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Corona II: War die Arztpraxis „öffentlich zugänglich“?, oder: Schriftliches Hygienekonzept erforderlich?

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Bei der zweiten Entscheidung des Tages handelt es sich um den OLG Oldenburg, Beschl.v. 29.09.2022 – 2 Ss(OWi) 131/22.

Das AG den Betroffenen „wegen eines vorsätzlichen Verstoßes gegen § 4 Niedersächsische Corona-Verordnung (Fassung vom 07.10.2020) dadurch, dass er als Betreiber einer öffentlichen Einrichtung mit Kunden- und Besuchsverkehr jeglicher Art (Praxis für Augenheilkunde) zur Sicherstellung der Maßnahmen zum Schutz vor Infektionen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 ein schriftliches Hygienekonzept nicht aufgestellt hat und damit auf Verlangen auch nicht vorlegen konnte“ zu einer Geldbuße von 500 EUR verurteilt. Dagegen wendet sich der Betroffene. Er macht unter anderem geltend, dass er nicht zur Erstellung eines Hygienekonzeptes verpflichtet gewesen sei.

Das OLG hat die Rechtsbeschwerde zugelassen, das AG-Urteil aufgehoben und den Angeklagten frei gesprochen:

„Das Amtsgericht hat folgende Feststellungen getroffen:

Der Betroffene ist freiberuflicher Augenarzt und betreibt -angeschlossen an die Praxisräume seiner ebenfalls als Ärztin praktizierenden Ehefrau- eine Praxis für Augenheilkunde in der er ausschließlich bei privaten Krankenkassen versicherte Patienten nach Absprache betreut. Weitere Mitarbeiter beschäftigt der Betroffene nicht.

Am TT.MM.2020 zwischen 12:15 und 12:30 Uhr erfolgte durch zwei Mitarbeiter des Gesundheitsamtes pp. eine Kontrolle der Einhaltung der Maßnahmen zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie in den Praxisräumen des Betroffenen. Hierbei wurde festgestellt, dass der Betroffene kein schriftliches Hygienekonzept vorweisen konnte.

Als weitere Feststellung findet sich in den Urteilsgründen, dass der Betroffene lediglich in einem überschaubaren Umfang „Privatpatienten“, diese lediglich nach vorheriger Absprache, behandelt.

Die Coronaverordnung vom 07.10.2020 galt zum Tatzeitpunkt nicht mehr.

§ 4 Abs. 1 der niedersächsischen Coronaverordnung (im folgenden: Verordnung) vom 30.10.2020 lautete wie folgt:

Der Betrieb einer öffentlich zugänglichen Einrichtung mit Kunden- oder Besuchsverkehr jeglicher Art sowie die Durchführung einer Veranstaltung oder Versammlung setzen ein Hygienekonzept nach den Vorgaben des Abs. 2 voraus.

§ 3 Abs. 1 der Verordnung lautete:

Jede Person hat….in geschlossenen Räumen, die öffentlich oder im Rahmen eines Besuchs- oder Kundenverkehrs zugänglich sind, eine Mund-Nasen-Bedeckung zu tragen…

Das Amtsgericht hat die Auffassung vertreten, dass der Betroffene zur Erstellung eines Hygienekonzepts verpflichtet gewesen sei, da in Anlehnung an die Musterbauordnung öffentlich zugängliche Gebäude unter anderem definiert seien als Einrichtungen des Gesundheitswesens. Darüber hinaus stützt sich das Amtsgericht auf eine „Erläuterung zur Verordnung vom 25.06.2020 über Maßnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus“, die unter einer näher bezeichneten, mit www.llv.li beginnenden Internetadresse, einzusehen sei.

III.

Ein Verfahrenshindernis besteht nicht.

Zwar wird sowohl die Verurteilung als auch der Bußgeldbescheid auf eine zum Tatzeitpunkt nicht mehr geltende Coronaverordnung gestützt. Da die Generalstaatsanwaltschaft zutreffend darauf hingewiesen hat, dass zumindest im Rahmen der Anhörung des Betroffenen die zum Tatzeitpunkt geltende Verordnung vom 30.10.2020 zitiert worden ist, sieht der Senat trotz gewisser Bedenken unter Berücksichtigung des weiteren Umstandes, dass die Regelungen inhaltlich identisch sind, noch keinen Grund zu der Annahme, der Bußgeldbescheid leide an einem derart gravierenden Mangel, dass von dessen Nichtigkeit auszugehen wäre.

