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U-Haft III: Zulässigkeit von Beschränkungen der U-Haft, oder. Haftgrundbezogene Beschränkungen?

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Und als dritte Entscheidung stelle ich dann den OLG Bremen, Beschl. v. 10.05.2022 – 1 Ws 30/22 – zur Zulässigkeit von Beschränkungen in der U-Haft.

Folgender Sachverhalt: Mit Urteil vom 27.07.2021 hat das LG Bremen den Angeklagten wegen bandenmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in 26 Fällen verurteilt und die Einziehung eines Betrages von 4.252.086,50 EUR als Wert des Erlangten angeordnet. Das Urteil ist nicht rechtskräftig, der Angeklagte hat Revision eingelegt.

Das AG Bremen hatte in dieser Sache am 11.09.2020 einen Haftbefehl gegen den Angeklagten erlassen, den es auf den Haftgrund der Fluchtgefahr gestützt hat, und zugleich auf Antrag der Staatsanwaltschaft Bremen gemäß § 119 Abs. 1 StPO folgende Beschränkungen angeordnet:

  1. Der Empfang von Besuchen bedarf der Erlaubnis.
  2. Besuche sind akustisch zu überwachen.
  3. Die Telekommunikation bedarf der Erlaubnis.
  4. Die Telekommunikation ist zu überwachen.
  5. Der Schrift- und Paketverkehr ist zu überwachen.
  6. Die Übergabe von Gegenständen mit Ausnahme geringwertiger Nahrungs- und Genussmittel bedarf der Erlaubnis.
  7. Der Beschuldigte ist zu trennen von folgenden Personen: B- K.
  8. Die Ausantwortung bedarf der Genehmigung.“

Nach dem ein Antrag des Angeklagten vom 12.01.2021 auf Aufhebung der Trennungsanordnung zunächst ohne Erfolg geblieben ist, hat auf einen weiteren Antrag des Angeklagten vom 03.06.2021 die Vorsitzende der Strafkammer die Trennungsanordnung hinsichtlich aller Personen aufgehoben, bis auf die Trennung des Angeklagten vom Mitangeklagten B. Im Übrigen wurden die Anordnungen aus dem Beschluss des aufrechterhalten. Mit Schriftsatz vom 02.02.2022 beantragte der Angeklagte erneut die Aufhebung der Beschränkungen nach § 119 StPO. Dieser Antrag wurde durch die Vorsitzende d zurückgewiesen. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner Beschwerde, die keinen Erfolg hatte:

„…..

b) Gemessen an diesen Voraussetzungen ist der Antrag des Angeklagten vom 02.02.2022 auf Aufhebung der Beschränkungen nach § 119 StPO mit dem Beschluss vom 01.03.2022 in der Sache zu Recht zurückgewiesen worden.

Die Fortdauer der Beschränkungen nach § 119 StPO durfte zulässigerweise auf die Verdunkelungsgefahr gestützt werden, auch wenn der gegen den Angeklagten fortbestehende Haftbefehl lediglich den Haftgrund der Fluchtgefahr nennt, da – wie vorstehend unter 2.a.aa. ausgeführt – die Anordnung von Beschränkungen nach § 119 Abs. 1 StPO nicht auf die im Haftbefehl angenommenen Haftgründe eingeschränkt ist.

