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Corona II: Vorlage eines gefälschten Impfpasses, oder: Begriff der Ansammlung i.S. einer Corona-VO

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Im zweiten Posting stelle ich dann noch zwei weitere „Corona-Estcheidungen vor, und zwar.

Zunächst hier der LG München I, Beschl. v. 29.03.2022 – 12 Qs 7/22 – zur Frage der Strafbarkeit, wenn in einer Apotheke ein gefälschter Impfpass zur Erlangung eines digitalen Impfzertifikats vorgelegt wird. Ergangen ist der Beschluss im Rahmen der Prüfung einer Durchsuchungsmaßnahme. Das LG meint/sagt: Zwar war die Vorlage des Impfausweises in der Apotheke nach Maßgabe der zum Zeitpunkt der Handlungen geltenden Straftatbestände der „“ 275, 276 a.F: nicht strafbar, jedoch bestand dennoch ein Anfangsverdacht hinsichtlich des Gebrauchens des gefälschten Impfausweises zur Täuschung von Behörden über den Gesundheitszustand § 279 StGB a.F.).

Und als zweite Entscheidung noch der OLG Zweibrücken, Beschl. v. 18.02.2022 – 1 OWi 2 SsRs 155/21 – zum Begriff der „Ansammlung“:

„c) Das Amtsgericht hat zutreffend in dem festgestellten Treffen am Rheinufer eine „Ansammlung“ i.S.v. § 4 Abs. 1 S. 1 und Abs. 2 S. 1 der 4. CoBeLVO RP gesehen.

aa) Das OLG Koblenz (aaO. Rn. 23 ff) hat den Begriff der „Ansammlung“ in § 4 Abs. 2 S. 1 der 4. CoBeLVO RP unter Abwägung des öffentlichen Interesses an der Verhinderung der weiteren Ausbreitung des Infektionsgeschehens und den Bedürfnissen und unantastbaren Rechten der Bürger ausgelegt und näher bestimmt. Danach erfordert eine Ansammlung im Rahmen der Vorschriften zur Bekämpfung der COVID19-Pandemie ein gezieltes Zusammensein von Menschen an einem Ort um der kollektiven Ansammlung willen, was nicht schon bei jeder bloß zufällig gegebenen gleichzeitigen Anwesenheit von mehreren Menschen erfüllt ist. Eine Ansammlung im Sinne der Vorschrift liegt im Hinblick auf den Schutzbereich der Norm (Verhinderung der Ausbreitung des Infektionsgeschehens) insbesondere dann nicht vor, wenn eine über den Mindestabstand von 1,5 Metern (§ 4 Abs. 1 S. 2 der 4. CoBeLVO RP) hinausgehende deutliche Trennung bzw. Distanz zwischen den Angesammelten besteht, die – insbesondere, wenn zusätzlich Masken getragen werden – eine Übertragung der Infektion von vornherein verlässlich ausschließt. Ebenfalls nicht verboten sind nach der Vorschrift kurze, unter Einhaltung des Mindestabstandes durchgeführte soziale Interaktionen, etwa ein kurzer Informationsaustausch zwischen Bekannten. Dieser Auslegung durch das OLG Koblenz schließt sich der Senat an. Sie entspricht im Ergebnis auch der Auslegung des Begriffs der „Ansammlung“ i.S.d. § 12 Abs. 1 CoronaSchVO NRW durch das OLG Hamm. Auch das OLG Hamm (vgl. Beschluss vom 28.01.2021 – III-4 RBs 3/21, juris Rn. 40) hält zwar mit Blick auf den Zweck der Bestimmung eine räumliche Komponente für erforderlich. Diese soll aber (erst) dann nicht mehr gegeben sein, wenn eine verlässliche Wahrung eines eine Übertragung ausschließenden Mindestabstandes nicht mehr vorliegt. Ein solcher Übertragungsausschluss ist nicht schon bei Überschreiten eines Abstandes von 1,5 m anzunehmen, sondern wird von den konkreten Umständen des Zusammentreffens bestimmt.