IV.

Die Feststellungen tragen die Verurteilung des Betroffenen nicht.

Soweit sich das Amtsgericht -insoweit der Verwaltungsbehörde folgend- zur Auslegung der niedersächsischen Verordnung auf die Musterbauordnung und die oben genannten Erläuterungen beruft, ist das für den konkreten Fall nicht zielführend. Grundsätzlich wird es sich bei einer Arztpraxis, deren Räumlichkeiten im Rahmen der Öffnungszeiten allgemein zugänglich sind und die über mehrere Beschäftigte verfügt, um eine öffentlich zugängliche Einrichtung im Sinne von § 4 der Verordnung handeln. Hierzu bedarf es der Heranziehung der Musterbauordnung und – nicht nachvollziehbar – von Internetseiten der Verwaltung des Fürstentums Liechtenstein (!) (llv.li…..) nicht.

Anders ist es aber im vorliegenden Fall.

Der Betroffene betreibt seine Praxis angeschlossen an die Praxis seiner Ehefrau. Selbst wenn man davon ausgeht, dass es sich bei der Praxis der Ehefrau des Betroffenen um eine solche handelt, die öffentlich zugänglich ist, wäre Betreiber nicht der Betroffene, sondern dessen Ehefrau. Dass diese nicht über ein Hygienekonzept verfügt hätte, ist wieder festgestellt, noch für die Entscheidung dieses Verfahrens von Relevanz.

So, wie der Betroffene selbst seine Praxis betreibt, handelt es sich nicht um eine öffentlich zugängliche Einrichtung mit Kunden- oder Besuchsverkehr. Zu beachten ist nämlich, dass zwischen § 4 und § 3 der Verordnung differenziert wird:

Während eine Mund-Nasen-Bedeckung in geschlossenen Räumen, die öffentlich (www.duden.de: für die Allgemeinheit zugänglich, benutzbar) oder im Rahmen eines Besuchs- oder Kundenverkehrs zugänglich sind, zu tragen war, war ein Hygienekonzept nur für öffentlich zugängliche Einrichtungen mit Kunden- oder Besuchsverkehr erforderlich. Das bedeutet, dass innerhalb der Verordnung vom 30.10.2020 zwischen den verschiedenen Einrichtungen unterschieden wurde. Bei der Praxis des Betroffenen in ihrer konkreten Ausgestaltung handelte es sich zwar um eine solche mit Kunden- oder Besuchsverkehr, nicht jedoch um eine öffentlich zugängliche Einrichtung. Aus den Feststellungen ergibt sich nämlich, dass der Betroffene zum einen keine Mitarbeiter beschäftigt und zum anderen Patienten lediglich nach vorheriger Absprache behandelt hat. Anhaltspunkte dafür, dass sich hierbei Patienten in der Praxis des Betroffenen begegnet wären oder aber, dass die Praxis des Betroffenen für Terminsabsprachen zumindest jederzeit allgemein zugänglich gewesen wäre, bestehen nicht. Es ist auch nicht ersichtlich, dass das Amtsgericht hierzu, bezogen auf den Tatzeitpunkt im November 2020, weitere Feststellungen würde treffen können.

Ob es sinnvoll gewesen wäre, auch für Praxen, die wie diejenige des Betroffenen organisiert waren, ein Hygienekonzept zu verlangen – die Ausführungen des Amtsgerichtes hierzu sind ohne weiteres nachvollziehbar- kann dahinstehen, da der Verordnungsgeber die Verpflichtung an das Tatbestandsmerkmal öffentlich zugänglich geknüpft hat. Mangels Vorliegens einer öffentlich zugänglichen Einrichtung war der Betroffene aber nicht zur Erstellung und Vorlage eines Hygienekonzepts verpflichtet.

Er ist daher auf Kosten der Landeskasse, die auch die dem Betroffenen entstandenen notwendigen Auslagen zu erstatten hat (§ 467 Abs. 1 StPO in Verbindung mit § 46 OWiG), freizusprechen.“

Corona II: Öffentlicher Raum und Kontakte, oder: VO passen nicht/zu unbestimmt

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Und im zweiten Posting dann zwei instanzgerichtliche Entscheidungen zu „Corona-Fragen“. In beiden Entscheidungen geht es um die Niedersächsischen Verordnung zum Schutz vor Neuinfektionen mit dem Corona-Virus.