Eine solche Verdunkelungsgefahr, der durch die Anordnung der Beschränkungen zu begegnen ist, ist vorliegend zu bejahen, dies auch unter Berücksichtigung der erhöhten Anforderungen an die Annahme einer solchen Gefahr bei Vorliegen einer, wenn auch mit der Revision angegriffenen, Entscheidung der letzten Tatsacheninstanz. Die Annahme der Verdunkelungsgefahr ergibt sich vorliegend nicht nur aus dem allgemeinen Erfahrungssatz, dass bei mehreren mutmaßlichen Beteiligten als Mitangeklagten der unkontrollierte Informationsaustausch die Gefahr der Erschwerung oder sogar Vereitelung der Wahrheitsfindung durch eine Absprache des Einlassungsverhaltens mit sich bringt. Vorliegend sprechen auch weitere Umstände des Einzelfalls dafür, hier abweichend vom Regelfall eine fortbestehende Verdunkelungsgefahr anzunehmen: Bei dem Angeklagten ist während der Zeit der Untersuchungshaft ein Smartphone in seinem Haftraum aufgefunden worden, welches er unerlaubt in Besitz hatte und womit seine Neigung zur unerlaubten und nicht offengelegten Kommunikation belegt wurde, die auch der Annahme des Bestehens einer Verdunkelungsgefahr zugrunde liegt. Das Landgericht hat in seinem Urteil auf eine bandenmäßige Begehung des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln erkannt und damit die Angeklagten dem Kreis der organisierten Kriminalität zugeordnet, bei der in besonderem Maße das Bestehen einer Verdunkelungsgefahr zu besorgen ist. Die Angeklagten haben sich zudem vor dem Landgericht nicht eingelassen und die Verurteilung ist maßgeblich auf die Ergebnisse der Verwertung der Encrochat-Daten gestützt. Daher ergibt sich in besonderem Maße die Gefahr, dass für den Fall einer Aufhebung des Urteils in der Revision die Angeklagten in einer erneuten Tatsacheninstanz durch dann abgestimmte Einlassungen die Wahrheitsermittlung erschweren. Dass die Beschränkungsanordnung auch die Kommunikation mit der Familie des Angeklagten betrifft, ist der bestehenden Verdunkelungsgefahr geschuldet, da auch die Möglichkeit einer Abstimmung des Einlassungsverhalten durch Kommunikation über Dritte zu besorgen ist.

Die Beschränkungsanordnung ist schließlich auch im Hinblick auf die betroffenen Interessen und Rechtsgüter angemessen. Hier ist namentlich zu berücksichtigen die Schwere und die Vielzahl der dem Angeklagten zur Last gelegten Taten aus dem Bereich der Organisierten Kriminalität, wegen derer das Landgericht gegen ihn eine Freiheitsstrafe von 12 Jahren und sechs Monaten verhängt hat. Es ist daher auch bei einer Dauer der Untersuchungshaft unter den Bedingungen der Beschränkungen von nunmehr mehr als 20 Monaten nicht festzustellen, dass die Belastungen hierdurch außer Verhältnis zur Tatschwere stünden sowie zu der Gefahr, dass wegen Verdunkelungshandlungen die Wahrheitsfindung hinsichtlich dieser Taten erschwert oder vereitelt werden könnte. Der Angeklagte kann – wenn auch überwacht – Besuche empfangen und telefonieren und somit insbesondere den Kontakt zu seiner Familie halten. Dass die Anstalt derzeit offenbar Skype-Gespräche nicht ermöglichen kann, beruht auf mangelnden Kapazitäten der JVA, nicht dagegen auf den angeordneten Beschränkungen.“

U-Haft II: Nicht über 4 Jahre Haft + soziale Bindungen, oder: Außervollzugsetzung

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Die zweite Entscheidung stammt vom LG Halle. Das nimmt im LG Halle, Beschl. v. 16.09.2021 – 3 Qs 503 Js 6064/21 (96/21), den mir der Kollege Siebers aus Braunschweig geschickt hat – einer meiner „eifrigen“ Einsender – zum weiteren Vollzug der U-Haft, wenn einerseits eine Freiheitsstrafe von nicht über vier Jahren droht, aber andererseits erhebliche soziale Bindungen des Beschuldigten gegenüberstehen.

„Die Kammer hält wie das Amtsgericht den Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO für gegeben. Im Falle einer Verurteilung hat der Beschuldigte — bei einer Mindeststrafe von einem Jahr Freiheitsstrafe gemäß § 29a Abs. 1 BtMG —aufgrund der hohen Menge Cannabis eine mehrjährige Freiheitsstrafe zu erwarten. Die Kammer teilt die Ansicht des Amtsgerichts, dass die bestehenden sozialen Bindungen des Beschuldigten nicht ausreichen, um den daraus resultierenden Fluchtanreiz zu hemmen.