bb) § 4 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S.1 i.V.m. § 15 Nr. 26 der 4. CoBeLVO RP beinhaltet entgegen der von der Rechtsbeschwerde vertretenen Auffassung damit einen gegenüber § 4 Abs. 1 S. 2 i.V.m. § 15 Nr. 27 der 4. CoBeLVO RP, der wegen des eingehaltenen Mindestabstandes von 1,5 m hier nicht erfüllt ist, eigenständigen Bußgeldtatbestand. Hierfür spricht bereits, worauf schon das Amtsgericht zutreffend hingewiesen hat, die Systematik der Vorschrift. Denn der Gesetzgeber hat in § 15 Nr. 26 und Nr. 27 der 4. CoBeLVO RP die verbotene Ansammlung und das Nichteinhalten des Sicherheitsabstandes jeweils als eigenständige Bußgeldvorschriften normiert. Hierin unterscheidet sich die damalige Verordnungslage in Rheinland-Pfalz im Übrigen auch entscheidend von der Verordnungslage in Baden-Württemberg, weshalb die Entscheidungen des OLG Stuttgart vom 14.05.2021 (1 Rb 24 Ss 95/21, juris) sowie des OLG Karlsruhe vom 30.03.2021 (22 Rb 34 Ss 2/21, juris) und vom 27.04.2021 (2 Rb 34 Ss 198/21, juris dort insbes. Rn. 4 ff. zum Wortlaut der Verordnung) nicht ohne weiteres auf die hier maßgeblichen Bestimmungen übertragbar sind. Ein solches Verständnis entspricht auch dem Schutzzweck der Vorschrift. Die Gefahr einer Infektionsübertragung ist sowohl bei einer – eine zeitlich, räumlich und soziale Komponente voraussetzenden – Ansammlung im Sinne des § 4 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 1 der 4. CoBeLVO RP, als auch bei einer Unterschreitung des Mindestabstandes (§ 4 Abs. 1 S. 2 der 4. CoBeLVO RP) im Rahmen eines – ggfs. nur zufälligen und kurzfristigen – Zusammentreffens gegeben.

cc) Gemessen an diesen Grundsätzen tragen die getroffenen Feststellungen die Annahme einer Ansammlung im Sinne von § 4 Abs. 2 S. 1 i.V.m. Abs. 1 S. 1 der 4. CoBeLVO RP.

Dem gemeinsamen Aufenthalt des Betroffenen mit den (mindestens) vier weiteren Personen am Ostufer des Hafens von Wörth lag eine gezielte Verabredung zu einem nicht lediglich nur für eine kurze Zeitdauer vorgesehenen Treffen (“zum Feiern verabredet“) zugrunde. Demzufolge hatten die Beteiligten auch Kühltaschen, Getränke und Campingstühle mitgebracht und waren bei ihrer Feststellung durch Polizeibeamten in „ausgelassener Partystimmung“ (UA S. 2). Die Wertung des Amtsgerichts, dass der Zusammenkunft in lockerer Atmosphäre schon deshalb ein eigenständiges Infektionsrisiko innewohnte, weil die Einhaltung des erforderlichen Mindestabstandes nicht durchgängig zu gewährleisten war und weitere Schutzmaßnahmen (Tragen von Mund-Nase-Schutzmasken) nicht getroffen wurden, ist rechtlich nicht zu beanstanden und drängt sich angesichts der festgestellten Gesamtumstände (“Feierstimmung“) sogar auf.“

Corona II: Ausbleiben des Angeklagten und Aussetzung der Hauptverhandlung, oder: Was sagen Gerichte?

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Und im zweiten Posting dann zwei weitere Entscheidungen mit Corona-Bezug.

