trotz des vorliegend festgestellten Mangels bei der Rechtsanwendung durch die Verwaltungsbehörde, wegen der möglichen (verfassungs-)konkretisierenden Auslegung durch die Gerichte, insgesamt im Hinblick auf die Verordnungsermächtigung im Infektionsschutzgesetz und den Bestimmtheitsgrundsatz keinen durchgreifenden Bedenken begegnet (hierzu, zur Fassung vom 17.03.2020: VGH Mannheim Beschl. v. 23.4.2020 —1 S 1046/20, BeckRS 2020, 8068).“
Ok, ok, ist für einen Montag vielleicht ein wenig viel Text (?). Aber: Das musste m.E. mal sein. Denn die Entscheidung zeigt sehr schön, dass die Vorgaben der Verordnungen, die ja nun bundesweit existieren, von der Rechtsprechung geprüft werden. Das ist die Pflicht der AG/OLG. Und das funktioniert. Also: Es droht nicht der – viel beschworene – Untergang des Rechtsstaates. Zumindest für mich nicht.