Allerdings geht die Kammer davon aus, dass die zu erwartende Freiheitsstrafe auch ohne strafmildernd zu berücksichtigendes Geständnis voraussichtlich nicht in einem Bereich von über vier Jahren liegen wird. Dabei sind insbesondere die vom Verteidiger vorgetragenen strafmildernden Umstände zu berücksichtigen und dass der Beschuldigte zwar bereits wegen eines Betäubungsmitteldelikts auffällig geworden ist, sich diese Vorstrafe aus dem Jahr 2019 jedoch lediglich auf eine Tat des unerlaubten Besitz von Betäubungsmitteln in Tateinheit mit ‚Verstoß gegen das Waffengesetz“ aus dem Jahr 2017 bezieht, die im Strafbefehlsverfahren mittels einer Geldstrafe geahndet wurde, sowie die zwar erhebliche, aber nicht äußerst hohe Menge des Betäubungsmittels. Angesichts dieser Straferwartung ist die Kammer der Auffassung, dass unter Berücksichtigung der sozialen Bindungen des Beschuldigten zu seiner Freundin, mit der er vor seiner Inhaftierung in einer eigenen Wohnung zusammenlebte und seiner festen Arbeitsstelle mit dem nicht unerheblichen Netto-Einkommen von ca. 2.300 EUR im Monat die erteilte engmaschige Meldeauflage und die Hinterlegung einer Kaution in Höhe von 15.000,00 EUR die hinreichende Erwartung begründen, dass der Beschuldigte sich dem Strafverfahren stellen wird und so der Zweck der Untersuchungshaft auch auf diese Weise erreicht werden kann, so dass der Haftbefehl gemäß § 116 StPO außer Vollzug gesetzt werden konnte.“

U-Haft I: Keine U-Haft im „Augsburger Königsplatz-Fall“, oder: Deutliche Worte vom BVerfG

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An sich hatte ich heute einen OWi-Tag vorgesehen. Aber ich habe mich umentschieden und bringe drei Entscheidungen zur U-Haft.

An der Spitze der BVerfG, Beschl. v. 09.03.2020 – 2 BvR 103/20. Der ist im sog. Augsburger Königsplatzfall ergangen. In dem wird u.a. gegen den 17-jährigen Beschuldigten ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Beihilfe zum Totschlag und der gefährlichen Körperverletzung geführt. Dem Beschuldigten wird vorgeworfen „als Teil einer Gruppe von sieben Personen am 6. Dezember 2019 gegen 22.40 Uhr im Bereich des Königsplatzes in Augsburg auf die von einem Besuch des Weihnachtsmarkts kommenden Geschädigten S. und M. getroffen zu sein. Der Beschwerdeführer und die Mitbeschuldigten hätten bereits seit geraumer Zeit freundschaftliche Kontakte gepflegt und sich als Ausdruck der Zusammengehörigkeit gemeinsam mit weiteren Personen als Gruppe den Namen „Oberhausen 54“ gegeben. Nachdem sich zunächst ein Wortwechsel zwischen dem Geschädigten S. und einer oder mehrerer Personen aus der Gruppe entwickelt habe, hätten der Beschwerdeführer und die Mitbeschuldigten den Geschädigten S. umzingelt, um diesen einzuschüchtern. Alle Beschuldigten seien zu diesem Zeitpunkt jederzeit bereit gewesen, den Geschädigten S. entweder selbst gewaltsam zu attackieren oder ein anderes Gruppenmitglied bei jedweder Art auch massiver Gewalthandlungen gegen den Geschädigten zu unterstützen, sei es verbal, körperlich oder auch durch schiere physische Präsenz und Demonstration der Überlegenheit der Gruppe gegenüber dem allein in ihrer Mitte stehenden Geschädigten S. Auf diese Weise hätten der Zusammenhalt und die zahlenmäßige Überlegenheit der Gruppe jedem der Beschuldigten ein erhöhtes Sicherheitsgefühl vermittelt, einhergehend mit einer erhöhten Bereitschaft, Aggressionen gegenüber dem Opfer hemmungslos auszuleben und sich zu solchen durch die übrigen Gruppenmitglieder angestachelt zu fühlen. Dies sei auch jedem von ihnen bewusst gewesen.2

Das AG Augsburg hatte gegen den Beschuldigten U-Haft angeordnet, die dagegen gerichtete Haftbeschwerde des Beschuldigten hatte beim LG Erfolg, das LG hat den dringenden Tatverdacht verneint. Dagegen dann die weitere Beschwerde der StA, die dazu geführt hat, dass das OLG den Haftbefehl wieder erlassen hat. Und dagegen dann die Verfassungsbeschwerde, die zur Aufhebung des Haftbefehls und zur Zurückverweisung der Sache an das OLG geführt hat.

Das BVerfG führt – nachdem es zu den Grundsätzen betreffend Haftentscheidungen „referiert“ hat – zur Sache aus:

Vollzugslockerungen bei länger dauerndem Strafvollzug, oder: Konkrete Entlassungsperspektive?