Zunächst der LG München I, Beschl. v. 04.01.2021 – 15 Qs 46/20. Der Angeklagte war zu einem Fortsetzungstermin in der auf seinen Einspruch gegen einen Strafbefehl anberaumten Hauptverhandlung nicht erschienen. Begründung: Bei ihm sei eine Testung auf Covid19 durchgeführt worden. Das AG hat das als nicht genügend angesehen und den Einspruch verworfen. Das LG München I hat Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt:

„Die Beschwerde ist auch begründet. Nach Ansicht der Kammer ist dem Beschwerdeführer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, da das Nichterscheinen im Hauptverhandlungs-termin unverschuldet war. Nach § 412, § 392 Abs. 7 S. 1 i.V.m. § 44 S. 1 StPO ist auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, den Einspruchstermin wahrzunehmen. Der Angeklagte war durch das Telefax seines Rechtsanwaltes vom 26.10.2020 mit den beigefügten Unterlagen ausreichend entschuldigt. Aufgrund der geschilderten Symptome und der Entnahme eines Abstrichs bestand bis zur Mitteilung des Testergebnisses für den Angeklagten eine Quarantänepflicht. Überdies darf das Gerichtsgebäude ohnehin nur von fieberfreien Personen ohne akute respiratorische Symptome betreten werden. Auch das Nichterscheinen des Verteidigers war ausreichend entschuldigt. Zwar war insoweit eine Isolierung bzw. Quarantäne ärztlich bzw. behördlich nicht angeordnet worden. Tatsächlich bestand aber insbesondere aufgrund der mehrstündigen gemeinsamen Autofahrt des Verteidigers mit dem Angeklagten wenige Tage vor Auftreten der Symptome beim Angeklagten ein nicht unerhebliches Risiko einer COVID-19 Infektion auch beim Verteidiger. Bis zum Vorliegen des Testergebnisses des Angeklagten war eine freiwillige Isolierung des Verteidigers sinnvoll und bei einer Risikoabwägung auch geboten.“

Die zweite Entscheidung kommt dann mit dem LG Stralsund, Beschl. v. 18.01.2021 – 23 Kls 17/20 jug. – vom anderen Ende der Republik. Der Beschluss behandelt die Aussetzung der Hauptverhandlung, wenn wegen der Corona-Pandemie eine hinreichende räumliche Distanzierung der Prozessbeteiligten bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der Öffentlichkeit im Verhandlungssaal nicht zu gewährleisten ist. Und: Er setzt in einem Verfahren mit dem Vorwurf des versuchten Totschlags Haftbefehle gegen einige der Angeklagten außer Vollzug.

Die Aussetzung ist m.E. auf der Grundlage der vom LG in dem Beschluss geschilderten räumlichen Umstände auf jeden Fall gerechtfertigt. Bis zu 34 Personen auf knapp 117 m² Schwurgerichtssaal ist einfach zu viel. Was nicht geht, geht nicht. Und: Die Außervollzugsetzung der Haftbefehle ist/war dann die zwingende Folge.

Trunkenheitsfahrt mit einem E-Scooter, oder: Entziehung der Fahrerlaubnis? – hier bejaht

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Das Elektrokleinstfahrzeug, respektive der E-Scooter, ist in der Rechtsprechung angekommen, was auch zu erwarten war. Es mehren sich vor allem die Entscheidungen zu der Frage: Kann bei einer Trunkenheitsfahrt mit einem E-Scooter die Fahrerlaubnis entzogen werden, ja oder nein?

Und dazu habe ich einige Entscheidungen sammeln könne, die ich heute vorstellen werde. Ich fange dann mit denen an, die die (vorläufige) Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 111a StPO bejaht habe. Dazu habe drei Entscheidungen, und zwar den LG München I, Beschl. v. 30.10.2019 – 1 J Qs 24/19 jug -, den LG München I, Beschl. v. 29.11.2019 – 26 Qs 51/19 und den LG Dortmund, Beschl. v. 11.02.2020 – 43 Qs 5/20.

