In die 44. KW. des Jahres 2019 starte ich mit zwei landgerichtlichen Entscheidungen.
Die erste Entscheidung, die ich vorstelle, stammt aus dem Strafverfahren, und zwar aus der Problemzone: Akteneinsicht des Nebenklägers. Die ist in einem Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der sexuellen Nötigung, Nötigung und Freiheitsberaubung der Nebenklägerin (zweimal) gewährt worden. Dagegen dann der Antrag des Verteidigers auf Feststellung der Rechtswidrigkeit, der beim LG vollen Erfolg hat. Das LG Aachen hat im LG Aachen, Beschl. v. 11.10.2019 – 60 KLs 12/19 – dem Antrag statt gegeben:
„2. Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung vom 05.02.2018 ist darüber hinaus begründet. Die von der Staatsanwaltschaft Aachen gewährte Akteneinsicht stellt sich in beiden Fällen als rechtswidrig dar, weil dem Angeklagten vor der Entscheidung über die Gewährung der Akteneinsicht jeweils kein rechtliches Gehör gewährt worden ist.
a) Die Gewährung von Akteneinsicht im Strafverfahren an Dritte erfordert regelmäßig die vorherige Anhörung des Beschuldigten, weil sie mit einem Eingriff in Grundrechtspositionen des Beschuldigten, namentlich in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung gemäß Art. 2 Abs. 1 GG i.V. mit Art. 1 Abs. 1 GG, verbunden ist (vgl. BVerfG, Beschl. v. 31.01.2017 – 1 BvR 1259/16, NJW 2017, 1164, juris Rn. 17; BVerfG, Beschl. v. 30.10.2016 – 1 BvR 1766/14, juris Rn. 5; BVerfG, Beschl. v. 15.04.2005 – 2 BvR 465/05, NStZ-RR 2005, 242, juris Rn. 12; BVerfG, Beschl. v. 26.10.2006 – 2 BvR 67/06, NJW 2007, 1052, juris Rn. 9; KG, Beschl. v. 02.10.2015 – 4 Ws 83/15, NStZ 2016, 438, juris Rn. 6; LG Karlsruhe, Beschl. v. 25.09.2009 – 2 AR 4/09, juris Rn. 24; LG Wuppertal, Beschl. v. 23.12.2008 – 22 AR 2/08, juris Rn. 3; AG Zwickau, Beschl. v. 12.04.2013 – 13 Gs 263113, StraFo 2013. 290. juris Rn. 3; Meyer-Goßner/Schmitt. 62. Aufl. 2019, § 406e Rn. 18; KK¬StP0/Zabeck, 8. Aufl. 2019, § 406e Rn. 12; KK-SIPO/Gieg, 8. Aufl. 2019, § 478 Rn. 3; MüKo-SIPO/Grau, 1. Aufl. 2019, § 406e Rn. 20; L-R/Wenske, StPO, 26 Aufl. 2014, § 406e Rn. 4). Bei einer Entscheidung über die Gewährung von Akteneinsicht durch den Vorsitzenden des mit der Sache befassten Gerichts ergibt sich die Anhörungspflicht unmittelbar aus § 33 Abs. 3 StPO. bei einer Entscheidung durch die Staatsanwaltschaft aus einer analogen Anwendung der vorgenannten Bestimmung (vgl. OLG Rostock, Beseht. v. 13.07.2017 – 20 Ws 146/17, juris Rn. 32; LG Dresden, Beschl. v. 06.10.2005 – 3 AR 8/05, SW 2006, 11, 13; LG Wuppertal, Beschl. v. 23.12.2008 – 22 AR 2/08, juris Rn. 3; Meyer-Goßner/ Schmitt, 62. Aufl. 2019, § 406e Rn. 18; KK-StP0/Gieg, 8. Aufl. 2019, § 478 Rn. 3) bzw. aus dem Rechtsstaatsprinzip (vgl. hierzu Riedel/Wallau, NStZ 2003, 393, 397 f.; zu den Anhörungspflichten in Verfahren vor dem Rechtspfleger vgl. BVerfG, Beschl. v. 18.01.2000 – 1 BvR 321/96. BVerfGE 101, 397 = NJW 2000. 1709). Die Anhörungspflicht folgt ferner aus dem Gebot der Sachaufklärung im Hinblick auf möglicherweise bestehende Versagungsgründe und der nach § 406e Abs. 2 StPO erforderlichen Interessenabwägung (vgl. KG, Beschl. v. 02.10.2015 – 4 Ws 83/15. NStZ 2016, 438, juris Rn. 6; L-R/Wenske, StPO, 26. Aufl. 2014, § 406e Rn. 4; Sankol, MMR 2008, 836, 837).
b) Ein Grund, von einer vorherigen Anhörung des Angeklagten abzusehen, lag jeweils nicht vor.