Zunächst hier das AG Salzgitter, Urt. v. 14.12.2020 – 11a OWi 123 Js 40670/20 – und zur Frage des gemeinsamen Aufenthalts im öffentlichen Raum. Das AG stellt fest: Der gemeinsame Aufenthalt von 3 Personen in einem Privat-Pkw stellt keinen Aufenthalt im öffentlichen Raum dar. Das hatten wir schon im AG Stuttgart, Beschl. v. 08.09-2020 – 4 OWi 177 Js 68534/20 – bzw. im AG Reutlingen, Beschl. v. 09.12.2020 – 4 OWi 23 Js 16246/20. Beide hatte ich ja auch hier im Blog: Corona I: Fünf Personen im Privat-Pkw, oder: Kein Verstoß gegen Corona-VO und Corona II: Aufenthalt im Pkw = öffentlicher Raum? oder: Was ist mit der Wirksamkeit der Corona-VO BW?

Bei der zweiten Entscheidung betreffend Corona handelt es sich um den OLG Oldenburg, Beschl. v. 11.12.2020 – 2 Ss (OWi) 286/20 -. Das hat zur Kontaktbeschränkung Stellung genommen und stellt fest:

Ein Verstoß gegen § 1 der Nds. Verordnung zum Schutz vor Neuinfektionen mit dem Corona-Virus in der Fassung vom 24.4.2020: „Jede Person hat physische Kontakte zu anderen Menschen, die nicht zu den Angehörigen des eigenen Hausstandes gehören, auf ein absolut nötiges Minimum zu reduzieren“, kann mangels Bestimmtheit der Norm nicht mit einem Bußgeld sanktioniert werden.

Der Betroffene ist frei gesprochen worden. Das OLG gibt ihm aber mit auf den Weg:

„Soweit die Staatsanwaltschaft Osnabrück zur Begründung ihrer Rechtsbeschwerde ausführt, Kontaktverbote als solche seien nicht verfassungswidrig und § 28 Abs. 1 Satz 2 IfSG (i.V.m. § 32 IfSG) böte eine ausreichende Rechtsgrundlage, teilt der Senat diese Auffassung ausdrücklich. Lediglich die zu unbestimmte Fassung des Bußgeldtatbestandes rechtfertigt deshalb den erfolgten Freispruch.

Zudem weist der Senat darauf hin, dass in dem Verhalten des Betroffenen ein Höchstmaß sozialer Rücksichtslosigkeit zum Ausdruck kommt, das geeignet ist, Mitmenschen schweren Schaden zuzufügen, und verachtenswert ist. Eine ungebremste Erkrankungswelle bot -und bietet auch heute noch die Gefahr, dass es zu schweren -und, wie sich jetzt zeigt, in zunehmendem Maße tödlichen Krankheitsverläufen kommt und das Gesundheitsversorgungssystem in Deutschland an seine Kapazitätsgrenzen gerät. Dieser Gefahr konnte -und kann auch jetzt noch nur dadurch begegnet werden, die Verbreitung der Erkrankung so gut wie möglich zu verlangsamen. Hierzu dient insbesondere auch die Schaffung sozialer Distanz. Es ist deshalb nicht zu beanstanden, wenn der Staat geeignete, erforderliche und angemessene Maßnahmen ergreift, auch wenn diese in die Grundrechte der Bürger eingreifen.“

Wenn man die Entscheidung anwenden will: Immer darauf achten, um welche VO es geht. Denn die VO sind inzwischen ja einige Mal geändert worden.