In allen drei Entscheidungen wird die Entziehung bejaht – die Begründungen gehen in etwa in dieselbe Richtung: Ich stelle daher hier nur die umfangreichsten Ausführungen betreffend E-Scotter vor. Das sind die aus dem LG München I, Beschl. v. 30.10.2019 – 1 J Qs 24/19 jug, den Rest bitte ggf. selbst nachlesen:

2. Geltung des Grenzwertes der sog. absoluten Fahruntüchtigkeit bei einer Blutalkoholkonzentration von 1,1 %o beim Fahren mit Elektrokleinstfahrzeugen.

Nach Auffassung der Kammer ist der für Kraftfahrzeuge geltende Grenzwert von 1,1 (10 (sog. absolute Fahruntüchtigkeit) auch in Fällen der Benutzung von Elektrokleinstfahrzeugen anzuwenden, da diese im Rahmen der Verordnung über die Teilnahme von Elektrokleinstfahrzeugen am Straßenverkehr (eKFV) grundsätzlich als Kraftfahrzeuge eingestuft sind und sich auch im Rahmen des Gefährdungspotentials von Elektrokleinstfahrzeugen kein anderer Schluss ergibt.

a) Einordnung als Kraftfahrzeug

Gemäß § 1 Absatz 1 eKFV sind Elektrokleinstfahrzeuge im Sinne der Verordnung grundsätzlich Kraftfahrzeuge im Sinne von § 1 Absatz 2 StVG. Zwar wird im Rahmen der Begründung des Referentenentwurfs des Bundesministeriums für Verkehr und Infrastruktur vom 21.09.2018 eine Vergleichbarkeit zwischen Fahrrädern und Elektrokleinstfahrzeugen im Bereich der Fahreigenschaften sowie der Verkehrswahrnehmung und deshalb die Anwendung der Verkehrs-und Verhaltensregeln über Fahrräder mit Maßgabe besonderer Vorschriften thematisiert (siehe S. 25 des Referentenentwurfs). Aus Sicht der Kammer ist jedoch aus dem Verordnungserlassverfahren klar erkennbar, dass im Rahmen einer einheitlichen Rechtsanwendung Elektrokleinstfahrzeuge als Kraftfahrzeuge grundsätzlich den für Kraftfahrzeugen geltenden Vorschriften unterliegen sollen, soweit ausdrücklich keine anderen Regeln für Elektrokleinstfahrzeuge festgesetzt sind.

Exemplarisch hierfür ist aus Sicht der Kammer die folgenden Regelung der eKFV sowie deren Begründungen:

Zur Änderung der Bußgeldkatalogverordnung und der Einführung der Nr. 132a BKat führt die Begründung zur eKFV folgendes aus: „Da Elektrokleinstfahrzeuge als Kraftfahrzeuge im Sinne des § 1 Absatz 1 des Straßenverkehrsgesetztes gelten, würden die Fahrer von Elektrokleinstfahrzeugen bei Verstößen gegen § 37 Absatz 2 Nummer 5 und 6 der Straßenverkehrs-Ordnung — ohne eine entsprechende Klarstellung — nach der laufenden Nummer 132 ff der Bußgeldverordnung bestraft werden.“

Im Rahmen der Einführung der Nr. 132a der Bußgeldkatalogverordnung wird damit ausdrücklich anders als bei Kraftfahrzeugen im Rahmen von Rotlichtverstößen die mit Elektrokleinstfahrzeugen begangen werden, neben einer deutlichen Reduzierung des Regelsatzes insbesondere auf ein Fahrverbot verzichtet (siehe hierzu Begründung der eKFV — Drucksache 158/19 – S.45).

Dagegen wurde im Bereich der laufenden Nr. 241 des BKat (Bereich der Verstöße gegen § 24a StVG – 0,5 %o Grenze) offensichtlich auf eine derartige Abweichung vom Grundsatz verzichtet, weshalb gerade im Bereich der Benutzung von Elektrokleinstfahrzeugen im alkoholbedingten Rauschzustand davon auszugehen ist, dass hier die allgemeinen Regelsätze für Kraftfahrzeuge gelten sollen.

