Schlagwort-Archiv: Konkretisierung der Straftaten

Beweis I: Überspannte Konkretisierung der Straftaten, oder: Individualisierung von Missbrauchshandlungen

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Heute zum Wocheanfang zwei BGH-Entscheidungen, die sich mit Beweisfragen befassen.

Ich kommen zunächst noch einmal auf das BGH, Urt. 15.01.2025 – 2 StR 341/24 – zurück, das ich bereits einmal vorgestellt habe (siehe TOA: „Opferausgleich“ durch kommunikaten Prozess – Konkrete Feststellungen in den Urteilsgründen?). Das LG hatte den Angeklagten von einem Teil der gegen ihn erhobenen Missbrauchsvorwürfe frei gesprochen. Die dagegen gerichtete Revision der Staatsanwaltsschaft hatte ERfolg:

„3. Auch der Teilfreispruch unterfällt der Aufhebung. Dabei kann offenbleiben, ob die Urteilsgründe in formeller Hinsicht noch den Darstellungserfordernissen an ein freisprechendes Urteil genügen (vgl. hierzu BGH, Urteil vom 13. Oktober 2016 – 4 StR 248/16, Rn. 9 mwN). Denn die Strafkammer hat ihrer Beweiswürdigung überspannte Anforderungen an die Individualisierung einzelner in Serie begangener sexueller Missbrauchshandlungen gegenüber Kindern zugrunde gelegt; ihre Beweiswürdigung bleibt vor diesem Hintergrund lückenhaft.

a) Zur Vermeidung unvertretbarer Strafbarkeitslücken dürfen in derartigen Fällen an die Individualisierung der einzelnen Taten keine übersteigerten Anforderungen gestellt werden, da eine Konkretisierung der jeweiligen Straftaten nach genauer Tatzeit und exaktem Geschehensablauf oft nicht möglich ist. Das Tatgericht muss sich allerdings in objektiv nachvollziehbarer Weise die Überzeugung verschaffen, dass es in einem gewissen Zeitraum zu einer bestimmten Mindestzahl von Straftaten gekommen ist. Entscheidend ist aber nicht, dass eine – möglicherweise auf nicht völlig sicherer Grundlage hochgerechnete – Gesamtzahl festgestellt wird, sondern dass das Gericht von jeder einzelnen individuellen Straftat, die es aburteilt, überzeugt ist (vgl. BGH, Beschluss vom 27. März 1996 – 3 StR 518/95, BGHSt 42, 107, 109 f.). Ist eine Individualisierung einzelner Taten mangels Besonderheiten im Tatbild oder der Tatumstände nicht möglich, sind zumindest die Anknüpfungspunkte zu bezeichnen, anhand derer das Tatgericht den Tatzeitraum eingrenzt und auf die sich seine Überzeugung von der Mindestzahl und der Begehungsweise der Missbrauchstaten eines Angeklagten in diesem Zeitraum gründet (vgl. BGH, Beschluss vom 20. Juni 2001 – 3 StR 166/01, StV 2002, 523 mwN). Dabei sind grundsätzlich bei Verurteilungen, die den sexuellen Missbrauch von Geschädigten über 14 Jahren betreffen, an die Konkretisierung einzelner Handlungsabläufe größere Anforderungen zu stellen als bei Tatserien zu Lasten von Kindern (vgl. BGH, Beschluss vom 27. März 1996 – 3 StR 518/95, BGHSt 42, 107, 110).

Die entsprechende Überzeugungsbildung ist eine Frage der Beweiswürdigung. Das Tatgericht hat sich unter dem umfassenden Eindruck der Hauptverhandlung ein Urteil über die Schuld oder Unschuld des Angeklagten zu bilden. Das Revisionsgericht ist demgegenüber auf die Prüfung beschränkt, ob die Beweiswürdigung des Tatgerichts mit Rechtsfehlern behaftet ist, etwa weil sie Lücken oder Widersprüche aufweist oder mit den Denkgesetzen oder gesichertem Erfahrungswissen nicht in Einklang steht. Sind derartige Rechtsfehler nicht feststellbar, hat das Revisionsgericht die tatrichterliche Überzeugungsbildung auch dann hinzunehmen, wenn eine abweichende Würdigung der Beweise möglich gewesen wäre (vgl. BGH, Beschluss vom 30. Oktober 2008 – 3 StR 375/08, Rn. 13 mwN).

b) Diesen Anforderungen werden die Urteilsgründe nicht gerecht. Nach der dargestellten Aussage der Geschädigten im Ermittlungsverfahren, die die Strafkammer als uneingeschränkt glaubhaft bewertet hat, schilderte diese nicht nur als Grundlage der Verurteilung im Fall II.3 der Urteilgründe, dass der Angeklagte sie in ein Gebüsch in der Nähe einer näher bezeichneten Straßenbahnstation gebracht und veranlasst habe, ihr T-Shirt erstmals auszuziehen, und sie dann am Hals geküsst habe, sondern darüber hinaus, dass sich dieser Vorgang mehrfach wiederholt habe. Sie hätten „das Gleiche die ganze Zeit“ gemacht. Weshalb die Strafkammer sich angesichts dieser aus ihrer Sicht glaubhaften Darstellung nicht in der Lage sah, im Wege der Mindestfeststellung einen zweiten Missbrauchsfall der beschriebenen Art festzustellen, erschließt sich anhand der Urteilsgründe nicht. Dies gilt umso mehr, als der Angeklagte zumindest in pauschaler Form auch in diesem Fall geständig war.“