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Heute werde ich drei Entscheidungen vorstellen, die mit Vollzug und Bewährung zu tun haben.

Und den Reigen eröffnet der OLG Koblenz, Beschl. v. 23.12.2019 – 2 Ws 770/19 Vollz, den mir die Kollegin aus Juharos aus Trier geschickt hat. Es geht im Beschluss um die Frage von Vollzugslockerungen bei einem länger dauernden Strafvollzug. Hier verbüßte der Antragsteller seit dem 03.08.2011, also seit über acht Jahren, eine lebenslange Freiheitsstrafe. Im Juni 2018 beantragte er Ausführungen zur Erhaltung der Lebenstüchtigkeit (§ 48 StVollzG), was die JVA ablehnte. Den Bescheid hat die Strafvollstreckungskammer Koblenz in Diez auf Antrag des Strafgefangenen auf gerichtliche Entscheidung aufgehoben.

Im März 2019 hat die JVA einen Antrag auf Ausführung erneut abgelegnt. Dabei führte sie u.a. aus, dass „zwar bedingt durch die verbüßte Inhaftierungszeit ein gesteigertes Gewicht des Resozialisierungsinteresses unstrittig vorliegt, diesem jedoch aktuell nicht das Gewicht zugemessen werden kann, das in der Gesamtbetrachtung aller entscheidungsrelevanter Sachverhalte Ausführungen zum Erhalt der Lebenstüchtigkeit, auch unter Beachtung der Rechtsprechung, dass diese vorbeugend zu gewähren sind, erforderlich erscheinen.

Das hat beim OLG Koblnez nicht gehalten:

„….. Die Rechtsbeschwerde hat daher in der Sache einen zumindest vorläufigen Erfolg.

Maßgebliche Vorschrift für Ausführungen ist § 48 LJVoIIzG. Danach kann den Gefangenen das Verlassen der Anstalt unter ständiger und unmittelbarer Aufsicht gestattet werden, wenn dies aus besonderen Gründen notwendig ist (Ausführung).

Zutreffend haben die Antragsgegnerin und die Strafvollstreckungskammer insoweit zunächst ausgeführt, dass vorliegend weder ein wichtiger Anlass vorlag noch eine Ausführung zur Vorbereitung einer Lockerungsgewährung in Betracht kam.

Richtig erkannt wurde ferner, dass Ausführungen auch zur Erhaltung der Lebenstüchtigkeit erforderlich sind und aus den in § 45 Abs. 2 LJVOIIzG genannten Gründen Vollzugslockerungen noch nicht gewährt werden können.

1. Das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG verpflichtet den Staat, den Strafvollzug auf das Ziel auszurichten, dem Inhaftierten ein zukünftiges straffreies Leben in Freiheit zu ermöglichen (vgl. BVerfG, 2 Be 681/19 v.18,09,2019 mwN — juris). Besonders bei langjährig im Vollzug befindlichen Personen erfordert dies, aktiv den schädlichen Auswirkungen des Freiheitsentzugs entgegenzuwirken und ihre Lebenstüchtigkeit zu erhalten und zu festigen. Dabei greift das Gebot, die Lebenstüchtigkeit des Gefangenen zu erhalten und zu festigen, nicht erst dann ein, wenn er bereits Anzeichen einer haftbedingten Depravation aufweist. Das Interesse des Gefangenen, vor den schädlichen Folgen aus der langjährigen Inhaftierung bewahrt zu werden und seine Lebenstüchtigkeit im Falle der Entlassung aus der Haft zu behalten, hat ein umso höheres Gewicht, je länger die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe bereits andauert, Androhung und Vollstreckung der Freiheitsstrafe finden ihre verfassungsrechtlich notwendige Ergänzung in einem sinnvollen Behandlungsvollzug. Dementsprechend hat der Gesetzgeber dem Vollzug der Freiheitsstrafe ein Behandlungs- und Resozialisierungskonzept zugrunde gelegt. Der Wiedereingliederung des Gefangenen dienen unter anderem die Vorschriften über Vollzugslockerungen beziehungsweise vollzugsöffnende Maßnahmen, Durch diese Maßnahmen werden dem Gefangenen zudem Chancen eingeräumt, sich zu beweisen und zu einer günstigeren Entlassungsprognose zu gelangen. Erstrebt ein Gefangener diese Maßnahmen, so wird er durch deren Versagung in seinem durch Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG grundrechtlich geschützten Resozialisierungsinteresse berührt (BVerfG, aa0).