Die Kammer ist angesichts dieser Regelungssystematik der Auffassung, dass im Rahmen des Verordnungserlassverfahrens grundsätzlich die Auswirkungen der Qualifizierung von Elektrokleinstfahrzeugen als Kraftfahrzeugen abgewogen und soweit aus Sicht des Verordnungsgebers erforderlich und von der Ermächtigungsgrundlage gedeckt, die entsprechenden Änderungen und Anpassungen vorgenommen wurden. In diesem Zusammenhang wurden keine vom Grundsatz abweichenden Regelungen für den Fall der Benutzung von Elektrokleinstfahrzeugen im alkoholisierten Zustand getroffen. Darüber hinaus bestehen zudem keine anderen abweichenden gesetzlichen Regelungen, die Elektrokleinstfahrzeug aus dem generellen Anwendungsbereichs des Kraftfahrzeugbegriffs ausnehmen, weshalb im Ergebnis im Rahmen einer einheitlichen Anwendung des Begriffs des Kraftfahrzeugs davon auszugehen ist, dass der Grenzwert der sog. absoluten Fahruntüchtigkeit von 1,1 %o auch im Bereich von Elektrokleinstfahrzeugen gelten soll (so im Ergebnis auch Kerkmann in SVR 2019, 369, 370).

b) Gefährdungspotential von Elektrokleinstfahrzeugen

Auch die Einordnung des von Elektrokleinstfahrzeugen ausgehenden Gefährdungspotentials, führt zu keinem anderen Ergebnis.

Der Beschluss des Amtsgerichts München vom 23.09.2019 führt im Rahmen seiner Begründung zur Nichtanwendung des Grenzwerts von 1,1 %o aus, dass E-Scooter im Rahmen des von ihnen ausgehenden Gefährdungspotentials am ehesten einem Fahrrad und gerade nicht mit Personenkraftwagen oder Motorrädern gleichzustellen seien.

Dieser Einschätzung schließt sich die Kammer nicht an.

Zum einem sind Elektrokleinstfahrzeuge der verschiedenen E-Scooter Anbieter mit einem Gewicht von circa 20 — 25 kg deutlich schwerer als ein durchschnittliches Fahrrad und weisen einer Gefahr für Dritte, im Fall der Benutzung eines Elektrokleinstfahrzeugs unter Alkoholeinfluss, die ohne große Anstrengung und Koordinationsbemühungen abrufbare Motorkraft sicher beherrscht werden. Im Gegensatz dazu muss ein alkoholisierter Fahrradfahrer durch eigene Anstrengung und Koordination das Fahrrad erst bewegen und wird im Zweifel auch eine Höchstgeschwindigkeit von 20 km/h kaum erreichen. Im Fall eines alkoholisierten Fahrradfahrers steht deshalb aus Sicht der Kammer nicht wie bei einem Elektrokleinstfahrzeug die Fremd- sondern die Eigengefährdung im Vordergrund (so grundsätzlich auch OLG Nürnberg Beschluss vom 13.12.2010 — 2 St OLG Ss 230/10 sowie im Fall der Benutzung eines sog. „Segway“ OLG Hamburg Beschluss vom 19.12.2016 —1 Rev 76/16).

Aus Sicht der Kammer sind Elektrokleinstfahrzeuge im Ergebnis im Rahmen des Gefährdungspotentials eher mit Mofas vergleichbar, in deren Fall auch von einem Grenzwert von 1,1 %o für den Fall der sog. absoluten Fahruntüchtigkeit auszugehen ist (siehe hierzu MüKo StGB § 316 Rn. 40 sowie Fischer § 316 StGB Rn. 25).“

Heute Mittag kommen dann zwei Entscheidungen, die die Entziehung verneint haben. Also: Die Frage ist – streitig. Das bedeutet: Auf jeden Fall „Finger von die Dinger“, wenn Alkohol im Spiel war.