Corona III: Das „Anbieten einer sexuellen Dienstleistung“ ist nicht „Betreiben eines Prostitutionsgewerbes

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In der dritten und letzten Entscheidung, dem AG Stuttgart, Beschl. v.  08.09.2020 – 5 OWi 170 Js 73249/20 -geht es noch einmal um einen Verstoß gegen die Corona-Verordnung. Die Stadt Stuttgart hatte der Betroffenen zur Last gelegt, am 19.04.2020 trotz eines bestehenden Betriebsverbots nach der Corona-Verordnung eine Einrichtung (Prostitutionsbetrieb) betrieben zu haben. Gegen die Betroffene wurde ein Bußgeld in Höhe von 5.000 EUR verhängt. Dagegen der Einspruch der Betroffenen. Das AG hat dann im Beschlussweg frei gesprochen:

„§ 4 Abs. 1 Nr. 9 der zum Vorfallszeitpunkt geltenden Corona-Verordnung untersagte den Betrieb von Prostitutionsstätten, Bordellen und ähnlichen Einrichtungen bis zum 3. Mai 2020 für den Publikumsverkehr. Untersagt war auch jede sonstige Ausübung des Prostitutionsgewerbes im Sinne von § 2 Abs. 3 des Prostitutionsschutzgesetzes. Dort heißt es: „Ein Prostitutionsgewerbe betreibt, wer gewerbsmäßig Leistungen im Zusammenhang mit der Erbringung sexueller Dienstleistungen durch mindestens eine andere Person anbietet oder Räumlichkeiten hierfür bereitstellt, indem er eine Prostitutionsstätte betreibt, ein Prostitutionsfahrzeug bereitstellt, eine Prostitutionsveranstaltung organisiert oder durchführt oder eine Prostitutionsvermittlung betreibt.“

Die Betroffene hat nach Aktenlage jedoch nur eine sexuelle Dienstleistung im Sinne des § 2 Abs. 1 des Prostitutionsschutzgesetzes angeboten und keine der genannten Einrichtungen betrieben, weshalb der Tatbestand des § 9 Nr. 6 i.V.m. § 4 Abs. 1 Nr. 9 CoronaVO nicht erfüllt ist.“

Fazit an diesem Tag bzw. was zeigen die drei vorgestellten Entscheidungen? Der Rechtsstaat funktioniert. Finde ich jedenfalls.

Corona I: Fünf Personen im Privat-Pkw, oder: Kein Verstoß gegen Corona-VO

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Nachdem zu Anfang der Corona-Pandemie bei den gerichtlichen Entscheidungen, die sich mit Corona befasst haben. Entscheidungen betreffend Haftfragen und Fragen der Unterbrechung/Fortsetzung der Hauptverhandlung im Vordergrund gestanden haben, nehmen nun Entscheidungen zu, bei den es um Verstöße gegen Corona-Verordnungen geht. Davon stelle ich heute zwei vor, eine weitere Entscheidung betrifft eine Verfahrensfrage. Alle drei Entscheidungen stammen aus Baden-Württemberg.

Ich beginne mit dem AG Stuttgart,  Beschl. v. 08.09.2020 – 4 OWi 177 Js 68534/20. Der Betroffenen war vorgeworfen worden, sie habe gegen § 3 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung der Landesregierung über infektionsschützende Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus SARS-Cov-2 (Corona-Verordnung – CoronaVO) verstoßen, indem sie sich am 24.04.2020 um 8:30 in Stuttgart im Heslacher Tunnel in Fahrtrichtung stadteinwärts mit mehr als einer weiteren Person, die nicht zu den Angehörigen ihres eigenen Hausstandes gehörte, im öffentlichen Raum aufgehalten habe. Ausweislich der Snzeige befand sich die Betroffene mit vier anderen Personen, die alle einen unterschiedlichen Wohnsitz hatten, in einem Privat-PKW. Das AG hat von diesem Vorwurf frei gesprochen:

„2. Von diesem Vorwurf war die Betroffene aus rechtlichen Gründen frei zu sprechen, denn der vorgeworfene Sachverhalt stellt keinen Verstoß gegen § 3 Abs. 1 Satz 1 Corona-VO dar.

a) Die Verteidigerin hat sich für die Betroffene dahin eingelassen, sie sei mit ihren Angehörigen zu einem Gerichtstermin ihres Ehemannes auf dem Weg gewesen, den alle Fahrzeuginsassen gemeinsam im Zuschauerraum verfolgt hätten, weshalb die angesetzte Geldbuße jedenfalls zu hoch sei.