Gerade bei Gefangenen, die die Voraussetzungen für vollzugslockernde Maßnahmen im eigentlichen Sinne etwa wegen einer konkret bestehenden Flucht- oder Missbrauchsgefahr noch nicht erfüllen, dienen Ausführungen dem Erhalt und der Festigung der Lebensfähigkeit und -tüchtigkeit. Bei langjährig Inhaftierten kann es daher, selbst wenn noch keine konkrete Entlassungsperspektive besteht, jedenfalls geboten sein, zumindest Lockerungen in Gestalt von Ausführungen dadurch zu ermöglichen, dass die Justizvollzugsanstalt einer von ihr angenommenen Flucht- oder Missbrauchsgefahr durch geeignete Sicherheitsvorkehrungen entgegenwirkt. Der damit verbundene personelle Aufwand ist dann hinzunehmen (BVerfG, aaO).

2. Unter Zugrundelegung dieser Ausführungen kann die angefochtene Entscheidung keinen Bestand haben, da sich aus ihrer Begründung ergibt, dass im Rahmen der Abwägung bei der zu treffenden Ermessensentscheidung vorliegend dem Gesichtspunkt der bisherigen Vollstreckungsdauer ein unvertretbares Gewicht beigemessen wurde. Die Antragsgegnerin hat in ihrer Stellungnahme vom 25. März 2019 – wie oben unter 1. dargestellt – ausgeführt, dass der Antragsteller im Hinblick auf andere durch das Bundesverfassungsgericht entschiedene Fälle „erst“ siebeneinhalb Jahre inhaftiert sei. Aue den Formulierungen wird deutlich, dass die Antragsgegnerin offenbar der Ansicht war, ein begründetes Resozialisierungsinteresse sei regelmäßig erst nach Ablauf von etwa zehn Jahren Haftverbüßungszeit anzuerkennen.

Die Strafvolistreckungskarnmer hat diesen Gedanken aufgegriffen und in ihrer angefochtenen Entscheidung zur Begründung angeführt, dass die Antragstellerin „das „zeitliche Element“ – für die Person des Antragstellers eine Inhaftierungsdauer zum Zeitpunkt der Entscheidung vom 25.03.2019 „von vergleichsweise lediglich 7 1/2 Jahren“ – zutreffend bzw. beanstandungsfrei auch hier herangezogen“ habe.

Insbesondere unter Berücksichtigung der jüngeren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, 2 Be 1165/19 v. 18.09.2019) lässt sich diese Auffassung jedoch nicht halten, In dem genannten Verfahren gab das Bundesverfassungsgericht der Verfassungsbeschwerde eines über sieben Jahre inhaftierten Strafgefangenen mit der Begründung statt, langjährig Inhaftierten seien Lockerungen in Gestalt von Ausführungen zu gewähren, selbst wenn noch keine konkrete Entlassungsperspektive bestehe. Dass das Bundesverfassungsgericht dabei eine Verbüßungszeit nicht erst ab zehn Jahren als langjährig ansieht, wird insofern deutlich, als es festgestellt hat, dass das Ausgangsgericht „dem hohen Gewicht, das dem Resozialisierungsinteresse des Beschwerdeführers nach rund 7-jährigem Freiheitsentzug für die Ermessensentscheidung der JVA zukam“, nicht auf hinreichende Weise Rechnung getragen habe.

Im Hinblick darauf, dass der Strafgefangene vorliegend bereits zum Zeitpunkt der Ermessensentscheidung der Antragsgegnerin siebeneinhalb Jahre verbüßt hatte, konnte die angefochtene Entscheidung der Strafvollstreckungskammer im Hinblick auf die verfassungsrechtlichen Vorgaben keinen Bestand haben.