Pflichti I: Wenn alle Zeugen Polizeibeamten sind, dann gibt es einen Pflichtverteidiger

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Heute dann mal wieder ein „Pflichtverteidigungstag“, also drei Entscheidungen zu den §§ 140 ff. StPO, die mir in der letzten Zeit von Kollegen übersandt worden sind. Dafür besten Dank.

Ich starte mit dem LG München I, Beschl. v. 29.01.2019 – 28 Qs 5/19. Dem Mandanten des Kollegen Marquort aus Kiel wirdu.a. Körperverletzung vorgeworfen. Nach der Anklage soll er anlässlich der Durchsuchung seiner Wohnung am 24.11.2017 gegen 22:30 Uhr die Polizeibeamtin PMin pp. beleidigt und den Polizeibeamten PK pp., der ihn fixieren wollte, am Daumen verletzt habe. Als Zeugen für diesen Sachverhalt wurden seitens der Staatsanwaltschaft die bei dem Polizeieinsatz anwesenden Zeugen genannt. Bei diesen handelt es sich allesamt um Angehörige der bayrischen Polizei.

Der Kollege hat Beiordnung beantragt. Die Staatsanwaltschaft hat (natürlich) einen Fall der notwendigen Verteidigung nicht gesehen. Die Sach- und Rechtslage sei nicht schwierig. Allein der Umstand, dass der Geschädigte anwaltlich vertreten sei, genüge für das Vorliegen der notwendigen Verteidigung nicht. Ebenso das AG. Anders dann das LG München I:

1. Es liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung gemäß § 140 Abs. 2 StPO vor.

a) Hat sich der Verletzte auf eigene Kosten oder im Wege von Prozesskostenhilfe eines anwaltlichen Beistands versichert, folgt aus diesem möglichen strukturellen Verteidigungsdefizits noch keine zwingende Beiordnungsnotwendigkeit. Notwendig aber auch hinreichend ist eine an den Umständen des Einzelfalls orientierte gerichtliche Prüfung der Fähigkeit des Angeklagten zur Selbstverteidigung, wobei namentlich die rechtlichen Befugnisse des Verletzten einerseits und das Verteidigungsverhalten des Angeklagten sowie die Komplexität von Anklagevorwurf und Beweislage andererseits einzustellen sind. Hierbei kommt insbesondere einer differenzierenden Betrachtung der dem Verletzten im Einzelfall konkret zustehenden rechtlichen Befugnisse besondere Bedeutung zu. Zu bedenken ist, dass der nebenklagende Verletzte mit den in § 397 StPO geregelten prozessualen Gestaltungsrechten sowie mit seinen weitreichenden Informationsrechten (vgl. § 406e Abs. 1 5, 2 StPO) eine mit der Stellung der Anklagebehörde korrespondierende Verfahrensrolle innehat (OLG Hamburg, 1 Ws 160/15, BeckRs 2016. 48, amtliche Leitsätze, vgl. auch § 140 Rdnr. 25 BeckOK StPO, vgl. BT-Drs. 17/6261, 11, wonach eine Einzelfallprüfung stattfinden muss). Dem hierdurch begründeten strukturellen Verteidigungsdefizit kann durch die gerichtliche Fürsorge für den in der Hauptverhandlung unverteidigten Angeklagten nicht in jedem Fall in geeigneter Weide begegnet werden, zumal bei vielfachen gerichtlichen Hinweisen an den Angeklagten erhebliche Verfahrensverzögerungen auch wegen hierdurch veranlasster Ablehnungsgesuche des anwaltlich vertretenen Verletzten zu besorgen sind. Daher begründet die dem anwaltlich vertretenen Nebenkläger gegebene Verfahrensmacht regelmäßig bereits für sich die Annahme eines die Beiordnung erfordernden strukturellen Verteidigungsdefizits, es sei denn die Sachlage ist ausnahmsweise rechtlich wie tatsächlich ganz besonders einfach gelagert (OLG Hamburg, 1 Ws 160/15, BeckRs 2016, 48, Rdnr. 12).