(1) Soweit die Staatsanwaltschaft der Nebenklägervertreterin mit Verfügung vom 14.07.2017 Akteneinsicht gewährt hat, war eine vorherige Anhörung des Angeklagten entgegen der Auffassung der Staatsanwaltschaft nicht deshalb entbehrlich, weil sein Aufenthaltsort zu diesem Zeitpunkt unbekannt gewesen ist. Von einer Anhörung kann zwar gemäß § 33 Abs. 4 Satz 1 StPO analog abgesehen werden, wenn der Anhörung tatsächliche Gründe entgegenstehen, etwa der Aufenthaltsort des Beteiligten nicht bekannt ist (vgl. MüKo-StPO/Valerius, 1. Aufl. 2014, § 33 Rn. 33; Beck0K-StPO/Larcher, § 33 Rn. 13; KK-StPO/Maul, 8, Aufl., 2019. § 33 Rn. 13)* Darüber hinaus haben die bis zum Zeitpunkt der Gewährung der Akteneinsicht durch die Staatsanwaltschaft durchgeführten Ermittlungen ergeben, dass der genaue Aufenthaltsort des Angeklagten, für den sich zu diesem Zeitpunkt ein Verteidiger noch nicht bestellt hatte, unbekannt gewesen ist. Jedoch hat die Staatsanwaltschaft vor der Gewährung der Akteneinsicht weder eine Aufenthaltsermittlung veranlasst, noch hat sie die gemäß Vermerk der Kreispolizeibehörde Rhein-Erft-Kreis vom 05.03.2016 (BI. 10 GA) aktenkundig gemachte Mobilfunknummer genutzt, um entweder den genauen Aufenthaltsort des Angeklagten zu ermitteln oder eine mündliche Anhörung zu dem Akteneinsichtsgesuch durchzuführen, Eine solche Aufenthaltsermittlung war nicht nur naheliegend, sondern auch geboten. Es kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass die Durchführung einer Aufenthaltsermittlung offensichtlich aussichtslos gewesen ist, zumal der Angeklagte im Rahmen der Verkündung des Haftbefehls vor dem Amtsgericht Essen angegeben hat, bereits seit dem 01.01.2017 in Essen wohnhaft zu sein. Dass die von der Nebenklägervertreterin begehrte Akteneinsicht eilbedürftig und die Durchführung einer vorherigen Aufenthaltsermittlung daher nicht möglich gewesen ist, lässt sich weder der Ermittlungsakte entnehmen, noch ist dies sonst ersichtlich. Auch kann entgegen der Auffassung der Staatsanwaltschaft nicht davon ausgegangen werden, dass der in Haftsachen in besonderem Maße geltende Beschleunigungsgrundsatz einer vorherigen Gewährung rechtlichen Gehörs entgegenstand. Abgesehen davon, dass sich der Angeklagte zum Zeitpunkt der Beantragung der Akteneinsicht durch die Nebenklägervertreterin noch nicht in Untersuchungshaft befunden hat, ist nicht ersichtlich, dass die Durchführung einer Aufenthaltsermittlung sowie eine sich anschließende Gewährung rechtlichen Gehörs zu dem Akteneinsichtsgesuch das Verfahren in einem nennenswerten Umfang verzögert hätte.
Darüber hinaus kann nicht davon ausgegangen werden, dass eine vorherige Anhörung des Angeklagten gemäß § 33 Abs. 4 Satz 1 StPO deshalb unterbleiben durfte, weil diese den Zweck der Anordnung einer Maßnahme gefährden würde. Dem Angeklagten war ausweislich des Vermerks der Kreispolizeibehörde Rhein-Erft-Kreis vom 05.03.2016 (BI. 10 GA) bereits zum damaligen Zeitpunkt bekannt, dass und aus welchem Grund gegen ihn ein Ermittlungsverfahren geführt worden ist.
Da nach dem Gesagten Gründe, von einer vorherigen Anhörung des Angeklagten abzusehen, nicht gegeben sind, kann dahinstehen, ob und wie es sich auswirkt, dass sich der Verfügung der Staatsanwaltschaft Aachen vom 14,07.2017 nicht, jedenfalls nicht erkennbar entnehmen lässt, aus weichem Grund seinerzeit von einer vorherigen Anhörung des Angeklagten abgesehen worden ist.