3. Ergänzend ist anzumerken, dass die von der Antragsgegnerin hilfsweise vorgetragenen Erwägungen zur Fluchtgefahr nicht den Anforderungen genügen dürften, die das Bundesverfassungsgericht in den oben zitierten Entscheidungen diesbezüglich noch einmal klargestellt hat. Auf Grund der hohen Bedeutung des Resozialisierungsinteresses darf sich eine Justizvollzugsanstalt,. wenn sie vollzugslockernde Maßnahmen versagt, nicht auf bloße pauschale Wertungen oder den Hinweis einer abstrakten Flucht- oder Missbrauchsgefahr beschränken. Sie hat vielmehr im Rahmen einer Gesamtwürdigung nähere Anhaltspunkte darzulegen, welche geeignet sind, die Prognose einer Flucht- oder Missbrauchsgefahr in der Person des Gefangenen zu konkretisieren. Versagt die Justizvollzugsanstalt eine Vollzugslockerung unter Annahme einer Flucht- oder Missbrauchsgefahr, prüfen die Fachgerichte im Verfahren nach §§ 109 ff. StVollzG, ob die Vollzugsbehörde die unbestimmten Rechtsbegriffe richtig ausgelegt und angewandt hat, Zwar verlangt der Versagungsgrund der Flucht- und Missbrauchsgefahr eine Prognoseentscheidung und eröffnet der Vollzugsbehörde einen – verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden – Beurteilungsspielraum, in dessen . Rahmen sie bei Achtung der Grundrechte des Gefangenen mehrere Entscheidungen treffen kann, die gleichermaßen rechtlich vertretbar sind. Der Beurteilungsspielraum entbindet die Vollstreckungsgerichte indes nicht von ihrer rechtsstaatlich fundierten Prüfungspflicht. Das Gericht hat dementsprechend den Sachverhalt umfassend aufzuklären und dabei festzustellen, ob die Vollzugsbehörde den zugrunde gelegten Sachverhalt insgesamt vollständig ermittelt und damit eine hinreichende tatsächliche Grundlage für ihre Entscheidung geschaffen hat (BVerfG, aaO).“

U-Haft II: Auslieferung aufgrund Europäischen HB, oder: Keine Auswirkungen auf U-Haft?

entnommen wikimedia.org

Als zweite Entscheidung des Tages stelle ich dann den OLG München, Beschl. v. 13.06.2019 -2 Ws 587/19 – ein/vor, den mir der Kollege T. Scheffler aus Bad Kreuznach übersandt hat.

Im Beschluss geht es u.a. um Haftfortdauer. Das OLG München hat – was mich nicht wirklich überrascht – keine Probleme, bei einer noch zu verbüßenden Reststrafe von noch neun Monaten weiterhin Fluchtgefahr zu bejahen. Die Begründung überlasse ich der Selbstlektüre. Sie enthält nichts Besonderes. Das haben wir alles schon mal so oder ähnlich gelesen.

Einstellen will ich hier die Ausführungen des OLG München zu den Auswirkungen der Entscheidung des EUgH v. 27.05.2019 – Stichwort: deutsche Staatsanwaltschaft ist keine „ausstellende Justizbehörde“. Dazu bzw. zu den Auswirkungen der Entscheidung führt das OLG aus.

„Der Haftbefehl des Amtsgerichts München vom 06.06.2018 und der Haftfortdauerbeschluss des Landgerichts München I vom 15.05.2019 sind auch nicht deshalb aufzuheben, weil der Angeklagte aufgrund des von der Staatsanwaltschaft München I ausgestellten Europäischen Haftbefehls vom 20.06.2018 am 16.07.2018 in Bulgarien festgenommen und nach Bewilligung der Auslieferung am 09.08.2019 nach Deutschland überstellt wurde.

Zwar hat der EuGH mit Urteil vom 27.05.2019 entschieden, dass die Staatsanwaltschaften eines Mitgliedstaats, die – wie die deutschen Staatsanwaltschaften – der Gefahr ausgesetzt sind, im Rahmen des Erlasses einer Entscheidung über die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls unmittelbar oder mittelbar Anordnungen oder Einzelweisungen seitens der Exekutive, etwa eines Justizministers, unterworfen zu werden, nicht unter den Begriff „ausstellende Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13.06.2002 über den Europäischen Haftbefehl fallen (EuGH Urt. v. 27.5.2019 – C-508/18, C-82/19 PPU, BeckRS 2019, 9722). Die deutschen Staatsanwaltschaften sind danach nicht zur Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls befugt. Europäische Haftbefehle sind künftig von deutschen Gerichten auszustellen.