b) Im vorliegenden Fall kann von einer einfachen Sachlage nicht die Rede sein. Der Angeklagte ist nicht geständig. Ihm stehen die Aussagen von mindestens 5 Zeugen gegenüber, die alle wie die Geschädigten pp. und pp. als Polizeibeamte vor Ort waren und daher im Lager des Nebenklägers pp. stehen dürften. Dem Amtsgericht ist zwar zuzustimmen, dass anders als im Fall des LG Bielefeld die rechtliche Würdigung des Widerstands weniger Schwierigkeiten macht. Auch steht dem Angeklagten inzwischen ein umfassendes Akteneinsichtsrecht zu. Das Amtsgericht verkennt aber, dass im Fall des LG Bielefeld der Geschädigte nicht als anwaltlich vertretener Nebenkläger beigetreten war. Das Landgericht hatte bereits allein auf Grund der Vielzahl der Belastungszeugen aus dem Polizeidienst und der rechtlichen Problematik einen Fall der notwendigen Verteidigung angenommen, ohne dass der Geschädigte zusätzlich noch als Nebenkläger mit Anwalt auftrat.

Die oben unter l. 1. a. genannten Grundsätze auf den hiesigen Fall übertragen, führen hingegen zu folgendem Ergebnis: Auch mit umfassendem Akteneinsichtsrecht des Angeklagten liegt auf Grund der anwaltlich vertretenen Nebenklage und der damit einhergehenden Gestaltungsrechte sowie der anstehenden Vernehmungen von mehreren Angehörigen des Polizeidienstes, bei denen es für den Angeklagten gilt, Widersprüche in den Zeugenangaben herauszuarbeiten, ein strukturelles Verteidigungsdefizit und damit ein Fall der notwendigen Verteidigung vor.

c) Die Frage, ob die vom Verteidiger erwähnte Richtlinie, die zwar bereits in Kraft ist, deren Umsetzungsfrist aber noch nicht abgelaufen ist, etwaige Vorwirkungen auf Grund des im Europarecht bestehenden Frustrationsverbots entfaltet und deshalb bei der Anwendung des § 140 Abs. 2 StPO zu berücksichtigen ist, kann letztlich dahinstehen. Ebenfalls unerheblich ist, dass der Geschädigte bereits eine Zivilklage erhoben hat, für die der Ausgang des Strafverfahrens keine Präjudizwirkung entfaltet.

VW-Abgasskandal – beim LG München I geht es „käuferpositiv“….

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Bisher hat es im VW-Abgasskandal nur Urteile zugunsten von VW gegeben (vgl. u.a. das LG Bochum, Urt. v. 16.03.2016 – I-2 O 425/15 und das LG Münster, Urt. v. 14.03.2016 – 11 O 341/15 und dazu: VW-Abgasskandal: Hier dann LG Bochum/LG Münster zur „VW-Schummelsoftware“). Inzwischen gibt es dann aber auch eine „käuferpositive“ Entscheidung, nämlich das LG München I, Urt. v. 14.04.2016 – 23 O 23033/15. Gestritten wurde um einen im Mai 2014 gekauften Seat gekauft, in dem ein VW-Dieselmotor (Typ EA 189) verbaut war, dessen Schadstoffausstoß deutlich über den Nennwerten lag. Der Käufer hatte Seat bzw. das Autohaus am 29. 10. 2015 zur Nachbesserung bis zum 13.11.2015 aufgefordert; andernfalls werde er vom Kaufvertrag zurücktreten. Am 02.11.2015 teilte Seat mit, dass an dem Problem gearbeitet werde. Der Käufer hat dann am 02.03.2016 die Anfechtung des Kaufvertrages wegen arglistiger Täuschung erklärt.