b) Die Einlassung der Betroffenen gebietet zwar weder eine Aufhebung des Bußgeldbescheids noch eine Reduzierung der Geldbuße, weil ein späteres rechtmäßiges Zusammenkommen weder die Rechtswidrigkeit eines aktuellen Zusammenkommens ausschließt noch dessen Vorwerfbarkeit reduziert. Im Übrigen gilt für Zuschauer von Gerichtsverhandlungen in Stuttgart jedenfalls seit 20.04.2020 ein regelmäßig sitzungspolizeilich angeordnetes und durchgesetztes Abstandsgebot auch bei Aufenthalt im Gerichtssaal.

c) Der gemeinsame Aufenthalt von fünf Personen in einem Privat-Pkw stellt aber keinen Aufenthalt im öffentlichen Raum dar.

aa) Öffentlicher Raum im Sinne der Corona-VO sind der öffentliche Verkehrsraum i.S.v. § 2 LBO, öffentliche Verkehrsmittel (Bahn, Bus, Taxi) oder öffentliche Gebäude soweit sie öffentlich zugänglich sind, nicht aber private Wohnräume oder andere vom öffentlichen Raum klar abgegrenzte Bereiche (privater Garten, Terrasse o.a.).

bb) Ein Privatfahrzeug wie der in diesem Fall genutzte Pkw ist nicht dem öffentlichen Raum zuzuordnen, denn es ist im Gegensatz zu einem öffentlichen Verkehrsmittel nicht öffentlich zugänglich. Über den Zugang zu einem Privat-Pkw bestimmen nach dessen Nutzungszweck wie auch nach der Verkehrsanschauung ausschließlich der Pkw-Halter und / oder der Pkw-Führer.
d) Außerhalb des öffentlichen Raumes war am 24.04.2020 indes ein Zusammenkommen von bis zu fünf Personen unabhängig von verwandtschaftlichen Beziehungen oder einer häuslichen Gemeinschaft nach § 3 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Abs. 2 CoronaVO BW in der vom 20.04.2020 bis 26.04.2020 geltenden Fassung erlaubt.

Corona-Verordnung, oder: Verbotener gemeinsamer „Aufenthalt“ und Unterschreitung Mindestabstand

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Die zweite Entscheidung des Tages ist eine AG-Entscheidung, und zwar das AG Reutlingen, Urt. v. 03.07.2020 5 OWi 26 Js 13211/20.

Ergangen ist es in einem Bußgeldverfahren. Dem Betroffenen war ein fahrlässiger Verstoß gegen eine Verordnung des Landes Baden-Württemberg nach dem Infektionsschutzgesetz vorgeworfen worden. Zur Last gelegt wurde dem betroffenen, sich am 25.04.2020, gegen 14.00 Uhr trotz eines Aufenthaltsverbots mit mehr als einer weiteren Person, die nicht zu den Angehörigen des eigenen Hausstands gehört, im öffentlichen Raum [in der Bahnhofstraße in Reutlingen] aufgehalten zu haben. Man habe als als Personengruppe zu dritt vor einer Gaststätte gesessen O. Man habe dort drei Stühle der Außenbewirtschaftung genommen und diese an den Straßenrand gestellt. Der Mindestabstand sei hierbei zwar eingehalten. Dies sei jedoch hierbei nur von geringer Bedeutung, da dies eine zusätzliche Regelung in der Corona-Verordnung ist. Der Betroffene habe sich auch unter Einhaltung des Mindestabstand nicht mit mehr als einer weiteren Person im öffentlichen Raum aufhalten dürfen.

Die Verwaltungsbehörde hat darin einen ahndbaren Verstoß nach § 73 Abs. 1a Nr. 24 i.V.m. §§ 32, 28 Abs. 1 S. 1 Infektionsschutzgesetz und § 9 Nr. 1 [in der Fassung vom 09.04.2020, gültig seit 10.04.2020] i.V.m. § 3 Abs. 1 Satz 1 Corona-Verordnung [in der Fassung vom 17.04.2020, gültig seit 20.04.2020] gesehen.