Die Entscheidung des EuGH vom 27.05.2019 steht dem Vollzug der Untersuchungshaft des An-geklagten nach bewilligter und vollzogener Auslieferung aus Bulgarien jedoch nicht entgegen. Grundlage der Untersuchungshaft ist der Haftbefehl des Amtsgerichts München vom 06.06.2018 und nicht der Europäische Haftbefehl der Staatsanwaltschaft München I vom 20.06.2018. Die Wirksamkeit des Haftbefehls des Amtsgerichts München vom 06.06.2018 bleibt auch unter Berücksichtigung der Entscheidung des EuGH unberührt.

Es besteht auch kein Hindernis, den Haftbefehl des Amtsgerichts München vom 06.06.2018 zu vollziehen. Die Auslieferung erfolgte aufgrund der rechtskräftigen Bewilligungsentscheidung durch Urteil des Kreisgerichts Pazardzhik vom 25.07.2018. Der Angeklagte hat nach Belehrung seine Zustimmung zur Auslieferung erklärt und kein Rechtsmittel gegen das Urteil eingelegt. Diese Entscheidung bleibt auch wirksam, wenn das bulgarische Auslieferungsverfahren fehlerbehaftet gewesen sein sollte. Die Überprüfung der Auslieferungsbewilligung ist allein Sache der bulgarischen Behörden. Eine Überprüfung im Inland erfolgt nicht. Im Rahmen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, und hierzu zählen auch die Regelungen in Folge des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl, gilt das sog. Trennungsmodell. Hiernach ist dem Betroffenen in dem Mitgliedstaat Rechtsschutz zu gewähren, von dem der angegriffene Hoheitsakt erlassen wurde. Dies hat auch Auswirkung auf den Umfang der Nachprüfung durch die nationalen Gerichte, da die Rechtsschutzgarantie es grundsätzlich nicht gebietet, einen ausländischen Hoheitsakt (inzident) auf seine Rechtmäßigkeit zu überprüfen (Böse in Grützner/Pötz/Kreß/Gazeas, Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, 3. Auflage, 26. Lfg. Juni 2012, Vor § 78 IRG Rn. 35). Daher unterliegen etwa mittels Rechtshilfe eines ausländischen Staates gewonnene Beweise trotz Nichteinhaltung der maßgeblichen rechtshilferechtlichen Bestimmungen keinem Beweisverwertungsverbot, wenn die Beweise auch bei Beachtung des Rechtshilferechts durch den ersuchten und den ersuchenden Staat hätten erlangt werden können. Ist die Rechtshilfe durch einen Mitgliedstaat der Europäischen Union geleistet worden, darf bei der Beurteilung der Beweisverwertung im Inland nur in eingeschränktem Umfang geprüft werden, ob die Beweise nach dem inner-staatlichen Recht des ersuchten Mitgliedstaates rechtmäßig gewonnen wurden (BGH, Beschl. v. 21.11.2012 – 1 StR 310/12, NStZ 2013, 596).

Da die Auslieferung des Angeklagten nach Deutschland vorliegend durch die bulgarischen Behörden auf der Grundlage des dortigen Rechts bewilligt wurde, ist dem Trennungsgebot folgend die Nichtberücksichtigung der mangelnden Anordnungskompetenz der Staatsanwaltschaft München I hinsichtlich der Ausstellung des Europäischen Haftbefehls vom 20.06.2018 durch das Kreisgericht Pazardzhik für die Wirksamkeit des nationalen Haftbefehls und den Vollzug der Untersuchungshaft gegen den Angeklagten unbeachtlich. Zwar erfährt das Trennungsgebot Einschränkungen durch den ordre-public-Vorbehalt oder andere Vollstreckungshindernisse im Rahmen des Rechtshilfeverfahrens. Aber auch derartiges ist hier nicht erkennbar. Denn nach der Entscheidung des EuGH vom 27.05.2019 wurde der Europäische Haftbefehl lediglich durch eine nicht zuständige, aber doch immerhin durch eine Justizbehörde erlassen. Es liegt auch kein arglistiges Verhalten der Staatsanwaltschaft München I vor, da es bis zur Entscheidung des EuGH allgemeine Ansicht war, dass deutsche Staatsanwaltschaften befugt sind, Europäische Haftbefehle aus-zustellen. Auch aus der oben genannten Entscheidung des BGH vom 21.11.2012 ergibt sich, dass die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls durch eine unzuständige Staatsanwaltschaft und die daraufhin durch eine ausländische Behörde bewilligte und vollzogene Auslieferung nicht zu einem Verfolgungshindernis im Inland führt.“