(2) Soweit die Staatsanwaltschaft der Nebenklägervertreterin mit Verfügung vom 27.11.2017 ein weiteres Mal Akteneinsicht ohne vorherige Anhörung des Angeklagten gewährt hat, kann dahinstehen, ob sich die Rechtswidrigkeit bereits daraus ergibt, dass kein (ordnungsgemäßer) Antrag auf Gewährung von Akteneinsicht durch die Nebenklägervertreterin gestellt bzw. aktenkundig gemacht worden ist (vgl. hierzu LG Osnabrück, Beschl. v. 22.08.2008 – 2 AR 7/08, juris Rn. 3). Denn selbst wenn man insoweit im Hinblick auf die von der Staatsanwaltschaft mit Verfügung vom 07.10.2019 zur Verfahrensakte gereichte Verfügung vom „27.11.“ davon ausgehen wollte, dass ein entsprechender Antrag auf Gewährung von Akteneinsicht in der „persönlichen Erörterung“ zu sehen ist, ergibt sich die Rechtswidrigkeit der Akteneinsicht wiederum jedenfalls daraus, dass eine vorherige Anhörung des Angeklagten nicht erfolgt ist. Auch insoweit sind Gründe, die einer vorherigen Anhörung des Angeklagten entgegenstehen, nicht ersichtlich. Für den Angeklagten hatte sich zu diesem Zeitpunkt Frau Rechtsanwältin pp. als Verteidigerin bestellt, weshalb eine Anhörung der Verteidigerin hätte erfolgen können (vgl. MüKo-StPO/Valerius, 1. Aufl. 2014, § 33 Rn. 30).
c) Der festgestellte Verstoß gegen die Pflicht zur Anhörung des Beschuldigten vor Gewährung der Akteneinsicht kann durch die Durchführung des Verfahrens auf gerichtliche Entscheidung nicht geheilt werden.
Soweit in der Rechtsprechung ohne nähere Begründung davon ausgegangen wird, dass zunächst versagtes rechtliches Gehör nachgeholt (so BGH, Beschl. v. 11.01.2005 – 1 StR 498104, NJW 2005, 1519, 1520: für. die Gewährung von Akteneinsicht durch das mit der Sache befasste Gericht vgl. BGH, Beschl. v. 10.10.1990 – 1 StE 9/88, NStZ 1991, 95) und ein Verstoß gegen die Anhörungspflicht dadurch geheilt werden kann (so LG Stralsund, Beseht. v. 10.01.2005 – 22 Os 475104, juris Rn. 11), vermag die Kammer dem nicht zu folgen. Die unterlassene Anhörung des Angeklagten stellt einen schwerwiegenden Verfahrensfehler dar, der jedenfalls durch die Durchführung des Verfahrens auf gerichtliche Entscheidung nicht geheilt werden kann (so zutreffend BVerfG, Beschl. v. 30.10.2016 – 1 BvR 1766/14, juris Rn. 5; LG Wuppertal, Beschl. v. 23.12.2008 ¬22 AR 2/08, juris Rn. 4; implizit auch LG Krefeld, Beschl. v. 01.08.2008 21 AR 2/08, NSIZ 2009, 112; LG Dresden, Beschl. v. 06.10.2005 – 3 AR 8/05, StV 2006, 11, 13 sub 3); AG Zwickau, Beseht. v. 12.04.2013 – 13 Gs 263/13, StraFo 2013, 290; so nunmehr auch KK-StPO/Gieg, 8. Aufl. 2019, § 478 Rn. 3). Der Anspruch auf rechtliches Gehör erfordert es, dass der durch eine staatliche Maßnahme Betroffene vor deren Erlass die Möglichkeit zur Stellungnahme erhält (vgl. BVerfG, Beschl. v. 03.11.1983 – 2 BvR 348/83, BVerfGE 65, 227 = NJW 1984, 719, juris Rn. 20; Beck0K-StPO/Larcher, § 33 Rn. 1). lm Hinblick hierauf ist für eine Heilung durch eine nachträgliche Gehörsgewährung kein Raum. Allenfalls könnte davon ausgegangen werden, dass auch unter Berücksichtigung des „nachgeholten Vorbringens“ die Gewährung der Akteneinsicht im Ergebnis, also in materieller Hinsicht, zu Recht erfolgt ist, wobei in diesem Zusammenhang insbesondere die Frage zu klären wäre. ob eine Aktenkenntnis des Verletzten in der Konstellation „Aussage-gegen-Aussage“ der Gewährung von Akteneinsicht entgegensteht (vgl. hierzu etwa KG, Beschl. v. 21.11.2018 — 3 Ws 278/18, NStZ 2019, 110; LG Hamburg, Beschl. v. 23.04.2018 — 606 Os 8/18, NSIZ-RR 2018, 322; Baumhöfener/Daber/Wenske, NStZ 2017, 562 ff.; Meyer-Goßner/Schmitt, 62. Aufl. 2019, § 406e Rn. 12 m.w.Nachw.). Die Richtigkeit der Gewährung von Akteneinsicht in materieller Hinsicht mag im Rahmen etwaiger (Staats-)Haftungsansprüche des durch die Akteneinsicht Betroffenen von Bedeutung sein („rechtmäßiges Alternativverhalten`), ändert aber nichts daran, dass die Gewährung der Akteneinsicht rechtswidrig erfolgt ist. Für die im Rahmen des Verfahrens auf gerichtliche Entscheidung maßgebliche Feststellung der Rechtswidrigkeit kommt es alleine darauf an, dass die durch die Staatsanwaltschaft gewährte Akteneinsicht in formeller Hinsicht rechtswidrig ist (vgl. LG Wuppertal, Beschl. v. 23.12.2008 — 22 AR 2/08, juris Rn. 4; LG Krefeld, Beschl. v. 01.08.2008 — 21 AR 2/08, NStZ 2009, 112; LG Dresden, Beschl. v. 06.10.2005 — 3 AR 8/05, StV 2006, 11, 13 sub 3); AG Zwickau, Beseht. v. 12.04.2013 — 13 Gs 263/13, StraFo 2013, 290). Ebenso ist unerheblich, ob der Angeklagte bei Gewährung rechtlichen Gehörs etwas hätte vorbringen können, das die Entscheidung der Staatsanwaltschaft in eine andere ‚Richtung hätte beeinflussen können (vgl. AG Zwickau, Beseht. v. 12.04.2013 — 13 Gs 263/13, StraFo 2013, 290, juris Rn. 4).
Ob eine Gehörsverletzung durch Nachholung des rechtlichen Gehörs im Rahmen eines Beschwerdeverfahrens geheilt werden kann (so KG, Beschl. v. 02.10.2015 — 4 Ws 83/15, NStZ 2016, 438, juris Rn. 8; OLG Rostock, Beseht. v. 13.07.2017 — 20 Ws 146/17, juris Rn. 33; KK-StPO/Lieg, 8. Aufl. 2019, § 478 Rn. 3) erscheint nach dem oben Gesagten zweifelhaft (zu Recht kritisch hierzu Kopfer!, ZD 2018, 184, 185), bedarf aber in dem hier in Rede stehenden Verfahren auf gerichtliche Entscheidung keiner Klärung.
) Soweit die Staatsanwaltschaft Aachen der Auffassung ist, dass die damalige Verteidigerin des Angeklagten über die im Juli 2017 erfolgte Akteneinsicht bereits durch Gewährung der ihr am 13.11.2017 überlassenen Akte informiert worden ist und vor dem Hintergrund der bereits „vor Monaten gewährten Akteneinsicht an die Rechtsanwältin der Nebenklägerin und dem damit zum Ausdruck gekommenen fehlenden Versagungsgrund“ das Anhörungsrecht gewahrt worden sei, vermag die Kammer dem nicht zu folgen. Nach dem oben Gesagten erfordert der Anspruch auf rechtliches Gehör es, dass der durch eine staatliche Maßnahme Betroffene vor deren Erlass die Möglichkeit zur Stellungnahme erhält (vgl. BVerfG, Beschl. v. 03.11.1983 – 2 BvR 348/83, BVerfGE 65, 227 = NJW 1984, 719, juris Rn. 20; Beck0K¬StPOILarcher, § 33 Rn. 1). Im Hinblick hierauf vermag eine nachträgliche Kenntnisnahme der ohne Anhörung erfolgten Akteneinsicht die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör von vorneherein nicht zu heilen. Auch kommt es nach dem oben Gesagten nicht darauf an, ob der Angeklagte bei Gewährung rechtlichen Gehörs etwas hätte vorbringen können, das die Entscheidung der Staatsanwaltschaft in eine andere Richtung hätte beeinflussen können. Entsprechendes gilt, soweit die Staatsanwaltschaft sodann erneut im November 2017 Akteneinsicht ohne vorherige Anhörung des Angeklagten gewährt hat.“