Das AG hat aus rechtlichen Gründen frei gesprochen:

„Für erwiesen erachtet der Richter folgenden Sachverhalt:

Am 25.04.2020 hielt sich der Betroffene zusammen mit weiteren Taxifahrern in der Bahnhofstraße in Reutlingen auf, in der Nähe der ausgeschilderten Halteflächen für Taxis. Der Betroffene und mindestens zwei weitere Zeugen hielten sich dort in allgemeiner Fahr- und Rufbereitschaft auf. Auf die öffentliche Verkehrsfläche hatten sie aus einer nahen Gaststätte Stühle verbracht (und sitzend belegt), die jeweils in einem Abstand von mehr als 1,50 Meter zueinander aufgestellt waren. Längere Zeit, jedenfalls aber mehrere Minuten, hielten sich der Betroffene und, während der Zeit kurzer polizeilicher Beobachtung, mindestens vier weitere Personen miteinander vor der Gaststätte in der so geschaffenen „Wartezone“ auf. Die Anwesenden hielten zueinander großzügig bemessenen körperlichen Abstand, für den beobachtenden Polizeibeamten augenscheinlich mehr als 1,5 m, wobei sie sich freilich unterhielten.

Die Antreffsituation, das Verhalten des Betroffenen einzeln und dessen Verhalten zusammen mit weiteren, teilweise getrennt verfolgten Personen, konnte räumlich und zeitlich zweifelsfrei aufgeklärt werden. Der Vorfallsort, vor dem Reutlinger Bahnhof, ist gerichtsbekannt. Der Richter ist dort gelegentlich selbst unterwegs, auf dem Weg vom Dienstort zum Wohnort……“

Und die rechtliche Begründung für den Freispruch:

1. Das Verhalten des Betroffenen ist freilich nicht durch die Verordnung der Landesregierung über infektionsschützende Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus SARS-Cov-2 vom 17.04.2020 sanktioniert. Der Betroffene hat sich schon nicht in verbotener Weise im Sinne des § 3 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung im öffentlichen Raum aufgehalten. Zwar kam es zu einem nicht bloß zufälligen, sogar kommunikativen Zusammentreffen, zum Reden, Sprechen und einem Beisammensein von mehr als zwei Menschen, einer Anwesenheit im Öffentlichen Raum, welche dem äußeren Anscheine nach unzweifelhaft gewollt und nicht auf einen (wie auch immer festzustellenden) „Haushalt“ beschränkt war. Andererseits waren zu keinem Zeitpunkt die nach § 3 Abs. 1 Satz 2 vorgeschriebenen Mindestabstände zwischen den Anwesenden (überdies nachweislich) unterschritten, sodass keine Ansammlung stattfand.

2. Aus § 3 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung folgt rechtlich zwanglos, dass eine jede Ansammlung, jedes Zusammensein, mithin der im Sinne der Vorschrift verbotene gemeinsame „Aufenthalt“ im öffentlichen Raum, stets und kumulativ eine Unterschreitung des Mindestabstandes von 1,5 Metern voraussetzt.

Nur in diesen Fällen konnte überhaupt ein (mit der Änderung des § 9 Nr. 1 der Verordnung auch nach dem 09.04.2020) bußgeldbewehrtes „Kontaktverbot“ nach § 3 Abs. I Satz 1 (In der zur Vorfallszeit geltenden Fassung vom 20.04.2020) i.V.m. § 9 Nr. 1 der Verordnung (in der zur Vorfallszeit geltenden Fassung vom 17.04.2020) greifen.

a) Die Vorschriften der Sätze 2 und 1 verlören im Gefüge jede normativ sinnhafte Bedeutung und jeden eigenen Regelungsgehalt, wenn nicht im Rahmen des Satzes 1 ausdrücklich gestattete Zusammenkünfte vernünftigerweise mit einer Unterschreitung eines bestimmten Mindestabstandes einhergehen dürften. Schon der allgemeinere Sinn und Wortlaut des Satzes 2 „zu anderen Personen“, also solchen anderen Menschen, die nicht Satz 1 unterfallen, macht deutlich, dass die Vorschrift in Satz 2 in der personellen Reichweite weiter und allgemeiner gefasst ist und Satz 1 mithin eine rechtliche Privilegierung von besonderen Zusammenkünften enthält.