Das LG München I hat dem Käufer sowohl die Rückzahlung des Kaufpreises – natürlich abzüglich des Wertverlustes für die Zeit, in der er das Fahrzeug genutzt hatte – als auch den Ersatz seiner sonstigen Kosten – Zulassung, Garantieverlängerung, Zusatzausstattung – zugesprochen. Begründung: Der niedrige Schadstoffausstoß des Fahrzeugs sei Teil der Vereinbarung zwischen den Parteien und für den Kläger maßgebliches Verkaufsargument gewesen. Das Wissen über die manipulierten Abgaswerte seitens VW müsse das beklagte Autohaus sich aufgrund seiner Stellung als hundertprozentige VW-Konzerntochter auch zurechnen lassen. Es habe sich in der Außendarstellung ausdrücklich als Teil des VW-Konzerns präsentiert und dessen werbliche Aussagen, unter anderem zum Kraftstoffausstoß der Fahrzeuge, als eigene übernommen.Interessant die Ausführungen des LG zur „Nachbesserungsfrist“, die nach Auffassung des LG auf keinen Fall mehr angemessen sei:

3. Letztlich kann dies aber dahinstehen, weil jedenfalls eine angemessene Frist zur Nachbesserung ungenutzt verstrichen ist, § 323 Abs. 1 BGB.

In Anbetracht der Umstände dürfte zwar die ursprünglich von dem Kläger mit Schreiben vom 29.10.2015 gesetzte Frist von rund zwei Wochen zu knapp bemessen gewesen sein. Dies führt aber nur zur Ingangsetzung einer angemessenen Frist.

Im Rahmen von § 308 BGB ist eine Nachbesserungsfrist von mehr als 6 Wochen oder mehr als 2 Monaten als Verstoß gegen die grundsätzliche gesetzgeberische Wertung unzulässig (vgl. Palandt/Grüneberg, 74. Auflage 2015, § 308 Rdnr. 13). Diese Frist hat die Beklagte ungenutzt verstreichen lassen.

Jedenfalls ist aber eine Frist von über einem halben Jahr nach der freien Überzeugung des Gerichts auf keinen Fall mehr angemessen. Selbst mit Schriftsatz vom 04.05.2016 (dort Bl. 75 d. A.) hat die Beklagte lediglich vorgetragen, dass der Beginn der technischen Maßnahmen an dem streitgegenständlichen Motortyp für die 39. Kalenderwoche vorgesehen sei. Mit einer Mangelbeseitigung wäre damit frühestens am 26.09.2016 zu rechnen, ohne dass die Beklagte – die gleichzeitig die hohe Anzahl der betroffenen Fahrzeuge betont – einen konkreten Termin für das streitgegenständliche Fahrzeug benennt.

Eine Nachbesserungsfrist von mehr als sechs Monaten oder hier fast einem Jahr (bei Durchführung gleich zu Beginn der Maßnahme in der 39. Kalenderwoche) ist aber mit der gesetzgeberischen Grundentscheidung zur Kaufgewährleistung im allgemeinen und dem Verbraucherkauf im besonderen auch unter Berücksichtigung der hier vorliegenden besonderen Umstände nicht mehr vereinbar. Das Kaufrecht ist – gerade für Verbraucher – auf eine zeitnahe Regulierung von Gewährleistungsrechten ausgerichtet. Dies gilt auch für das Nachbesserungsrecht des Verkäufers. Der Gesetzgeber verfolgt damit sowohl die Gewährung effektiver Gewährleistungsrechte als auch die zeitnahe Herbeiführung von Rechtsfrieden. Dies zeigt sich insbesondere an der verkürzten Verjährungsfrist von 2 Jahren ab Ablieferung der Sache. Ohne den Verjährungsverzicht der Beklagten wären daher vorliegend Gewährleistungsansprüche aus dem Kaufvertrag vom 28.05.2014 mit Auslieferung im August 2014 im Zeitpunkt des mitgeteilten frühest möglichen Nachbesserungstermins im September 2016 bereits verjährt.

4. Die Pflichtverletzung ist unter Würdigung aller Umstände auch nicht unerheblich im Sinne von § 323 Abs. 5 Satz 2 BGB….“

Man wird sehen, wie es weitergeht. VW kommt ja nun wohl endlich mit den Nachbesserungen „in die Pötte“…..