Die Regelungsweise, bei welcher der allgemeinere Rechtssatz nicht am Normanfang postutliert ist, mag ungewöhnlich sein. Der Normtext beginnt vorliegend in Satz 1 mit einer Ausnahme. Dafür aber, dass dem Verordnungsgeber hier, wohl in großer Eile ein ganz schwerwiegendes redaktionelles Versehen unterfallen ist, bei gänzlich anderem rechtlichen Sinngehalt, gibt es keine Anhaltspunkte, zumal der Verordnungsgeber damit die gesetzliche Ermächtigung gänzlich überdehnt und die Empfehlungen des Bundes aus dem März des Jahres 2020 („Kontaktbeschränkung“) unbeachtet gelassen hätte.

b) Überdies gebietet das verfassungsrechtliche Gebot der Bestimmtheit eine einschränkende Auslegung. Würde auf das kumulative Erfordernis der objektiven feststellbaren Abstandsunterschreitung verzichtet, führte dieses Verständnis zum abstrusen, im Wortsinne „räumlich grenzenlosen“, tatbestandlich unbegrenzten und auch epidemiologisch nicht sinnvollen Ergebnissen und Verboten. Der Einkauf auf einem Wochenmarkt, das Warten auf einem Bahnsteig mit anderen Menschen, der Besuch in einem Supermarkt, der zufällig gleichzeitig mit mehr als zwei Menschen besucht ist, unterfiele, in der hier getätigten Auslegung der Stadt Reutlingen, dem Verbot und könnte mit einem Bußgeld sanktioniert werden. Ein besonderer ungeschriebener kommunikativer oder anderer subjektiver Aufenthaltswille kann, zum Zwecke der stets notwendigen Abgrenzung von erkennbar erlaubtem zu erkennbar verbotenem Verhalten, der Vorschrift in § 3 Abs. I gerade nicht entnommen werden. Auf die eine „innere Haltung“ der Personen oder den Zweck des Aufenhalts kann nicht ankommen, soweit nicht spezialgesetzliche oder allgemeine Vorschriften, beispielsweise des Versammlungsrechts, anwendbar sind.
c) Die Vorschrift in § 28 Abs I. Satz 2 Infektionsschutzgesetz hat keine Änderung zum 28.03.2020 erfahren. Die Gesetzesmaterialien (BT-Drs. 12/2530, S. 74 f.) der Ermächtigungsgrundlage in §§ 28 Abs. I, 33 Infektionsschutzgesetz (zur alten Fassung vom 29.11.2019) weisen zur Notwendigkeit einer restriktive Auslegung. Zwar kennt das Infektionsschutzgesetz, wie auch zuvor das Bundesseuchengesetz, den Begriff der „Ansammlung“, welche „beschränkt“ oder „untersagt“ werden kann, durch eine behördliche Entscheidung oder, wie hier, durch Rechtsverordnung. Aus der Entstehungsgeschichte ist erkennbar, dass der Begriff einer „Ansammlung“ einer für einen außenstehenden Beobachter anhand objektiv Merkmale erkennbaren Begrenzung bedarf, sei es durch vertypte Ansammlungsarten, verbindende organisatorische oder kommunikative Kritierien oder räumliche Gegebenheiten. Die bloße Anwesenheit im öffentlichen Raum kann hingegen zumindest nicht abstrakt-generell – auf Grundlage des Satze 2 untersagt werden.

Untersagbar waren nach dem Bundesseuchengesetz, in § 34, bis zur Neufassung im Jahr 2000 mit dem Infektionsschutzgesetz, „bestimmte Veranstaltungen in Räumen und Ansammlungen unter freiem Himmel“, die beispielhaft aufgezählt und bestimmt waren, wie „Veranstaltungen in Theatern, Filmtheatern, Versammlungsräumen, Vergnügungs- oder Gaststätten und ähnlichen Einrichtungen sowie die Abhaltung von Märkten, Messen, Tagungen, Volksfesten und Sportveranstaltungen oder sonstige Ansammlungen einer größeren Anzahl von Menschen […] und Badeanstalten“.

Auf diese Aufzählung hat der Gesetzgeber mit der Neufassung des § 28 Infektionsschutzgesetz verzichtet und stattdessen der Begriff „Veranstaltungen oder sonstige Ansammlungen einer größeren Anzahl von Menschen“ verwandt. Durch diese Beschreibung sollte einerseits sichergestellt werden, dass alle Zusammenkünfte (nicht: der „Aufenthalt“, ein Begriff den das Infektionsschutzgesetz an anderer Stelle, in gänzlich anderem Zusammenhang, melderechtlich oder lediglich individuell bezogen verwendet) von Menschen, die eine Verbreitung von Krankheitserregern begünstigen, erfasst werden.

Anderseits gebietet eine solch weite Fassung eine verfassungskonkretisierende Auslegung, um dem Bestimmtheitsgebot Genüge zu tun. Ohne diese Einschränkung, anhand verobjektivter äußerer Kriterien, wäre die schon bloße Anwesenheit mehrere Menschen oder eines Menschen in einem öffentlichen Raum (von unbestimmter Größe und Reichweite) nicht mehr von einer Ansammlung im Sinne der seuchenrechtlichen Vorschriften zu unterscheiden. Die bloße Anwesenheit eines Menschen, grundsätzlich ein Nichtstörer, im öffentlichen Raum unmittelbar zu untersagen, ermächtigt das Infektionsschutzgesetz in § 28 Satz 2 auch in der Fassung ab 28.03.2020 gerade nicht. Das ermöglichen lediglich die spezielleren Vorschriften der §§ 16, 30 Infektionssschutzgesetz, im Sinne der Gefahrenabwehr dann regelmäßig einen Störer betreffend. Eine Regelung im Sinne von § 28 Satz 1 war von Baden-Württembergischen Verordnungsgeber mit § 3 der Verordnung schon dem Wortlaut nach nicht gewollt. Die Regelung bezieht sich alleine auf den Öffentlichen Raum und enthält keine wohnungsbezogene Ausgangssperre.

Vorliegend hat der Verordnungsgeber zwar generalklauselartig in § 3 Abs. I Satz 1 ein dem Wortlaut nach weites allgemeines Ansammlungsverbot ausgesprochen, dieses aber, soweit an anderer Stelle nicht besondere Orte (Fitnessstudios, Gaststätten, Einrichtungen der Altenpflege) oder typisierend Ansammlungen, so § 3 Abs. II Satz 2, speziell geregelt werden, durch die objektive Abstandsregelung von 1, 5 Meter (noch) hinreichend genau konkretisiert, sodass die tatbestandliche Abgrenzung zwischen einer Zusammenkunft im Sinne des Infektionschutzgesetzes, einem „Aufenthalts“ im Sinne der Vorschrift, zur bloßen Anwesenheit möglich wird.

3. Letztlich kann deswegen dahingestellt bleiben, ob nicht sogar ein Aufenthalt des Betroffenen im Öffentlichen Raum, am Taxistand, mit seinen Kollegen, alles freischaffende oder angestellte Taxifahrer, der Privilegierung des § 3 Abs. 3 Nr. 1 der Verordnung unterfiel. Das Taxigewerbe ist ein gesetzlicher Normalfall der Daseinsfür- und Vorsorge. Die grundsätzlich unbedingte Bereithaltung von Beförderungsdienstleistungen, auch unter schwierigsten oder gefährlichen Bedingungen, ist für das regulierte Personenbeförderungsgewerbe kennzeichnend und
konstitutiv. Zumal davon auszugehen ist, dass Inhaberinnen solcher Beförderungsberechtigungen nach dem Personenbeförderungsgesetz auch dann nach § 47 PBefG zur Beförderung verpflichtet sind, wenn ein abstrakt-generelles, dafür aber besonders hohes Infektionsrisiko besteht und nicht die Schwelle zum Krankentransport erreicht ist.

4. Lediglich anzumerken ist, dass die Verordnung, in jedem Falle die Vorschrift des § 3, trotz des vorliegend festgestellten Mangels bei der Rechtsanwendung durch die Verwaltungsbehörde, wegen der möglichen (verfassungs-)konkretisierenden Auslegung durch die Gerichte, insgesamt im Hinblick auf die Verordnungsermächtigung im Infektionsschutzgesetz und den Bestimmtheitsgrundsatz keinen durchgreifenden Bedenken begegnet (hierzu, zur Fassung vom 17.03.2020: VGH Mannheim Beschl. v. 23.4.2020 —1 S 1046/20, BeckRS 2020, 8068).“

Ok, ok, ist für einen Montag vielleicht ein wenig viel Text (?). Aber: Das musste m.E. mal sein. Denn die Entscheidung zeigt sehr schön, dass die Vorgaben der Verordnungen, die ja nun bundesweit existieren, von der Rechtsprechung geprüft werden. Das ist die Pflicht der AG/OLG. Und das funktioniert. Also: Es droht nicht der – viel beschworene – Untergang des Rechtsstaates. Zumindest für mich nicht.